und sieht sich um.»Warten Sie, ich hole ihn.«

Sie geht, um den Hut aus den Blumen zu ?schen. Hinter ihr kommt Isabelle hastig, mit aufgelostem Gesicht zu mir zuruck.

»Verla? mich nicht, Rudolf!«?ustert sie.

»Ich verlasse dich nicht.«

»Und geh nicht weg! Ich mu? jetzt fort. Sie holen mich! Aber geh nicht weg!«

»Ich gehe nicht weg, Isabelle.«

Die Warterin hat den Hut gerettet und marschiert nun auf ihren breiten Sohlen heran wie das Schicksal. Isabelle steht und sieht mich an. Es ist, als ware es ein Abschied fur immer. Es ist jedesmal mit ihr so, als ware es ein Abschied fur immer. Wer wei?, wie sie wiederkommt und ob sie mich dann uberhaupt noch erkennt?

»Setzen Sie den Hut auf, Mademoiselle«, sagt die Warterin.

Isabelle nimmt ihn und la?t ihn schlaff von ihrer Hand herunterhangen. Sie dreht sich um und geht zum Pavillon zuruck. Sie sieht nicht zuruck.

Es begann damit, da? Genevieve Anfang Marz plotzlich im Park auf mich zukam und an?ng, mit mir zu sprechen, als kennten wir uns schon lange. Das war nichts Ungewohnliches – in der Irrenanstalt braucht man einander nicht vorgestellt zu: erden; hier ist man jenseits von Formalitaten, man spricht miteinander, wenn man will, und braucht keine langen Einleitungen. Man spricht auch sofort uber das, was einem in den Sinn kommt, und es stort nicht, wenn der andere es nicht versteht – das ist nebensachlich. Man will nicht uberzeugen und nicht erklaren: man ist da und man spricht, und oft sprechen zwei Leute uber etwas ganz Verschiedenes miteinander und verstehen sich gro?artig, weil sie nicht auf das horen, was der andere sagt. Papst Gregor VII. zum Beispiel, ein kleines Mannchen mit Sabelbeinen, diskutiert nicht. Er braucht niemand davon zu uberzeugen, da? er Papst ist. Er ist es, und damit fertig, und er hat gro?e Sorgen mit Heinrich dem Lowen, Canossa ist nicht fern, und daruber spricht er manchmal. Es stort ihn nicht, da? sein Gesprachspartner ein Mann ist, der glaubt, er ware ganz aus Glas, und der jeden bittet, ihn nicht anzusto?en, weil er schon einen Sprung habe – die beiden sprechen miteinander, Gregor uber den Konig, der im Hemd bu?en soll, und der Glasmann daruber, da? er die Sonne nicht ertragen konne, weil sie sich in ihm spiegele – dann erteilt Gregor den papstlichen Segen, der Glasmann nimmt das Tuch, das seinen durchsichtigen Kopf vor der Sonne behutet, einen Augenblick ab, und beide trennen sich mit der Ho?ichkeit vergangener Jahrhunderte. Ich war also nicht erstaunt, als Genevieve mich ansprach; ich war nur erstaunt daruber, wie schon sie war, denn sie war gerade Isabelle.

Sie sprach lange mit mir. Sie trug einen leichten hellen Pelzmantel, der mindestens zehn bis zwanzig Kreuzdenkmaler aus bestem schwedischem Granit wert war, und dazu ein Abendkleid und goldene Sandalen. Es war elf Uhr morgens, und in der Welt jenseits der Mauern ware das unmoglich gewesen. Hier aber wirkte es nur aufregend; als ware jemand mit einem Fallschirm von einem fremden Planeten herabgeweht worden.

Es war ein Tag mit Sonne, Regenschauern, Wind und plotzlicher Stille. Sie wirbelten durcheinander, eine Stunde war es Marz, die andere April, und dann ?el unvermittelt ein Stuck Mai und Juni hinein. Dazu kam Isabelle, von irgendwoher, und es war wirklich von irgendwoher – von da, wo die Grenzen aufhoren, wo das Licht der Vernunft nur noch verzerrt wie ein wehendes Nordlicht an Himmeln hangt, die keinen Tag und keine Nacht kennen – nur ihre eigenen Strahlen-Echos und die Echos der Echos und das fahle Licht des Jenseits und der zeitlosen Weite.

Sie verwirrte mich von Anfang an, und alle Vorteile waren auf ihrer Seite. Ich hatte zwar viele burgerliche Begriffe im Kriege verloren, aber das hatte mich nur zynisch und etwas verzweifelt gemacht, aber nicht uberlegen und frei. So sa? ich da und starrte sie an, als ware sie ohne Schwergewicht und schwebe, wahrend ich ihr muhsam nachstolperte. Dazu kam, da? oft eine sonderbare Weisheit durch das schimmerte, was sie sagte; es war nur verschoben und gab dann uberraschend einen Fernblick frei, der einem das Herz klopfen lie?; doch wenn man ihn halten wollte, wehten schon wieder Schleier und Nebel daruber, und sie war ganz woanders.

Sie ku?te mich am ersten Tage, und sie tat es so selbstverstandlich, da? es nichts zu bedeuten schien; aber das anderte nichts daran, da? ich es nicht spurte. Ich spurte es, er erregte mich, doch dann schlug es wie eine Welle gegen die Barriere eines Riffes – ich wu?te, sie meinte mich gar nicht, sie meinte jemand anderen, eine Gestalt ihrer Phantasie, einen Rolf oder Rudolf, und vielleicht meinte sie auch die nicht, und es waren nur Namen, die aus dunklen, unterirdischen Stromen hochgeworfen wurden, ohne Wurzeln und ohne Zusammenhang.

Sie kam von da an fast jeden Sonntag in den Garten, und wenn es regnete, kam sie in die Kapelle. Ich hatte von der Oberin die Erlaubnis, nach der Messe Orgel zu uben, wenn ich wollte. Ich tat es bei schlechtem Wetter. Ich ubte nicht wirklich, dafur spielte ich zu schlecht; ich tat nur dasselbe wie mit dem Klavier: ich spielte fur mich, irgendwelche lauen Phantasien, so gut es ging, etwas Stimmung und Traumerei und Sehnsucht nach Ungewissem, nach Zukunft, nach Erfullung und nach mir selbst, und man brauchte nicht besonders gut zu spielen, um das zu konnen. Isabelle kam manchmal mit mir und horte zu. Sie sa? dann im Halbdunkel unten, der Regen klatschte an die bunten Scheiben, und die Orgeltone gingen uber ihr dunkles Haupt dahin – ich wu?te nicht, was sie dachte, und es war sonderbar und etwas sentimental, aber dahinter stand dann plotzlich die Frage nach dem Warum, der Schrei, die Angst und das Verstummen. Ich fuhlte das alles, und ich fuhlte auch etwas von der unfa?baren Einsamkeit der Kreatur, wenn wir in der leeren Kirche mit der Dammerung und den Orgellauten waren, nur wir beide, als waren wir die einzigen Menschen, zusammengehalten vom halben Licht, den Akkorden und dem Regen, und trotzdem fur immer getrennt, ohne jede Brucke, ohne Verstandnis, ohne Worte, nur mit dem merkwurdigen Gluhen der kleinen Wachfeuer an den Grenzen des Lebens in uns, die wir sahen und mi?verstanden, sie in ihrer, ich in meiner Weise, wie taubstumme Blinde, ohne taub und stumm und blind zu sein, und deshalb viel armer und beziehungsloser. Was war es, das in ihr machte, da? sie zu mir kam? Ich wu?te es nicht und wurde es nie wissen – es war begraben unter Schutt und einem Bergrutsch -, aber ich verstand auch nicht, warum diese sonderbare Beziehung mich trotzdem so verwirrte, ich wu?te doch, was mit ihr war und da? sie mich nicht meinte, und trotzdem machte es mich sehnsuchtig nach etwas, das ich nicht kannte, und besturzte mich und machte mich manchmal glucklich und unglucklich ohne Grund und ohne Sinn.

Eine kleine Schwester kommt auf mich zu.»Die Oberin mochte gern mit Ihnen sprechen.«

Ich stehe auf und folge ihr. Mir ist nicht ganz wohl zumute. Vielleicht hat eine der Schwestern spioniert und die Oberin will mir sagen, ich solle nur mit Kranken uber sechzig sprechen, oder sie will mir sogar kundigen, obschon der Oberarzt erklart hat, es sei gut, wenn Isabelle Gesellschaft habe.

Die Oberin empfangt mich in ihrem Besuchszimmer. Es riecht nach Bohnerwachs, Tugend und Seife. Kein Hauch vom Fruhling ist hineingedrungen. Die Oberin, eine hagere, energische Frau, empfangt mich freundlich; sie halt mich fur einen tadellosen Christen, der Gott liebt und an die Kirche glaubt.»Es ist bald Mai«, sagt sie und sieht mir gerade in die Augen.

»Ja«, erwidere ich und mustere die blutenwei?en Gardinen und den kahlen, glanzenden Fu?boden.

»Wir haben daran gedacht, ob wir nicht eine Mai-Andacht abhalten konnten.«

Ich schweige erleichtert.»In den Kirchen der Stadt ist im Mai jeden Abend um acht Uhr eine Andacht«, erklart die Oberin.

Ich nicke. Ich kenne die Mai-Andachten. Weihrauch quillt in die Dammerung, die Monstranz funkelt, und nach der Andacht treiben sich die jungen Leuten noch einige Zeit umher auf den Platzen mit den alten Baumen, wo die Maikafer summen. Ich gehe zwar nie hin, aber ich wei? das noch aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Damals begannen meine ersten Erlebnisse mit jungen Madchen. Alles war sehr aufregend und heimlich und harmlos. Aber ich denke nicht daran, jetzt jeden Abend dieses Monats um acht Uhr hier anzutreten und Orgel zu spielen.

»Wir mochten wenigstens sonntags abends eine Andacht haben«, sagt die Oberin.»Eine festliche, mit Orgelmusik und Te Deum. Eine stille wird ohnehin fur die Schwestern jeden Abend gehalten.«

Ich uberlege. Sonntags abends ist es langweilig in der Stadt, und die Andacht dauert nur eine knappe Stunde.

»Wir konnen nur wenig zahlen«, erklart die Oberin.»Soviel wie fur die Messe. Das ist jetzt wohl nicht mehr viel, wie?«

»Nein«, sage ich.»Es ist nicht mehr viel. Wir haben drau?en eine In?ation.«

»Ich wei?.«Sie steht unentschlossen.»Der Instanzenweg der Kirche ist leider dafur nicht eingerichtet. Sie denkt in Jahrhunderten. Wir mussen das hinnehmen. Man tut es ja schlie?lich fur Gott und nicht fur Geld. Oder nicht?«

»Man kann es fur beides tun«, erwidere ich.»Das ist dann ein besonders glucklicher Zustand.«

Sie seufzt.»Wir sind gebunden an die Beschlusse der Kirchenbehorden. Die werden einmal im Jahr gefa?t,

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