Er grinste. Das mit dem Testament hielt er fur einen gro?artigen Witz. Eben« so die Pauken und Trompeten. Berger stie? 509 an. 509 tat einen Schritt vor. »Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen?«
»Du mit mir? Blodsinn!«
Handke ging dem Ausgang zu. 509 folgte ihm. »Ich habe Geld bei mir«, sagte er gegen den Rucken Handkes.
»Geld? So? Wieviel?« Handke ging weiter. Er drehte sich nicht um.
»Zwanzig Mark.« 509 hatte vierzig sagen wollen; aber der sonderbare Widerstand in ihm verhinderte es. Er spurte ihn wie eine Art Trotz; er bot die Halfte fur sein Leben.
»Zwanzig Mark und zwei Pfennige! Mensch, schieb ab.«
Handke ging schneller. Es gelang 509, neben ihn zu kommen »Zwanzig Mark ist besser als nichts.«
»Schei?e.«
Es hatte keinen Zweck mehr, jetzt vierzig zu bieten. 509 hatte das Gefuhl, einen entscheidenden Fehler gemacht zu haben. Er hatte alles bieten sollen. Sein Magen fiel plotzlich in einen Abgrund.
Der Widerstand, den er vorher gespurt hatte, war fort. »Ich habe noch mehr Geld«, sagte er rasch.
»Sieh mal an!« Handke blieb stehen. »Ein Kapitalist! Ein Verreck-Kapitalist! Wieviel hast du denn noch?« 509 holte Atem. »Funftausend Schweizer Franken.«
»Was?«
»Funftausend Schweizer Franken. Sie liegen in einem Bankfach in Zurich.«
Handke lachte. »Und das soll ich dir Jammerlappen glauben?«
»Ich war nicht immer ein Jammerlappen.«
Handke starrte 509 eine Weile an. »Ich verschreibe Ihnen die Halfte des Geldes«, sagte 509 hastig. »Eine einfache Uberschreibung genugt, und es gehort Ihnen. Zweitausendfunfhundert Schweizer Franken.« Er blickte in das harte, ausdruckslose Gesicht vor sich. »Der Krieg ist bald zu Ende. Geld in der Schweiz ist dann gut.« Er wartete. Handke antwortete noch immer nicht.
»Wenn der Krieg verloren ist«, fugte 509 langsam hinzu.
Handke hob den Kopf. »So«, sagte er leise. »Darauf rechnest du also schon, was? Hast dir alles fein ausgedacht, wie? Das werden wir dir aber mal grundlich versalzen! Hast dich selber 'reingelegt – jetzt hat dich die Politische Abteilung auch noch -, verbotener Devisenbesitz im Ausland! Kommtnoch zu dem anderen dazu! Mensch, deinen Kopf mochte ich nicht haben.«
»Zweitausendfunfhundert Franken haben und nicht haben ist nicht dasselbe -«
»Fur dich auch nicht. Scher dich weg!« brullte Handke plotzlich und stie? 509 so heftig vor die Brust, da? er sturzte.
Langsam richtete 509 sich auf. Berger kam heran. Handke war im Dunkeln verschwunden. 509 wu?te, da? Nachlaufen keinen Zweck mehr hatte; Handke war auch schon zu weit fort. »Was ist passiert?« fragte Berger eilig.
»Er hat es nicht genommen.«
Berger antwortete nicht. Er blickte 509 an. 509 sah, da? Berger einen Knuppel in der Hand hielt.
»Ich habe ihm noch viel mehr angeboten«, sagte er. »Er wollte nicht.« Er blickte verstort um sich.
»Ich mu? irgend etwas falsch gemacht haben. Ich wei? nicht was.«
»Was kann er nur gegen dich haben?«
»Er konnte mich nie leiden.« 509 strich sich uber die Stirn. »Es ist jetzt auch egal. Ich habe ihm sogar Geld in der Schweiz angeboten. Franken. Zweitausendfunfhundert. Er wollte nicht.«
Sie kamen zur Baracke. Sie brauchten nichts zu sagen; die anderen wu?ten schon, was los war.
Alle standen, wo sie vorher gestanden hatten; keiner ruckt ab – aber es war, als habe sich um 509 bereits ein freier Platz gebildet, ein unsichtbarer, unuberschreitbarer Ring, der ihn isolierte: die Einsamkeit des Todes. »Verflucht!« sagte Rosen.
509 sah ihn an. Er hatte ihn morgens gerettet. Es war sonderbar, da? er es hatte tun konnen und da? er jetzt schon irgendwo war, von wo er keine Hand mehr ausstrecken konnte. »Gib mir die Uhr«, sagte er zu Lebenthal.
»Komm in die Baracke«, sagte Berger. »Wir mussen uberlegen -«
»Nein. Jetzt kann man nur noch warten. Gib mir die Uhr. Und la?t mich allein -«
Er sa? allein. Die Zeiger der Uhr schimmerten grunlich in der Finsternis Drei?ig Minuten Zeit, dachte er. Zehn Minuten bis zu den Verwaltungsgebauden; zehn Minuten fur die Meldung und die Befehle; zehn Minuten zuruck Ein Halbkreis des gro?en Zeigers – das war sein Leben jetzt.
Es war vielleicht mehr, dachte er plotzlich. Wenn Handke die Meldung wegen des Schweizer Geldes machte, wurde die Politische Abteilung eingreifen. Sie wurde versuchen, das Geld zu bekommen, und ihn so lange leben lassen, bis sie es hatte. Er hatte nicht daran gedacht, als er es Handke gesagt hatte – nur an die Habgier des Blockaltesten. Es war eine Chance. Aber es war nicht sicher, ob Handke das Geld melden wurde. Vielleicht meldete er, da? Weber 509 sehen wollte.
Bucher kam leise durch das Dunkel. »Hier ist noch eine Zigarette«, sagte er zogernd.
»Berger will, da? du hereinkommst und sie rauchst.«
Zigarette. Richtig, die Veteranen hatten noch eine. Eine von denen, die Lewinsky gebracht hatte, nach den Tagen im Bunker. Der Bunker – jetzt wu?te er, wer die dunkle Figur gegen den Himmel gewesen war, an die Handke ihn erinnert hatte, und wo er sie gesehen hatte. Es war Weber gewesen. Weber, von dem alles ausgegangen war.
»Komm«, sagte Bucher.
509 schuttelte den Kopf. Die Zigarette. Die Henkersmahlzeit. Die Henkerszigarette.
Wie lange rauchte man daran? Funf Minuten? Zehn, wenn man langsam rauchte? Ein Drittel seiner Zeit. Zuviel. Er mu?te anderes tun. Aber was? Es war nichts zu tun. Sein Mund war plotzlich trocken vor Gier nach dem Tabak. Er wollte nicht. Wenn er rauchte, gab er zu, da? er verloren war. »Geh weg!« flusterte er wutend. »Geh weg mit deiner Schei?zigarette!« Er erinnerte sich an eine ahnliche Gier. Dieses Mal brauchte er nicht lange zu suchen. Neubauers Zigarre war es gewesen, damals, als Weber ihn und Bucher, verprugelt hatte, Weber, wieder. Wie immer. Wie vor Jahren – Er wollte nicht an Weber denken. Jetzt nicht. Er sah auf die Uhr. Funf Minuten waren vergangen. Er blickte auf den Himmel. Die Nacht war feucht und sehr milde. Es war eine Nacht, in der alles wuchs. Eine Nacht der Wurzeln und Knospen. Fruhling. Der erste Fruhling mit Hoffnung. Es war eine zerfetzte, verzweifelte Hoffnung gewesen, nur der Schatten einer Hoffnung, ein sonderbares, schwaches Echo aus gestorbenen Jahren, aber schon das war riesig gewesen und hatte schwindlig gemacht und alles verandert. Er hatte Handke nicht sagen sollen, da? der Krieg verloren war, dachte etwas in ihm. Zu spat. Er hatte es getan. Der Himmel schien dunkler zu werden, staubiger, verkohlter, niedriger, ein endloser Deckel, der sich voll Drohung senkte. 509 atmete muhsam. Er wollte wegkriechen, den Kopf in eine Ecke stecken, ihn in Erde verbergen, retten, das Herz herausrei?en, es verstecken, damit es weiterschlagen wurde, wenn – Vierzehn Minuten. Ein Murmeln hinter ihm, eintonig, singend, fremdartig. Ahasver, dachte er. Ahasver, der betet. Er horte es, und es schien Stunden zu dauern, ehe er sich erinnerte, was es war. Es war dasselbe Murmeln und Singen, das er oft gehort hatte – das Gebet fur die Toten, Kaddisch. Ahasver sagte bereits Kaddisch uber ihn. »Ich bin noch nicht tot, Alter«, sagte er nach ruckwarts. »Noch lange nicht. Hor auf mit dem Beten -« Jemand antwortete. Es war Bucher. »Er betet nicht«, sagte er. 509 horte es nicht mehr. Er fuhlte plotzlich, wie es kam. Er hatte viele Angste in seinem Leben kennengelernt, er kannte die graue, molluskenhafte Angst der endlosen Gefangenschaft, er kannte die scharfe, zerrei?ende Angst kurz vor der Folter, er kannte die tiefe, huschende Furcht vor der eigenen Verzweiflung – er kannte sie alle, und er hatte sie bestanden, er kannte sie, aber er wu?te auch um die andere, die letzte, und er wu?te, da? sie jetzt da war: die Angst der Angste, die gro?e Angst vor dem Tode. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt, und er hatte geglaubt, sie wurde nie wiederkommen, er konne sie nicht mehr haben, sie sei aufgesogen worden vom Elend, von der steten Todesnahe und von der letzten Gleichgultigkeit. Nicht einmal, als er mit Bucher zur Schreibstube ging, hatte er sie gefuhlt – aber jetzt spurte er ihre Eistropfen in seinen Wirbeln, und er wu?te, da? es so war, weil er wieder Hoffnung gehabt hatte, er spurte sie, und sie war Eis und Leere und Zerfallen und lautloser Schrei. Er hielt die Hande auf den Boden gestemmt und starrte geradeaus. Das war kein Himmel mehr, dieses saugende, todliche Grauen dort uber ihm! Wo war das Leben darunter? Wo war der su?e Laut des Wachsens? Wo waren die Knospen? Wo das Echo, das sanfte Echo der Hoffnung? Flackernd, erloschend in bitteren Agonien, zischte der letzte, armselige Funke in den Darmen, und bleiern erstarrte die Welt in Sturz und Furcht. Das Murmeln. Wo war das Murmeln geblieben? Da war auch kein Murmeln mehr. 509 hob sehr langsam