die Hand. Er zogerte, bevor er sie offnete, als hielte sie einen Diamanten, der in Kohle verwandelt sein konnte. Er lie? die Finger los und wartete noch einige Atemzuge, bevor er hinsah auf die beiden bleichen Striche, die sein Schicksal umgrenzten. Funfunddrei?ig Minuten. Funfunddrei?ig! Funf Minuten mehr als die drei?ig, auf die er gerechnet hatte. Funf mehr; funf entsetzlich kostbare, wichtige Minuten. Aber es war moglich, da? es funf Minuten langer gedauert hatte, die Meldung bei der Politischen Abteilung anzubringen – oder Handke konnte sich mehr Zeit genommen haben. Sieben Minuten mehr. 509 sa? still. Er atmete, und er fuhlte wieder, da? er atmete.
Noch immer war nichts zu horen. Keine Schritte, kein Geklirr, keine Rufe. Der Himmel war wieder da und wich zuruck. Er war nicht mehr nur noch schwarzes Pressen und Grabgewolk. Wind sickerte hindurch.
Zwanzig Minuten. Drei?ig. Jemand hinter ihm seufzte. Der hellere Himmel. Ferner.
Das Echo wieder, ein fernster Herzschlag, die schmale Trommel des Pulses, und mehr: das Echo im Echo, Hande, die wieder Hande waren, der Funke, nicht erloschen – glimmend wieder, und: starker als vorher. Um ein weniges starker. Um etwas, das durch die Angst dazu gekommen war.
Kraftlos lie? die linke Hand die Uhr fallen.
»Vielleicht -« flusterte Lebenthal hinter 509 und schwieg, erschreckt und aberglaubisch.
Zeit war plotzlich nichts mehr. Sie zerflo?. Zerflo? nach allen Seiten. Zeitwasser, irgendwohin verspulend, Hugel hinunter. Es war keine Uberraschung, als Berger die Uhr aufnahm und sagte:»Eine Stunde zehn Minuten. Heute passiert nichts mehr.
Vielleicht nie, 509. Vielleicht hat er es sich uberlegt.«
»Ja«, sagte Rosen.
509 wendete sich um. »Leo, kommen die Madchen nicht heute abend?«
Lebenthal starrte ihn an. »Daran denkst du jetzt?«
»Ja.«
An was sonst, dachte 509. An alles, was mich wegnimmt von dieser Angst, die die Knochen zu Gelatine schmilzt. »Wir haben Geld«, sagte er. »Ich habe Handke nur zwanzig Mark angeboten.«
»Du hast ihm nur zwanzig Mark angeboten?« fragte Lebenthal unglaubig.
»Ja. Zwanzig oder vierzig war egal. Wenn er will, nimmt er es, fertig, und es ist gleich, ob es zwanzig oder vierzig sind.«
»Und wenn er morgen kommt?«
»Wenn er kommt, kriegt er zwanzig Mark. Wenn er mich gemeldet hat, kommt die SS.
Dann brauche ich das Geld uberhaupt nicht.«
»Er hat dich nicht gemeldet«, sagte Rosen. »Sicher nicht. Er wird das Geld nehmen.«
Lebenthal hatte sich gefa?t. »Behalte dein Geld«, erklarte er. »Ich habe genug fur heute abend.«
Er sah, da? 509 eine Gebarde machte. »Ich will es nicht haben«, sagte er heftig. »Ich habe genug.
La? mich in Ruhe.« 509 stand langsam auf. Er hatte, als er sa?, das Gefuhl gehabt, er konne nie wieder aufstehen und seine Knochen seien wirklich zu Gelatine geworden. Er bewegte sich, seine Arme, seine Beine. Berger folgte ihm. Sie schwiegen eine Zeitlang. »Ephraim«, sagte 509 dann.
»Glaubst du, da? wir je die Angst wieder loswerden konnen?«
»War es so schlimm?«
»So schlimm wie nur moglich. Schlimmer als sonst.«
»Es war schlimmer, weil du mehr am Leben bist«, sagte Berger.
»Meinst du?«
»Ja. Wir alle haben uns verandert.«
»Vielleicht. Aber werden wir die Angst je in unserem Leben loswerden?«
»Das wei? ich nicht. Diese ja. Es war eine vernunftige Angst. Eine mit Grund. Die andere, die standige, die KZ-Angst – das wei? ich nicht. Es ist auch egal. Wir mussen einstweilen nur an morgen denken. An morgen und Handke.«
»Daran will ich gerade nicht denken«, sagte 509.
XIII
Berger war auf dem Wege zum Krematorium. Neben ihm marschierte eine Gruppe von sechs Mann. Er kannte einen davon. Es war ein Rechtsanwalt, der Mosse hie?. Er war 1932 an einem Mordproze? gegen zwei Nazis als Vertreter der Nebenklager beteiligt gewesen. Die Nazis waren freigesprochen worden, und Mosse war nach der Machtergreifung sofort ins Konzentrationslager gekommen. Berger hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er im Kleinen Lager war. Er kannte ihn wieder, weil er eine Brille trug, in der sich nur ein Glas befand. Mosse brauchte kein zweites; er hatte nur ein Auge. Das andere war ihm 1933 als Quittung fur den Proze? mit einer Zigarette ausgebrannt worden. Mosse ging an der Au?enseite. »Wohin?« fragte Berger ihn, ohne die Lippen zu bewegen. »Krematorium. Arbeiten.« Die Gruppe marschierte vorbei. Berger sah jetzt, da? er noch einen der Leute kannte: Brede, einen sozialdemokratischen Parteisekretar. Ihm fiel auf, da? alle sechs politische Straflinge waren. Ein Kapo mit dem grunen Winkel der Kriminellen folgte ihnen. Er pfiff eine Melodie vor sich hin. Berger erinnerte sich, da? es ein Schlager aus einer alten Operette war. Mechanisch kam ihm auch der Text ins Gedachtnis:»Adieu, du kleine Klingelfee, leb wohl, bis ich dich wiederseh'.« Er sah der Gruppe nach. Klingelfee, dachte er irritiert. Es mu?te eine Telefonistin damit gemeint gewesen sein. Warum fiel ihm das plotzlich ein? Warum wu?te er diese Leierkastenmelodie noch und sogar die blodsinnigen Worte dazu? So viel Wichtigeres war langst vergessen. Er ging langsam und atmete den frischen Morgen. Dieser Gang durchs Arbeitslager war fur ihn immer fast wie ein Gang durch einen Park. Funf Minuten noch bis zur Mauer, die das Krematorium umschlo?. Funf Minuten Wind und fruher Tag. Er sah die Gruppe mit Mosse und Brede unter dem Tor verschwinden. Es schien sonderbar, da? neue Leute zum Arbeiten im Krematorium bestimmt worden waren. Das Krematoriumskommando bestand aus einer besonderen Gruppe von Haftlingen, die zusammen wohnten. Sie wurden besser ernahrt als die anderen und hatten auch sonst gewisse Vorteile. Dafur wurden sie gewohnlich nach einigen Monaten abgelost und zum Vergasen verschickt. Das jetzige Kommando war aber erst zwei Monate da; und Au?enseiter wurden nur selten hinzukommandiert. Berger war fast der einzige. Er war anfangs zur Aushilfe fur einige Tage hingeschickt worden und hatte dann, als sein Vorganger starb weitergearbeitet. Er bekam keine bessere Verpflegung und wohnte nicht mit dem eigentlichen Verbrennungskommando zusammen. Deshalb hoffte er, nicht in weiteren zwei oder drei Monaten mit den anderen fortgeschickt zu werden Doch das war nur eine Hoffnung. Er ging durch das Tor und sah jetzt die sechs Mann auf dem Hof in einer Reihe nebeneinanderstehen. Sie standen nicht weit von den Galgen, die in dei Mitte errichtet worden waren. Alle versuchten, die Holzgeruste nicht zu sehen Mosses Gesicht hatte sich verandert. Er starrte mit seinem einen Auge durch das Brillenglas angstvoll auf Berger. Brede hielt den Kopf gesenkt. Der Kapo wendete sich um und erblickte Berger. »Was willst du hier?« »Kommandiert zum Krematorium. Zahnkontrolle.« »Der Zahnklempner. Dann mach, da? du hier fortkommst. Stillgestanden die anderen!« Die sechs Mann standen so still, wie sie konnten. Berger ging dicht an ihnen vorbei. Er horte Mosse etwas flustern; aber er verstand es nicht. Er konnte auch nicht stehenbleiben; der Kapo beobachtete ihn. Es ist merkwurdig, dachte er da? ein so kleines Kommando von einem Kapo gefuhrt wird – anstatt von einem Vorarbeiter. Der Keller des Krematoriums hatte an einer Seite einen gro?en schragen Schacht, der nach au?en fuhrte. Die Leichen, die im Hof aufgestapelt waren, wurden in diesen Schacht geworfen und glitten in den Keller. Dort wurden sie entkleidet, wenn sie nicht schon nackt waren, rubriziert und auf Gold untersucht.
Berger hatte hier unten Dienst. Er mu?te Totenscheine ausschreiben und die Goldzahne der Toten ziehen. Der Mann, der das fruher gemacht hatte, ein Zahntechniker aus Zwickau, war an Blutvergiftung gestorben. Der Kapo, der unten Aufsicht hatte, hie? Dreyer. Er kam einige Minuten spater herein. »Los«, sagte er mi?mutig und setzte sich an einen kleinen Tisch, auf dem Listen lagen. Au?er Berger waren noch vier Mann vom Krematoriumskommando da. Sie postierten sich neben dem Schacht. Der erste Tote rutschte hindurch wie ein riesiger Kafer. Die vier Mann zerrten ihn uber den Zementflur zur Mitte des Raumes. Er war schon starr. Sie zogen ihn rasch aus. Die Jacke mit der Nummer und den Abzeichen wurde abgestreift. Einer der Haftlinge hielt dabei den rechten Arm, der abstand, so lange herunter, bis der Armel abgezogen war. Dann lie? er los, und der Arm schnappte zuruck wie ein Zweig. Die Hosen waren leichter abzustreifen. Der Kapo notierte die Nummer des Toten. »Ring?« fragte er. »Nein. Kein Ring.« »Zahne?« Er leuchtete mit einer Taschenlampe in den halboffenen Mund, auf dem ein dunner Streifen Blut getrocknet war. »Goldfullung rechts«, sagte Berger. »Gut. 'raus.« Berger kniete mit