mit einem Garten.

Bucher sah sie an. Die Sonne machte ihr ausgemergeltes Gesicht sanfter. Er holte eine Brotrinde aus der Tasche. »Hier, Ruth – Berger hat mir das fur dich gegeben. Er hat es heute bekommen. Ein Extrastuck fur uns.«

Er warf die Rinde geschickt durch den Stacheldraht. Ihr Gesicht zuckte. Die Rinde lag neben ihr.

Sie antwortete eine Zeitlang nicht. »Es ist deins«, sagte sie schlie?lich mit Anstrengung.

»Nein. Ich habe schon ein Stuck gehabt.«

Sie schluckte. »Du sagst das nur -«

»Nein, bestimmt nicht -« Er sah, wie ihre Finger sich rasch uber der Rinde schlossen.

»I? es langsam«, sagte er. »Dann gibt es mehr her.«

Sie nickte und kaute schon. »Ich mu? es langsam essen. Ich habe schon wieder einen Zahn verloren. Sie fallen einfach aus. Es tut nicht weh. Es sind jetzt sechs.«

»Wenn es nicht weh tut, macht es nichts. Wir hatten hier jemand, dem der ganze Kiefer vereitert war. Er stohnte, bis er starb.«

»Ich werde bald keine Zahne mehr haben.«

»Man kann kunstliche einsetzen. Lebenthal hat auch ein Gebi?.«

»Ich will kein Gebi? haben.«

»Warum nicht? Viele Leute haben eins. Es macht wirklich nichts, Ruth.«

»Sie werden mir kein Gebi? geben.«

»Hier nicht. Aber man kann spater eins machen lassen. Es gibt wunderbare Gebisse.

Viel besser als das von Lebenthal. Das ist alt. Er hat es schon zwanzig Jahre. Es gibt jetzt neue, sagt er, die man uberhaupt nicht spurt. Sie sitzen fest und sind schoner als wirkliche Zahne.«

Ruth hatte ihr Stuck Brot gegessen. Sie wendete ihre truben Augen Bucher zu. »Josef – glaubst du wirklich, da? wir jemals hier herauskommen?«

»Sicher! Ganz sicher! 509 glaubt es auch. Wir alle glauben es jetzt.«

»Und was dann?«

»Dann -« Bucher hatte noch nicht weit daruber hinausgedacht. »Dann sind wir frei«, sagte er, ohne es sich ganz vorstellen zu konnen.

»Wir werden uns wieder verstecken mussen. Sie werden uns wieder jagen. So, wie sie uns fruher gejagt haben.«

»Sie werden uns nicht mehr jagen.«

Sie sah ihn lange an. »Und das glaubst du?«

»Ja.«

Sie schuttelte den Kopf. »Sie werden uns vielleicht eine Zeitlang in Ruhe lassen. Aber dann werden sie uns wieder jagen. Sie wissen nichts anderes -«

Die Drossel begann aufs neue zu singen. Es klang klar und sehr su? und unertraglich.

»Sie werden uns nicht mehr jagen«, sagte Bucher. »Wir werden zusammen sein. Wir werden aus dem Lager hinausgehen. Man wird den Drahtzaun niederrei?en. Wir werden uber den Weg dort gehen. Niemand wird auf uns schie?en. Keiner wird uns zuruckholen. Wir werden uber die Felder gehen, in ein Haus, wie das wei?e Haus dort druben, und uns auf Stuhle setzen.«

»Stuhle-«

»Ja. Richtige Stuhle. Es wird ein Tisch dasein und Teller aus Porzellan und ein Feuer.«

»Und Leute, die uns hinausjagen.«

»Sie werden uns nicht hinausjagen. Ein Bett wird dasein mit Decken und sauberen Leinentuchern.

Und Brot und Milch und Fleisch.«

Bucher sah, da? ihr Gesicht sich verzerrte. »Du mu?t es glauben, Ruth«, sagte er hilflos.

Sie weinte ohne Tranen. Das Weinen war nur in ihren Augen. Sie verschleierten sich, und es wellte undeutlich darin auf. »Es ist so schwer zu glauben, Josef.«

»Du mu?t es glauben«, wiederholte er. »Lewinsky hat neue Nachrichten gebracht. Die Amerikaner und Englander sind schon weit uber den Rhein. Sie kommen. Sie werden uns befreien. Bald.«

Das Abendlicht wechselte plotzlich. Die Sonne hatte den Bergrand erreicht. Die Stadt fiel in blaues Dunkel. Die Fenster erloschen. Der Flu? wurde still. Alles wurde still.

Auch die Drossel schwieg. Nur der Himmel begann jetzt zu gluhen. Die Wolken wurden zu perlmutternen Schiffen, breite Strahlen trafen sie wie Winde aus Licht, und sie segelten in das rote Tor des Abends. Voll fiel der letzte Glanz auf das wei?e Haus auf der Anhohe, und wahrend die ubrige Erde erlosch, schimmerte nur es noch und schien dadurch naher und weiter als je zuvor.

Sie sahen den Vogel erst, als er dicht heran war. Sie sahen einen kleinen schwarzen Ball mit Flugeln. Sie sahen ihn vor dem machtigen Himmel, er flog hoch und kam dann plotzlich herunter, sie sahen ihn, und sie wollten beide etwas tun und taten es nicht; einen Augenblick, gerade bevor er sich dem Boden naherte, war die ganze Silhouette da, der kleine Kopf mit dem gelben Schnabel, die ausgebreiteten Flugel und die runde Brust mit den Melodien, und dann kam das leichte Krackeln und der Funke aus dem elektrisch geladenen Verhau, sehr klein und bla? und todlich vor dem Sonnenuntergang, und es war nichts mehr da als ein verkohlter Rest mit einem herabhangenden kleinen Fu? auf dem untersten Draht und einem Fetzen Flugel, der den Boden gestreift und den Tod herangeweht hatte.

»Das war die Drossel, Josef -«

Bucher sah das Entsetzen in Ruth Hollands Augen. »Nein, Ruth«, sagte er rasch. »Das war ein anderer Vogel. Es war keine Drossel. Und wenn es eine war, dann war es nicht die, die gesungen hat – bestimmt nicht, Ruth -, nicht »Du meinst wohl, ich hatte dich vergessen, was?« fragte Handke.

»Nein.«

»Es war zu spat gestern. Aber wir haben ja Zeit. Zeit genug, dich zu melden. Morgen zum Beispiel, den ganzen Tag.«

Er stand vor 509. »Du Millionar! Du Schweizer Millionar! Sie werden dir dein Geld schon Franken fur Franken aus den Nieren prugeln.«

»Das Geld braucht mir keiner herauszuprugeln«, sagte 509. »Es ist einfacher zu haben.

Ich unterschreibe einen Zettel, und es gehort mir nicht mehr.« Er sah Handke fest an.

»Zweitausendfunfhundert Franken. Viel Geld.«

»Funftausend«, erwiderte Handke. »Fur die Gestapo. Glaubst du, die teilt?«

»Nein. Funftausend fur die Gestapo«, bestatigte 509.

»Und den Prugelbock und das Kreuz und den Bunker und Breuer mit seinen Methoden fur dich und dann den Galgen.« »Das wei? man noch nicht.«

Handke lachte. »Was sonst? Vielleicht ein Anerkennungsschreiben? Fur verbotenes Geld?«

»Das auch nicht.« 509 sah Handke immer noch an. Er war uberrascht daruber, da? er nicht mehr Angst hatte, obschon er wu?te, da? Handke ihn in der Hand hatte; aber starker als alles spurte er plotzlich etwas anderes: Ha?. Nicht den truben, blinden, kleinen des Lagers, den alltaglichen Groschenha? der Not einer verhungernden Kreatur gegen eine andere, irgendeines Vorteils oder Nachteils wegen – nein, er spurte einen kalten, klaren intelligenten Ha?, und er spurte ihn so sehr, da? er die Augen niederschlug, weil er glaubte, Handke musse ihn erkennen.

»So? Was dann vielleicht, du weiser Affe?« 509 roch den Atem Handkes. Auch das war neu; der Gestank des Kleinen Lagers hatte fruher fast keinen individuellen Geruch zugelassen. 509 wu?te auch, da? er Handke nicht roch, weil sein Geruch starker war als der Verwesungsgestank ringsum; er roch ihn, weil er Handke ha?te. »Bist du stumm geworden vor Angst?« Handke stie? 509 gegen das Schienbein. 509 zuckte nicht zuruck. »Ich glaube nicht, da? ich gefoltert werde«, sagte er ruhig und sah Handke wieder an. »Es wurde nicht zweckma?ig sein. Ich konnte der SS unter den Handen wegsterben. Ich bin sehr schwach und halte fast nichts mehr aus. Das ist ein Vorteil im Augenblick. Die Gestapo wird lieber mit alldem warten, bis das Geld in ihren Handen ist. Solange braucht sie mich. Ich bin namlich der einzige, der daruber verfugen kann. In der Schweiz hat die Gestapo keine Macht. Bis sie das Geld hat, bin ich sicher. Und das dauert eine ziemliche Zeit. Bis dahin kann vieles passieren.« Handke dachte nach. 509 sah im Halbdunkel, wie es in seinem flachen Gesicht arbeitete. Er sah das Gesicht genau. Ihm

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