war, als seien hinter seinen Augen Scheinwerfer angebracht, die es bestrahlten. Das Gesicht selbst blieb gleich; aber jede Einzelheit darin schien gro?er zu werden. »So, das hast du dir alles ausgedacht, was?« stie? der Blockalteste schlie?lich hervor. »Ich habe mir nichts ausgedacht. Es ist so.« »Und was ist mit Weber? Der wollte dich ja auch sprechen! Der wird nicht warten.« »Doch«, erwiderte 509 ruhig. »Herr Sturmfuhrer Weber wird warten mussen. Die Gestapo wird dafur sorgen. Es ist wichtiger fur sie, Schweizer Franken zu bekommen.« Die hervorstehenden, bla?blauen Augen Handkes schienen sich zu drehen. Der Mund kaute. »Du bist machtig schlau geworden«, sagte er schlie?lich. »Fruher konntest du kaum schei?en! Ihr seid hier alle in der letzten Zeit munter wie die Bocke geworden, ihr Stinker! Wird euch schon versalzen werden, wartet nur! Euch jagen sie alle noch durch den Schornstein!« Er tippte 509 mit einem Finger vor die Brust. »Wo sind die zwanzig Eier?« fauchte er dann. 509 zog den Schein aus der Tasche. Er hatte eine Sekunde den Wunsch gespurt, es nicht zu tun, aber sofort gewu?t, da? das Selbstmord gewesen ware. Handke ri? ihm das Geld aus der Hand. »Einen Tag lang kannst du weiter» schei?en dafur«, erklarte er und puffte sich auf. »Einen Tag lasse ich dich dafur langer leben, du Wurm! Einen Tag, bis morgen.« »Einen Tag«, sagte 509. Lewinsky uberlegte. »Ich glaube nicht, da? er es tun wird«, sagte er dann. »Was kann er schon dabei fur sich herausholen?« 509 hob die Schultern. »Nichts. Er ist nur unberechenbar, wenn er etwas zu trinken erwischt hat. Oder wenn er seinen Koller hat.« »Man mu? ihn aus dem Wege schaffen.« Lewinsky dachte wieder nach. »Im Augenblick konnen wir nicht viel gegen ihn unternehmen. Es ist dicke Luft. Die SS kammt die Listen durch nach Namen. Wir lassen im Lazarett verschwinden, wen wir konnen. Bald mussen wir euch auch ein paar Leute ruberschmuggeln. Das ist doch in Ordnung, wie?« »Ja. Wenn ihr das Essen fur sie liefert.« »Das ist selbstverstandlich. Aber da ist noch etwas. Wir mussen jetzt mit Razzien und Kontrollen bei uns rechnen. Konnt ihr ein paar Sachen verstecken, so da? man sie nicht findet?« »Wie gro??« »So gro? -« Lewinsky sah sich um. Sie hockten hinter der Baracke im Dun« kein. Nichts war zu sehen als die stolpernde Reihe der Muselmanner auf dem Weg zur Latrine. »So gro?, wie zum Beispiel ein Revolver -« 509 atmete scharf ein. »Ein Revolver?« »Ja.« 509 schwieg einen Augenblick. »Unter meinem Bett ist ein Loch im Boden«, sagte er dann leise und rasch. »Die Latten daneben sind lose. Man kann mehr als einen Revolver da unterbringen. Leicht. Hier wird nicht kontrolliert.« Er merkte nicht, da? er sprach wie jemand, der einen anderen uberreden will; nicht wie jemand, der zu einem Risiko uberredet werden soll. »Hast du ihn bei dir?« fragte er.
»Ja.« »Gib ihn her.« Lewinsky sah sich noch einmal um. »Du wei?t, was das bedeutet?« »Jaja«, erwiderte 509 ungeduldig. »Es war schwer, ihn zu kriegen. Wir haben viel riskieren mussen.« »Ja, Lewinsky. Ich passe schon auf. Gib ihn nur her.« Lewinsky griff in seinen Kittel und schob die Waffe in die Hand von 509. 509 fuhlte sie. Sie war schwerer, als er erwartet hatte. »Was ist das darum?« fragte er. »Ein Lappen mit etwas Fett. Ist das Loch unter deinem Bett trocken?« »Ja«, sagte 509. Es stimmte nicht; aber er wollte die Waffe nicht zuruckgeben. »Ist Munition dabei?« fragte er. »Ja. Nicht viel; ein paar Patronen. Er ist au?erdem geladen.« 509 steckte den Revolver unter sein Hemd und knopfte den Kittel daruber zu. Er fuhlte ihn in der Nahe seines Herzens und spurte einen raschen Schauder uber seine Haut laufen. »Ich gehe jetzt«, sagte Lewinsky. »Pa? scharf auf ihn auf. Versteck ihn gleich.« Er sprach von der Waffe wie von einem wichtigen Menschen. »Das nachstemal, wenn ich komme, kommt jemand von uns mit. Habt ihr tatsachlich Platz?« Er blickte uber den Appellplatz, auf dem im Dunkeln dunklere Gestalten lagen. »Wir haben Platz«, erwiderte 509. »Fur eure Leute haben wir immer Platz.« »Gut. Wenn Handke wiederkommt, gib ihm noch etwas Geld. Habt ihr was?« »Ich habe noch was. Fur einen Tag.« »Ich will sehen, da? wir etwas zusammenkriegen. Werde es Lebenthal geben. Ist das in Ordnung?« »Ja.« Lewinsky verschwand im Schatten der nachsten Baracke. Von dort stolperte er, wie ein Muselmann vornuber gebeugt, der Latrine zu. 509 blieb noch eine Zeitlang sitzen. Er lehnte den Rucken fest gegen die Barackenwand. Mit der rechten Hand pre?te er den Revolver gegen seinen Korper. Er widerstand der Versuchung, ihn herauszunehmen, den Lappen aufzuwickeln und das Metall anzufassen; er hielt ihn nur fest. Er fuhlte die Linien des Laufes und des Handgriffes, und er fuhlte sie, als ginge von ihnen eine schwere, dunkle Kraft aus. Es war das erstemal in vielen Jahren, da? er etwas an sich gepre?t hielt, mit dem er sich verteidigen konnte. Er war plotzlich nicht mehr vollig hilflos. Er war nicht mehr vollkommen ausgeliefert. Er wu?te, da? es eine Illusion war und da? er die Waffe nicht gebrauchen durfte; aber es genugte, da? er sie bei sich hatte. Es genugte, um etwas in ihm zu verandern. Das schmale Werkzeug des Todes war wie ein Dynamo des Lebens. Es stromte Widerstand in ihn uber. Er dachte an Handke. Er dachte an den Ha?, den er gegen ihn gespurt hatte. Handke hatte das Geld bekommen; aber er war schwacher gewesen als 509. Er dachte an Rosen; er hatte ihn retten konnen. Dann dachte er an Weber. Er dachte lange an ihn und an die erste Zeit im Lager. Er hatte das seit Jahren nicht getan. Er hatte alle Erinnerungen in sich verbannt; auch die an die Zeit vor dem Lager. Sogar seinen Namen hatte er nicht mehr horen wollen. Er war kein Mensch mehr gewesen, und er hatte es nicht mehr sein wollen; es hatte ihn zerbrochen. Er war eine Nummer geworden und hatte sich nur noch als Nummer genannt und nennen lassen. Schweigend sa? er in der Nacht und atmete und hielt die Waffe fest und fuhlte, wie vieles sich in den letzten Wochen verandert hatte. Die Erinnerungen kamen plotzlich wieder, und ihm war, als a?e und tranke er gleichzeitig etwas, das er nicht sehen konnte und das wie eine starke Medizin war. Er horte, wie die Wachen abgelost wurden. Vorsichtig stand er auf. Er taumelte einige Sekunden, als habe er Wein getrunken. Dann ging er langsam um die Baracke herum. Neben der Tur hockte jemand. »509!« flusterte er. Es war Rosen.
509 schrak auf, als erwache er aus einem endlosen, schweren Traum. Er blickte hinunter. »Ich hei?e Koller«, sagte er abwesend. »Friedrich Koller.« »Ja?« erwiderte Rosen verstandnislos.
XIV
»Ich will einen Priester«, jammerte Ammers.
Er jammerte es schon den ganzen Nachmittag. Sie hatten versucht, es ihm auszureden, aber es hatte keinen Zweck gehabt. Es war plotzlich uber ihn gekommen.
»Was fur einen Priester?« fragte Lebenthal.
»Einen katholischen. Wozu fragst du das, du Jude?«
»Sieh da!« Lebenthal schuttelte den Kopf. »Ein Antisemit! Das hat uns hier gerade noch gefehlt.«
»Es gibt genug im Lager«, sagte 509.
»Ihr habt schuld!« zeterte Ammers. »An allem! Ohne euch Juden waren wir nicht hier.«
»Was? Warum denn das nicht?«
»Weil es dann keine Lager gabe. Ich will einen Priester!«
»Scham dich, Ammers«, sagte Bucher aufgebracht.
»Ich brauche mich nicht zu schamen. Ich bin krank! Holt einen Priester.« 509 sah auf die blauen Lippen und die eingesunkenen Augen. »Es gibt keinen Priester im Lager, Ammers.«
»Sie mussen einen haben. Es ist mein Recht. Ich sterbe.«
»Ich glaube nicht, da? du stirbst«, erklarte Lebenthal.
»Ich sterbe, weil ihr verdammten Juden alles aufgefressen habt, was mir zukam. Und jetzt wollt ihr mir nicht einmal einen Priester holen. Ich will beichten. Was wi?t ihr davon? Wozu mu? ich in einer Judenbaracke sein? Ich habe ein Recht auf eine Arierbaracke.«
»Hier nicht mehr. Nur im Arbeitslager. Hier sind alle gleich.«
Ammers keuchte und drehte den Kopf weg. Uber seinem filzigen Haar stand an der Holzwand eine Inschrift mit Blaustift:»Eugen Mayer 1941 Typhus.
Racht -«
»Wie ist es mit ihm?« fragte 509 Berger.
»Er mu?te schon langst tot sein. Aber heute ist, glaube ich, wirklich sein letzter Tag.«
»Es sieht so aus. Er verwechselt bereits alles.«
»Er verwechselt nichts«, erklarte Lebenthal. »Er wei?, was er redet.«
»Ich hoffe nicht«, sagte Bucher.
509 sah ihn an. »Er war einmal anders, Bucher«, sagte er ruhig. »Aber man hat ihn zerschlagen. Er ist nichts mehr von dem, was er einmal war. Das da ist ein anderer Mensch, der aus Resten und Fetzen von fruher zusammengewachsen ist. Und die Fetzen waren nicht heil. Ich habe es gesehen.«
»Einen Priester«, jammerte Ammers wieder. »Ich mu? beichten! Ich will nicht in die ewige Verdammnis!« 509 setzte sich auf den Bettrand. Neben Ammers lag ein Mann des neuen Transports, der hohes Fieber hatte und flach und rasch atmete. »Du kannst das ohne Priester, Ammers«, sagte 509. »Was hast du schon getan? Hier gibt es