Osten.

Fliegende Teppiche sind schnell, denn sie werden von den starksten Zauberspruchen machtiger Dschinne angetrieben. Ihre aerodynamischen Flugeigenschaften aber lassen zu wunschen ubrig, und sie neigen zu einer gewissen Instabilitat. Die Vorderkante stellte sich wahrend des Fluges unweigerlich wie bei einem Rodelschlitten auf, was fur den notigen Auftrieb sorgt und gleichzeitig die Geschwindigkeit reduziert.

Trotzdem lag Achmed gut in der Zeit. Rosenrot dagegen hatte begonnen, uber ihre Situation nachzudenken, und fand sie langst nicht mehr so aufregend wie zu Beginn der Reise. Als sie Achmed betrachtete, der im Schneidersitz vor den Bedienungsinstrumenten des Teppichs sa?, bemerkte sie die grausamen Zuge, die sich in sein Gesicht gegraben hatten und ihr vorher irgendwie entgangen waren, sowie die brutale Form seines schwarzen Schnurrbarts, der sich zuerst nach unten, an den Enden wieder nach oben bog und in nadeldunnen gewachsten Spitzen auslief. Ihr kam der Gedanke, da? es vielleicht ein wenig voreilig von ihr gewesen war, seine Einladung anzunehmen. Und in diesem Moment fiel ihr auch wieder der Marchenprinz ein, ihr zukunftiger Gemahl. Vielleicht wurde er das verwunschene Schlo? gerade jetzt betreten. Was, wenn er sie nicht vorfand, wieder verschwand und sich eine andere Prinzessin suchte? Ware sie dann dazu verdammt, bis zu ihrem Tod allein zu bleiben, ohne jemals aus ihrem Schlummerbann erlost zu werden? Gab es irgendeine Rettung fur Schlummernde Schonheiten, die das Pech gehabt hatten, nicht von ihren Marchenprinzen gefunden zu werden? Und uberhaupt, auf was hatte sie sich nur eingelassen, und war dieser Achmed wirklich vertrauenswurdig?

»Achmed«, sagte sie, »ich habe es mir anders uberlegt.«

»Tatsachlich?« fragte Achmed beilaufig.

»Ich mochte jetzt gleich auf Aschenbrodels Fest zuruckkehren.«

»Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Hof des Gro?en Herrschers uber alle Turken«, erwiderte Achmed.

»Das ist mir egal! Ich mochte sofort umkehren!«

Achmed drehte sich zu ihr um, und jetzt lie?en Frauenfeindlichkeit, Verachtung, Selbstgefalligkeit und Heimtucke gepaart mit Kleinmutigkeit sein Gesicht ha?lich aussehen. »Kleine Prinzessin, du hast dich fur dieses Abenteuer entschieden, und jetzt gibt es kein Zuruck mehr.«

»Warum tut Ihr das?« wollte sie wissen. Irgendwann kommt fur jeden einmal der Zeitpunkt, an dem nur noch die Wahrheit helfen kann.

»Weil es mein Job ist«, erklarte er, »und weil mein Herr der Gro?e Herrscher uber alle Turken, mich reich dafur belohnen wird, sein Serail durch dich zu vergro?ern. Mu? ich mich noch klarer ausdrucken?«

»Ich werde in kein Serail gehen!« schrie Rosenrot. »Lieber sterbe ich!« Sie schob sich zum Rand des Teppichs vor und lugte hinunter. Tief unter ihr erblickte sie die griechischen Inseln, dunkle Flecken in einer milchigwei?en See. Sie kam zu dem Schlu?, da? es nicht so schlimm um sie stand, um einen Selbstmord zu rechtfertigen. Zumindest jetzt noch nicht.

Prinzessin Rosenrot kroch in die Mitte des Teppichs zuruck und trauerte dem stattlichen jungen Prinzen nach, dem sie jetzt wohl nie begegnen wurde. Sie strich sich das lange Haar zuruck, das allmahlich durch den Wind verfilzte, und als sie den Kopf zur Seite drehte, um eine Verkrampfung in ihrem Hals zu lockern, entdeckte sie einen winzigen Punkt am Himmel, der direkt auf sie zuhielt. Der Punkt wurde gro?er, und in ihrem Herzen keimte ein Hoffnungsfunke auf. Schnell drehte sie sich um, damit ihr Gesicht Achmed nicht ihre Gefuhle und ihre Entdeckung verraten konnte.

Azzie, der die Besenstiele mit Vollgas flog, sah den Fliegenden Teppich als phantastische Silhouette vor dem Vollmond. Er schlo? auf, die Augen gegen den Fahrtwind zusammengekniffen. Seine Wut schien die Geschwindigkeit der Besenstiele noch zu steigern. Die Entfernung schrumpfte schnell zusammen, und als er den Teppich eingeholt hatte und uber ihm schwebte, druckte er die Besenstiele nach unten und scho? im rasenden Sturzflug hinab.

Achmed merkte erst, wie ihm geschah, als er das laute Gerausch horte, das sogar das Drohnen des Luftstroms ubertonte. Er fuhr herum und erblickte einen fuchsgesichtigen Damon auf zwei Besenstielen, der von oben auf ihn herabstie?. Achmed Ali ri? den Teppich in eine Schragkurve und hielt Rosenrot mit einer Hand fest, wahrend das Fluggefahrt durch den Himmel sturzte. Rosenrot kreischte auf, denn ein Absturz schien unvermeidlich, aber Achmed fing den Teppich nur wenige Meter uber der glitzernden See wieder ab. Dann wendete er ihn, um die zaubergetriebenen Blitzstrahler ins Spiel zu bringen. Nicht zum ersten Mal wunschte er sich, uber die neuen Superblitze zu verfugen, aber der Gro?e Herrscher, der ziemlich verschwenderisch war, wenn es um sein Serail ging, zeigte sich knausrig, was die Modernisierung der Bewaffnung seiner Fliegenden Teppiche betraf.

Bevor Achmed Ali seine Waffen in serienma?iger Standardausfuhrung einsetzen konnte, wurde er bereits von Azzie mit gezackten Blitzstrahlen der kleinen, explosiven und schmerzhaften Version beschossen. Er tauchte ab und scherte seitlich aus, aber die Lichtblitze kamen immer naher, versengten die Rander des Teppichs und beeintrachtigten seine ohnehin durftigen aerodynamischen Werte noch mehr. Wie kraftig er auch an den Langs- und Querseilen ri?, er konnte sein Fluggerat nicht mehr unter Kontrolle bringen. Der Teppich neigte sich bedrohlich, und Achmed mu?te sich mit beiden Handen an einem Rand festklammern. Als er seinen Griff von Prinzessin Rosenrots Handgelenk loste, rutschte sie auf die Kante des Teppichs zu, der jetzt beinahe senkrecht stand, rutschte uber sie hinweg – und wirbelte haltlos durch die Luft.

Ihr Entsetzen war so gro?, da? nicht einmal ein Schrei uber ihre gelahmten Lippen kam. Das Meer naherte sich ihr mit rasender Geschwindigkeit, und direkt unter ihr lag eine kleine steile Insel, die unglaublich schnell zu ihr emporscho?.

Der Tod schien unausweichlich, doch im letztmoglichen Moment, als die nadelspitzen Felsklippen bereits mit ihren harten Granitfingern nach ihr griffen, scho? Azzie unter ihr hindurch, fing sie auf und legte sie wie einen nassen Mehlsack uber die Besenstiele. Rosenrot spurte den heftigen Beschleunigungsdruck, als Azzie eine Schleife um die schroffe Erhebung zog und gleichzeitig darum kampfte, den Sturzflug abzufangen, der sie direkt in die wei? schaumende See zu fuhren drohte. Und dann hatte er es geschafft, und sie gewannen wieder an Hohe. Gerettet!

»Oh, Onkel Azzie!« stie? Rosenrot hervor. »Ich bin ja so froh, dich zu sehen! Ich hatte solche Angst!«

»Du warst sehr ungezogen«, knurrte Azzie. »Ware das Spiel nicht schon so weit vorangeschritten, hatte ich dich in das Serail des Gro?en Herrschers uber alle Turken gehen lassen und mir eine neue Prinzessin Rosenrot gemacht. Mein junger Prinz verdient ein treues Herz!«

»Ich werde nie wieder davonlaufen«, plapperte Rosenrot, »das verspreche ich. Ich werde ruhig in meinem Zimmer schlummern und warten, bis er kommt.«

»Wenigstens hat diese ganze Angelegenheit zu einer Moral und einer Lektion in Sachen Gehorsam gefuhrt«, sagte Azzie und nahm Kurs auf das verzauberte Schlo?.

KAPITEL 9

Nachdem er sich seine Kreditkarte zuruckgeholt und Prinzessin Rosenrot wieder dort abgeliefert hatte, wo sie hingehorte, flog Azzie weiter nach Paris, das schon immer eine seiner Lieblingsstadte gewesen war. Er hatte beschlossen, sich ein paar Tage lang von Augsburg fernzuhalten, um dem Marchenprinzen Zeit zu geben, uber dem Miniaturgemalde von Prinzessin Rosenrot zu schmachten, das zu beruhren ihm verboten worden war, und sich so gema? den Gesetzen der Psychologie in sie zu verlieben.

Wo konnte man sich die Zeit besser vertreiben als in einem der zugellosen satanischen Clubs, fur die Paris schon damals beruhmt war?

Der Club Heliogabulus, fur den sich Azzie entschied, lag in einer Hohle unterhalb von Paris. Nachdem er eine endlos lange Steintreppe hinabgestiegen war, kam er in einer mit Totenkopfen und Skeletten ausgestatteten Grotte heraus. An den Wanden brannten Fackeln in eisernen Fackelhaltern und warfen hier und da dustere Schatten. Die Tische bestanden aus Sarkophagen, die ein einfallsreicher Unternehmer aus Agypten importiert hatte, wo es sie in unerme?lichen Mengen gab. Sarge gewohnlicherer Bauart dienten als Stuhle. Die Getranke wurden von Hilfsteufeln serviert, die Priestersoutanen und Nonnengewander trugen. Daruber hinaus fungierten sie als willfahrige Partner bei den Orgien, in denen die meisten Abende gipfelten. Sex und Tod, es war eine der ersten Themenbars Europas.

»Ihr wunscht?« fragte ein untersetzter Mann im Gewand eines Priesters.

»Bring mir ein teures Importbier«, verlangte Azzie. »Und gibt es etwas zu essen?«

»Nachos«, erwiderte der Kellner.

»Was ist das?«

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