hatte Bannister nach und nach in dem Labor eine ganze Menge praktischer Kenntnisse gesammelt und war mehr und mehr Pearsons rechte Hand geworden.
Offiziell arbeitete Bannister in der Serologie und der Biochemie. Aber er war so lange in der Abteilung, da? er als Techniker auch in den anderen Abteilungen des Labors aushelfen konnte und tat es haufig. Deshalb hatte Pearson ihm einen ganzen Teil der Verwaltung des Labors aufgeladen und ihn praktisch zum Vorgesetzten aller Laboranten in der Pathologie gemacht.
McNeil hielt es fur wahrscheinlich, da? Bannister in seiner besten Zeit ein guter Laborant gewesen war und es bei einer besseren Ausbildung hatte weiterbringen konnen. Wie die Dinge aber lagen, hielt er Bannister fur einen erfahrenen Praktiker mit geringen theoretischen Kenntnissen. Aus eigener Beobachtung wu?te der Assistenzarzt, da? ein gro?er Teil von Bannisters Arbeiten im Labor vorwiegend auf mechanischer Ubung statt auf bewu?ter Uberlegung beruhten. Er konnte zwar serologische und chemische Untersuchungen durchfuhren, ohne aber die dahinterstehenden wissenschaftlichen Zusammenhange wirklich zu verstehen. McNeil hatte oft gedacht, da? sich das eines Tages als gefahrlich auswirken konne.
Alexander war naturlich ein anderer Fall. Er besa? die Ausbildung der meisten Laboranten heutzutage, mit drei Studienjahren auf dem College, das letzte in einer anerkannten Schule fur medizinische Technologen. Der Ausdruck Technologe war manchmal fur Leute wie Bannister ein wunder Punkt, die nur die Bezeichnung Techniker anerkannten.
Pearson deutete mit seiner Zigarre auf den freien Hocker neben dem Tisch. »Setzen Sie sich, John.«
»Danke, Doktor«, antwortete Alexander hoflich. In seinem fleckenlosen Labormantel, dem frisch geschnittenen Haar, der gebugelten Hose und den geputzten Schuhen bildete er sowohl zu Pearson als auch zu Bannister einen auffalligen Gegensatz.
»Glauben Sie, da? es Ihnen bei uns gefallen wird?« Pearson sah auf die Lunge hinunter, die er immer noch in den Handen hielt, und fuhr mit seiner Untersuchung fort, wahrend er sprach.
»Davon bin ich uberzeugt, Doktor.«
Netter Junge, dachte McNeil, seine Antwort klingt aufrichtig.
»Nun, John«, sagte Pearson, »Sie werden feststellen, da? wir bestimmte Arbeitsmethoden haben. Sie mogen nicht immer dem entsprechen, was Sie gelernt haben, aber wir finden, da? sie sich fur uns sehr gut eignen.«
»Ich verstehe, Doktor.«
Wirklich, mein Junge, dachte McNeil, verstehst du, was der alte Mann dir damit tatsachlich sagt? Da? er hier keine Veranderungen wunscht und kein Experimentieren mit Ideen, die du in der Schule vielleicht aufgegabelt hast? Da? hier in der Abteilung nichts Neues, aber auch nichts - so geringfugig es immer sei - ohne seine ausdruckliche Zustimmung eingefuhrt wird?
»Manche Leute werden behaupten, wir hier seien altmodisch«, fuhr Pearson fort. Er war auf seine Weise durchaus freundlich. »Aber wir glauben an erprobte und bewahrte Methoden, wie Carl?«
Bannister gab schnell die gewunschte Zustimmung. »Das stimmt, Doktor.«
Pearson war jetzt mit der Lunge fertig und griff wieder in den Eimer - irgendwie war es, als zoge er ein Los bei einer Lotterie und fa?te den Magen. Er grunzte und hielt dann einen geoffneten Teil McNeil hin. »Haben Sie das gesehen?«
Der Assistenzarzt nickte. »Ja, ich sah es. Wir haben es im Protokoll angefuhrt.«
»Gut, gut.« Pearson deutete auf die Notiztafel und diktierte: »Peptisches Ulcus unmittelbar unter dem pylorischen Ring am Zwolffingerdarm. «
Alexander hatte sich leicht vorgebeugt, um besser zu sehen. Pearson bemerkte seine Bewegung und schob ihm das Organ hin. »Interessieren Sie sich fur Sektionen, John?«
Respektvoll antwortete Alexander: »Ich habe mich immer fur Anatomie interessiert, Doktor.«
»Ebensosehr wie fur die Laborarbeit, wie?«
McNeil spurte, da? Pearson angenehm beruhrt war. Pathologische Anatomie war die gro?e Leidenschaft des alten Mannes.
»Ja, Sir.«
»Nun, dies sind die Organe einer funfundfunfzigj ahrigen Frau.« Pearson blatterte in der Krankengeschichte vor sich. Alexander zeigte gespannte Aufmerksamkeit. »Dieser Fall hatte eine interessante Vorgeschichte. Die Patientin war Witwe. Die unmittelbare Todesursache war ein Brustkrebs. Zwei Jahre vor ihrem Tod erkannten ihre Kinder, da? sie krank war, konnten sie aber nicht uberreden, zum Arzt zu gehen. Anscheinend hatte sie ein Vorurteil gegen Arzte.«
»Das soll es geben«, meinte Bannister. Er stie? ein gequetschtes, hohes Kichern aus, das verstummte, als er Pearsons Blick bemerkte.
»Sparen Sie sich Ihre albernen Bemerkungen, wahrend ich John etwas erklare. Ihnen konnte es auch nichts schaden.« Jeden au?er Bannister hatte Pearsons Zurechtweisung vernichtet. Aber der erste Laborant grinste nur.
»Was geschah dann, Doktor?« fragte Alexander.
»Hier steht: >Tochter erklart, da? die Angehorigen in den letzten zwei Jahren im Bereich der linken Brust ihrer Mutter Absonderungen bemerkten. Vierzehn Monate vor der Aufnahme ins Krankenhaus bemerkten sie Blutungen an der gleichen Stelle. Sonst schien sie bei guter Gesundheit.««
Pearson blatterte die Seite um. »Dem Anschein nach ging die Frau zu einem Heilkundigen.« Er knurrte grimmig. »Offenbar war ihr Glaube aber nicht fest genug, denn spater brachten die Kinder sie hierher ins Krankenhaus.«
»Inzwischen war es vermutlich zu spat?«
Das ist nicht nur Hoflichkeit, dachte McNeil. Dieser Alexander ist ernsthaft interessiert.
»Ja«, antwortete Pearson. »Aber wenn die Frau fruhzeitig zu einem Arzt gegangen ware, hatte eine radikale Mastectomie vorgenommen werden konnen - so bezeichnet man eine Entfernung der Brust.«
»Ja, Sir, ich wei?.«
»In diesem Falle konnte sie noch leben.« Pearson warf den Magen genau durch das Loch.
Eine Frage beschaftigte Alexander noch. »Sagten Sie nicht gerade, da? sie ein Magengeschwur hatte?«
Das war gut, dachte McNeil. Pearson reagierte anscheinend ebenso, denn er wandte sich Bannister zu. »Da haben Sie es, Carl. Hier ist ein Junge, der seine Ohren aufmacht. Wenn Sie sich nicht dranhalten, wird er Ihnen bald etwas beibringen.«
Bannister grinste, aber, wie McNeil schien, etwas murrisch. Pearsons Worte konnten sich als peinlich wahr erweisen. »Nun, John« - Pearson zeigte sich ungewohnlich gesprachig -, »mag sein, da? sie Beschwerden hatte. Vielleicht aber auch nicht.«
»Sie meinen, sie hatte es vielleicht nie bemerkt?«
McNeil hielt es fur an der Zeit, selbst etwas zu sagen.
»Es ist uberraschend«, erklarte er Alexander, »was Leuten alles fehlt, unabhangig von dem, woran sie sterben. Dinge, von denen sie nie etwas erfahren. Sie werden das hier haufig beobachten konnen.«
»Das stimmt.« Pearson nickte zustimmend. »Wissen Sie, John, das Bemerkenswerte an unserem Organismus ist nicht das, was ihn totet, sondern das, was an ihm in Unordnung und krank sein kann, und womit wir trotzdem leben.« Er schwieg und wechselte dann unvermittelt das Thema. »Sind Sie verheiratet?«
»Ja, Sir.«
»Ist Ihre Frau hier bei Ihnen?«
»Noch nicht. Sie kommt nachste Woche. Ich hielt es fur richtig, erst eine Wohnung fur uns zu finden.«
McNeil erinnerte sich, da? Alexander einer der auswartigen Bewerber um die Stellung am Three Counties Hospital gewesen war. Er glaubte sich zu erinnern, da? er aus Chikago kam.
Alexander zogerte, ehe er hinzufugte: »Ich hatte Sie gern etwas gefragt, Dr. Pearson.«
»Und zwar?« Der alte Mann fragte in zuruckhaltendem Ton.
»Meine Frau erwartet ein Baby, Doktor. Und da wir in eine uns fremde Stadt kommen, kennen wir hier niemand.« Alexander machte eine Pause. »Uns bedeutet dieses Kind sehr viel. Wir haben unser erstes verloren, verstehen Sie. Einen Monat nach seiner Geburt.«
»Ich verstehe.« Pearson hatte seine Arbeit unterbrochen und musterte ihn aufmerksam.
»Ich wollte Sie fragen, Doktor, ob Sie uns einen Geburtshelfer empfehlen konnen, den meine Frau aufsuchen soll.«