»Warum?« Swayne schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels. »Weil man immer noch etwas beklagen kann, selbst wenn man es auch mit aller Gewalt nicht andern kann.«

»Ich verstehe.« O'Donnell war sich nicht sicher, ob ihm diese Diskussion sehr zusagte und er sie weiterfuhren sollte. Au?erdem mochte sie nicht dazu beitragen, sein oder Orden Browns Verhaltnis zu Swayne zu verbessern, was doch der wirkliche Grund seines Hierseins war. Er sah die anderen im Zimmer an. Amelia Brown, die er bei seinen Besuchen im Hause des Vorsitzenden recht gut kennenge lernt hatte, begegnete seinem Blick und lachelte. Als eine Frau, die an dem Leben ihres Mannes regen Anteil nahm, war sie uber die Krankenhauspolitik gut informiert.

Swaynes verheiratete Tochter, Denise Quantz, hatte sich vorgebeugt und horte gespannt zu.

Bei dem Essen hatte O'Donnell sich verschiedentlich dabei ertappt, da? seine Blicke fast gegen seinen Willen auf Mrs. Quantz gerichtet waren. Es fiel ihm schwer zu glauben, da? sie die Tochter des schroffen, harten Mannes war, der am Kopfende des Tisches sa?. Mit achtundsiebzig zeigte Eustace Swayne immer noch viel von der Zahigkeit, die er im Mahlstrom des Wettbewerbs zwischen den gro?en Einzelhandelsunternehmen erworben hatte. Manchmal nutzte er den Vorteil seines Alters aus, um seinen Gasten spitzige Bemerkungen hinzuwerfen, obwohl O'Donnell den Verdacht hegte, da? ihr Gastgeber in den meisten Fallen damit eine Diskussion herausfordern wollte. O'Donnell uberraschte sich bei dem Gedanken, der alte Mann liebe immer noch den Kampf, selbst wenn er nur mit Worten gefuhrt wird. Ebenso spurte er jetzt instinktiv, da? Swayne seine Ansichten uber die Medizin bewu?t uberspitzt formulierte, wenn im Augenblick vielleicht auch nur, um hart und unabhangig zu erscheinen. Wahrend ODonnell den alten Mann beobachtete, kam er auf die Vermutung, da? Gicht und Rheumatismus dabei eine Rolle spielen mochten.

Im Gegensatz zu ihrem Vater gab sich Denise Quantz sanft und freundlich. Sie hatte die Gabe, den Bemerkungen ihres Vaters die Scharfe zu nehmen, indem sie ein oder zwei Worte zu dem, was er sagte, hinzufugte. Sie ist zweifellos schon, dachte O'Donnell, sie hat die seltene reife Anmut, die Frauen um vierzig manchmal besitzen. Er erriet, da? sie bei Eustace Swayne zu Besuch war und recht haufig nach Burlington kam, wahrscheinlich um uber ihren Vater zu wachen. Er wu?te, da? Swaynes Frau vor vielen Jahren gestorben war. Aus der Unterhaltung wurde allerdings erkennbar, da? Denise Quantz meistens in New York lebte. Ein paarmal wurden Kinder erwahnt, aber mit keinem Wort ihr Mann. Er gewann den Eindruck, da? sie entweder von ihm getrennt lebte oder geschieden war. O'Donnell uberraschte sich dabei, da? er Denise Quantz mit Lucy Grainger verglich. Zwischen diesen beiden Frauen liegt eine Welt, dachte er. Lucy Grainger, die in ihrem Beruf aufging, ihr medizinisches Fachgebiet beherrschte und sich im Krankenhaus sicher bewegte, die in der Lage war, ihm auf dem ihnen beiden vertrauten Gebiet gegenuberzutreten. Und dagegen Denise Quantz, eine Frau, die Zeit hatte und unabhangig war, die zweifellos in der Gesellschaft eine Rolle spielte und die dennoch - so empfand er ein Mensch war, der ein Heim mit Warme und Heiterkeit erfullen konnte. O'Donnell fragte sich, welche Art Frau fur einen Mann besser sei: eine, die seiner Arbeit nahestand, oder eine andere unabhangige und geloste, mit Interessen, die uber seinen Alltag hinausgingen.

Seine Gedanken wurden von Denise unterbrochen. Zu ihm vorgebeugt sagte sie: »Sie werden es doch sicher nicht so schnell aufgeben, Dr. O'Donnell. Bitte lassen Sie das meinem Vater nicht durchgehen.«

Der alte Mann grollte: »Da gibt es nichts durchgehen zu lassen. Die Situation ist vollig klar. Jahrhundertelang hielt die Natur die Bevolkerung im Gleichgewicht. Wenn die Geburtsraten zu schnell anstiegen, sorgten Hungersnote fur den Ausgleich.«

Orden Brown warf ein: »Aber zum Teil wirkten dabei politische Grunde mit. Es war nicht immer nur die Natur.«

»Das will ich Ihnen in manchen Fallen zugestehen«, erwiderte Eustace Swayne mit einer lebhaften Handbewegung. »Aber die Ausmerzung der Schwachen hat nichts mit Politik zu tun.«

»Meinen Sie die Schwachen oder die Unglucklichen?« fragte O'Donnell. Schon, dachte er dabei, wenn Sie Gegenargumente horen wollen, sollen Sie sie haben.

»Ich meine, was ich sage - die Schwachen.« Die Stimme des alten Mannes hatte einen scharferen Ton, aber O'Donnell spurte, da? er an der Auseinandersetzung Vergnugen empfand. »Wenn die Pest oder eine Seuche auftrat, waren es die Schwachen, die zugrunde gingen, und die Starken uberlebten. Andere Krankheiten bewirkten das gleiche. Es wurde eine Norm aufrechterhalten - die Norm der Natur. Und deshalb waren es die Starken, die stets uberlebten. Sie waren es, die die nachste Generation zeugten.«

»Glauben Sie wirklich, Eustace, da? die Menschheit heute so degeneriert ist?« Amelia Brown stellte diese Frage, und O'Donnell sah, da? sie lachelte. Sie wei?, da? Swayne diesen Wortstreit genie?t, dachte er.

»Wir nahern uns der Degeneration«, antwortete der alte Mann, »zumindest in der westlichen Welt. Wir erhalten die Kruppel, die Schwachlinge, die von Krankheit Geschlagenen. Wir burden der Gesellschaft Lasten auf, nichtproduzierende Geschopfe - die Unfahigen, die nicht in der Lage sind, zum Allgemeinwohl beizutragen. Sagen Sie mir doch, welchem Zweck ein Sanatorium oder ein Heim fur unheilbare Kranke dient? Ich sage Ihnen, die Medizin erhalt heute Menschen, die man sterben lassen sollte. Aber wir helfen ihnen statt dessen, weiterzuleben, lassen sie Nachkommen haben und sich vermehren und ihre Nutzlosigkeit an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben.«

O'Donnell hielt ihm vor: »Die Beziehungen zwischen Krankheit und Vererbung sind bei weitem noch nicht geklart.«

»Starke liegt sowohl im Verstand als auch im Korper«, erwiderte Eustace Swayne heftig. »Erben Kinder nicht die geistigen Merkmale ihrer Eltern - samt ihren Schwachen?«

»Nicht immer.« Jetzt wurde die Diskussion zwischen dem alten Mann und O' Donnell gefuhrt. Die anderen lehnten sich zuruck und horten zu.

»Aber doch sehr haufig. Oder etwa nicht?«

O'Donnell lachelte. »Gewisse Anzeichen sprechen dafur, ja.«

Swayne schnaufte verachtlich. »Das ist einer der Grunde, weshalb wir so viele Irrenhauser haben. Und Patienten darin. Und Leute, die zum Psychiater laufen.«

»Der Grund dafur kann auch darin liegen, da? wir uns der geistigen Gesundheit bewu?ter geworden sind.«

Swayne imitierte ihn: »Der Grund kann auch darin liegen, da? wir mehr Menschen in die Welt setzen, die schwach sind. Schwach! Schwach! Schwach!«

Der alte Mann hatte die letzten Worte fast geschrien. Jetzt uberkam ihn ein Hustenanfall. Es ist wohl besser, wenn ich vorsichtig bin, dachte O'Donnell, wahrscheinlich hat er einen hohen Blutdruck.

Eustace Swayne starrte ihn an, als ob er die Worte laut ausgesprochen hatte. Der alte Mann nahm ein Schluckchen von seinem Kognak. Dann sagte er fast boshaft: »Schonen Sie mich nicht, mein junger arztlicher Freund. Ich werde mit allen Ihren Argumenten fertig, und noch mehr.«

O'Donnell entschlo? sich, die Diskussion weiterzufuhren, aber gema?igter. Ruhig und gelassen entgegnete er: »Ich glaube, da? Sie eines ubersehen, Mr. Swayne. Sie sagen, da? Krankheit und Gebrechen ausgleichende Krafte der Natur sind. Aber viele dieser Leiden sind nicht durch die naturliche Entwicklung, durch die Natur uber uns gekommen. Sie sind Ergebnisse der Umgebung des Menschen, der Bedingungen, die er geschaffen hat: schlechte Gesundheitspflege, mangelnde Hygiene, Elendsviertel, verpestete Luft. Das alles sind keine naturlichen Erscheinungen. Es sind Schopfungen des Menschen.«

»Sie sind ein Teil der Entwicklung, und die Entwicklung ist ein Teil der Natur. Alles zusammen schafft den Ausgleichsproze?.«

Bewundernd dachte O'Donnell, man kann den alten Burschen nicht leicht erschuttern. Aber er erkannte den schwachen Punkt in dessen Beweisfuhrung. Er antwortete: »Wenn Sie recht haben, dann ist die Medizin auch ein Teil des Ausgleichsprozesses.«

Swayne schnappte zuruck: »Wie wollen Sie das begrunden?«

»Weil die Medizin ein Teil der Entwicklung ist.« Trotz seiner guten Vorsatze spurte O'Donnell seinen Ton scharfer werden. »Weil jede Veranderung in der Umgebung, die der Mensch herbeifuhrte, neue Probleme schuf, denen die Medizin gegenubertreten und die sie zu losen versuchen mu?. Wir losen sie niemals vollstandig. Die Medizin hinkt immer etwas hinterher. Und wenn wir ein Problem gelost haben, ist inzwischen ein neues aufgetaucht.«

»Aber das sind Probleme der Medizin, nicht der Natur.« Swaynes Augen hatten einen bosartigen Schimmer angenommen. »Wenn man die Natur sich selbst uberlie?e, wurde sie ihre Probleme losen, ehe sie entstehen. Durch die naturliche Auswahl der Starksten.«

Вы читаете Letzte Diagnose
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату