Ein paarmal hatte Mike seinen Arm uber die Rucklehne von Vivians Platz gelegt, ihn leicht auf ihren Nacken gesenkt und mit den Fingerspitzen ihre Schulter beruhrt. Mit keiner Bewegung hatte sie erkennen lassen, da? es ihr unangenehm war.

Wahrend des Abendessens vor dem Theater hatten sie uber sich selbst gesprochen. Vivian fragte Mike uber seine Absichten aus, sich auf die Chirurgie zu spezialisieren, und er fragte sie, weshalb sie Krankenschwester werden wolle. »Ich wei? nicht, ob ich das erklaren kann, Mike«, antwortete sie, »aber seit ich mich erinnern kann, interessiere ich mich fur Krankenpflege, und ich will Schwester werden.« Sie erzahlte ihm, da? ihre Eltern sich ihrer Absicht zunachst widersetzt, aber als sie dann erkannten, wie fest entschlossen sie war, nachgegeben hatten. »Ich glaube, der wirkliche Grund war, da? ich selbst etwas leisten wollte, und Krankenpflege zog mich am meisten an.«

»Und ist das noch so?« fragte Seddons.

»Aber ja«, antwortete sie. »Gewi? fragt man sich hin und wieder, manchmal, wenn man mude ist und wenn man das alles im Krankenhaus sieht und an zu Hause denkt, ob es sich wirklich lohnt, ob es nicht etwas Leichteres gibt. Doch das geht wohl jedem so. Trotzdem, meistens bin ich meiner Sache ganz sicher.« Sie lachelte und fugte hinzu: »Ich bin eine sehr entschlossene Person und habe mich wirklich entschlossen, Krankenschwester zu werden.«

Ja, dachte er, du wei?t, was du willst, das glaube ich auch. Wahrend sie sich unterhielten und er Vivian verstohlen beobachtete, spurte er ihre innere Starke, ihre Charakterfestigkeit unter der Oberflache, die zunachst nur weibliche Sanftheit erkennen lie?. Wie schon vor ein oder zwei Tagen empfand Mike Seddons, da? sein Interesse fur Vivian wuchs, aber wieder hielt er sich warnend vor: Keine Bindungen! Vergi? nicht: alles, was du fuhlst, ist im Grunde biologisch bedingt.

Jetzt war es kurz vor Mitternacht, aber Vivian hatte sich verlangerten Ausgang geben lassen, und es bestand fur sie kein Grund, sich zu beeilen. Manche der alteren Pflegerinnen, die ihre Ausbildung unter einem streng spartanischen Regiment erhalten hatten, waren der Meinung, den Lernschwestern wurden heutzutage zu viele Freiheiten eingeraumt. Aber praktisch wurden sie selten mi?braucht.

Mike fa?te sie am Arm. »Wollen wir durch den Park gehen?«

Vivian lachte. »Das ist ein alter Vorschlag, den ich schon oft gehort habe.« Sie widersetzte sich aber nicht, als er sie durch ein Tor in den Park fuhrte. In der Dunkelheit erkannte sie Pappelreihen zu beiden Seiten und spurte weiches Gras unter ihren Fu?en.

»Ich habe ein ganzes Repertoire alter Vorschlage. Sie sind meine Spezialitat.« Er ergriff sie an der Hand. »Wollen Sie noch einen kennenlernen?«

»Welchen zum Beispiel?« Trotz ihrer Selbstsicherheit zitterte ihre Stimme leicht.

»Den zum Beispiel.« Mike blieb stehen, legte einen Arm um ihre Schultern und hob ihr Gesicht zu sich auf. Dann ku?te er sie mitten auf die Lippen.

Vivian spurte, wie ihr Herz schneller schlug, aber nicht so stark, da? sie die Situation nicht noch klar beurteilen konnte. Sollte sie sofort die Grenze ziehen oder ihn gewahren lassen?

Sie war sich durchaus bewu?t, da? es spater nicht mehr so leicht sein mochte, wenn sie jetzt nichts unternahm.

Vivian wu?te schon, da? sie Mike Seddons gern hatte und glaubte, da? sie ihn bald noch viel lieber haben wurde. Er war korperlich anziehend, und sie waren beide jung. Sie spurte, wie ihre Sinne sich begehrlich regten. Sie ku?ten sich wieder, und sie erwiderte den Druck seiner Lippen. Die Spitze seiner Zunge schob sich leicht zwischen ihre Lippen. Sie begegnete ihr mit der eigenen, und die Beruhrung versetzte sie in Verzuckung. Mike schlo? seine Arme enger um sie, und durch ihr dunnes Sommerkleid spurte sie den festen Druck seiner Oberschenkel. Seine Hande strichen ihr uber den Rucken. Die rechte glitt tiefer, streichelte sanft uber ihren Rock, dann immer kraftiger, zog sie mit jedem Streicheln fester an sich. Sie wu?te deutlich, wie durch ein zweites Ich, da? jetzt der Augenblick gekommen war, sich loszurei?en, falls sie noch zuruck wollte. Nur einen Augenblick noch, dachte sie, nur einen einzigen Augenblick langer.

Dann schien ihr plotzlich, als ob das ein Zwischenspiel sei, ein Sichloslosen von allem anderen um sie herum. Mit geschlossenen Augen kostete sie die Sekunden der Warme und Weichheit aus. In den letzten Monaten waren sie so selten gewesen. Seit sie ins Three Counties Hospital gekommen war, hatte sie so haufig Selbstbeherrschung und Selbstzucht uben mussen, ihre Gefuhle unterdruckt, ihre Tranen zuruckgedrangt. Wenn man jung und unerfahren und ein bi?chen verangstigt ist, fallt das manchmal schwer. So vieles war aufgetaucht - die Schocks bei der Begegnung mit Schmerz, Krankheit, Tod, die Obduktion -, und kein Sicherheitsventil hatte sich geoffnet, um den anwachsenden Druck abzulassen. Eine Krankenschwester, selbst eine Lernschwester, mu?te viele Leiden ansehen und standig bereit sein, zu helfen und Anteil zu nehmen. War es also unrecht, wenn sie nach diesem Augenblick der Zartlichkeit fur sich selbst griff? Einen Augenblick lang spurte sie, wahrend Mike sie umfa?t hielt, den gleichen Trost und die gleiche Erleichterung wie damals, als sie sich vor vielen Jahren als kleines Madchen in die Arme ihrer Mutter warf. Mike hatte seine Umarmung jetzt gelockert und hielt sie etwas von sich ab. »Du bist schon«, sagte er. Impulsiv vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Dann legte er seine Hand unter ihr Kinn, und ihre Lippen begegneten sich wieder. Sie fuhlte, wie er seine Hand sinken lie? und au?en uber dem Kleid uber ihre Bruste strich. Durch ihren ganzen Korper wallte der Wunsch zu lieben und geliebt zu werden, leidenschaftlich, ununterdruckbar.

Seine Hand tastete am Halsausschnitt ihres Kleides. Es lie? sich vorn offnen; ein Haken und eine Ose hielt es oben zusammen. Er tastete danach. Sie wehrte ab, atemlos. »Nicht, Mike! Bitte! Nicht!« Sie konnte sich nicht einmal selbst uberzeugen. Ihre Arme hielten ihn fest umschlungen. Er hatte das Kleid jetzt etwas geoffnet, und sie spurte, wie seine Hand sich vortastete, atmete dann unter der Beruhrung tief auf, als sie sich uber ihre junge, weiche Haut legte. Ein Schauder der Ekstase durchlief sie. Jetzt wu?te sie: es war zu spat, aufzuhoren. Sie wunschte ihn, begehrte ihn verzweifelt. Die Lippen an seinem Ohr, murmelte sie: »Mike, o Mike.«

»Liebling, Liebling, Vivian.« Er war ebenso erregt wie sie. Sie erkannte es an seinem atemlosen Flustern.

Einen Augenblick brach ihr gesunder Menschenverstand durch. »Mike, hier kommen Leute.«

»Gehen wir unter die Baume.« Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich.

Sie erreichten eine kleine, von Baumen und Buschen umsaumte Lichtung. Mike ku?te sie wieder, und leidenschaftlich erwiderte sie seine Kusse.

Plotzlich spurte sie einen rei?enden Schmerz. Er war zuerst so scharf, da? sie nicht sicher war, woher er kam. Dann spurte sie: er sa? im linken Knie. Unwillkurlich schrie sie auf.

»Was ist, Vivian? Was hast du?« Sie konnte erkennen, da? er uberrascht war und nicht wu?te, was er von ihrem Aufschrei halten sollte. Wahrscheinlich halt er es fur einen Trick, dachte sie. Madchen tun so etwas, um sich aus dieser Situation herauszuwinden.

Die erste Scharfe des Schmerzes hatte etwas nachgelassen, aber in Wellen trat er wieder auf. Sie sagte: »Es tut mir leid, es ist mein Knie, Mike. Ist hier irgendwo eine Bank?« Sie zuckte wieder unter dem Schmerz zusammen.

»Vivian«, sagte er, »du brauchst mir nichts vorzumachen. Wenn du zuruck ins Krankenhaus willst, dann sage es nur, ich bringe dich hin.«

»Bitte, glaube mir, Mike.« Sie ergriff seinen Arm. »Es ist mein Knie. Es tut schrecklich weh. Ich mu? mich setzen.«

»Komm mit.« Sie erkannte, da? er noch skeptisch war, aber er fuhrte sie unter den Baumen zuruck. In der Nahe stand eine Parkbank; darauf gingen sie zu.

Ab sie sich erholt hatte, sagte Vivian: »Es tut mir leid. Das tat ich nicht absichtlich.«

Zweifelnd fragte er: »Ganz bestimmt?«

Sie griff nach seiner Hand. »Mike - dort druben - ich wollte es. Aber dann das.« Wieder kam der Schmerz.

Er antwortete: »Verzeihung, Vivian, ich glaubte.«

»Ich wei?, was du glaubst«, sagte sie. »Aber das war es nicht. Wirklich nicht.«

»Also gut, dann sage mir, wo du Schmerzen hast.« Jetzt war er Arzt. Die Kusse unter den Baumen waren vergessen.

»Es ist mein Knie. Es kam ganz plotzlich. Ein furchtbarer Schmerz.«

»La? mich sehen.« E' kauerte vor ihr nieder. »Welches ist es?«

Sie zog ihren Rock hoch und deutete auf das linke Knie. Er betastete es sorgfaltig, der Griff seiner Hande

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