war zart. Im Augenblick schob Mike Seddons den Gedanken beiseite, da? er dieses Madchen noch vor kaum zwei Minuten im Arm gehalten und umworben hatte. Jetzt war er nuchtern; sachlich untersuchte er. Wie er es gelernt hatte, uberlegte er methodisch die Moglichkeiten.
Er stellte fest, da? Vivians Nylonstrumpfe seinen Tastsinn beeintrachtigten.
»Ziehe deinen Strumpf hinunter, Vivian!« Sie tat es, und seine untersuchenden Finger betasteten wieder behutsam ihr Knie. Wahrend sie ihn beobachtete, dachte sie: er ist gut, er wird ein guter Arzt. Menschen werden zu ihm kommen, damit er ihnen hilft, und er wird freundlich zu ihnen sein und alles fur sie tun, was er kann. Sich selbst sagte sie: das ist lacherlich. Wir kennen uns kaum. Dann kehrte einen Augenblick der Schmerz zuruck, und sie stohnte.
Mike fragte: »Ist das schon einmal aufgetreten?« Einen Augenblick lang uberkam sie die Lacherlichkeit der Situation, und sie kicherte.
»Was gibt es denn, Vivian?« Mike war uberrascht.
»Ich mu?te nur denken, vor ein oder zwei Minuten noch. Und jetzt benimmst du dich wie ein Arzt in seinem Sprechzimmer.«
»Hor zu, Kind.« Er war ernst. »Ist das schon einmal aufgetreten?«
Sie antwortete: »Ja, einmal. Es war aber nicht so schlimm wie jetzt.«
»Wie lange ist das her?«
Sie uberlegte. »Etwa einen Monat.«
»Bist du damit bei einem Arzt gewesen?« Jetzt war sein Ton ganz sachlich.
»Nein. Hatte ich das tun sollen?«
Ohne sich festzulegen, antwortete er: »Vielleicht.« Dann fugte er hinzu: »Morgen wirst du es aber auf jeden Fall tun. Am besten gehst du zu Dr. Grainger.«
»Mike, fehlt mir etwas?« Jetzt ergriff sie plotzlich eine unbestimmte Unruhe.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte er aufmunternd. »Aber du hast da eine kleine Schwellung, die nicht da sein sollte. Doch daruber soll Lucy Grainger entscheiden. Ich werde morgen fruh mit ihr sprechen. Nun mussen wir dich nach Hause schaffen.«
Die vorherige Stimmung war verflogen. Sie konnten sie nicht wiederfinden, jedenfalls nicht heute nacht, und beide wu?ten es.
Mike half ihr auf. Als er den Arm um sie legte, empfand er plotzlich den Wunsch, ihr zu helfen und sie zu beschutzen. Er fragte: »Glaubst du, da? du gehen kannst?« Vivian antwortete: »Ja, der Schmerz ist jetzt verschwunden.«
»Wir gehen nur bis zum Tor«, sagte er. »Dort konnen wir ein Taxi bekommen.« Weil sie bedruckt war, fugte er dann frohlich hinzu: »Mein Patient ist ein knauseriger Filz. Nicht einmal das Geld fur ein Taxi hat er geschickt.«
IX
»Schildern Sie mir die Einzelheiten.«
Uber ein binokulares Mikroskop gebeugt, grunzte Dr. Joseph Pearson die Worte Roger McNeil fast zu.
Der Assistenzarzt der Pathologie sah in seine Aufzeichnungen. »Der Patient war ein vierzigjahriger Mann, der mit Blinddarmentzundung bei uns aufgenommen wurde.« McNeil sa? Pearson an dem Schreibtisch im Arbeitszimmer der Pathologen gegenuber.
Pearson zog den Objekttrager mit dem Schnitt, den er untersucht hatte, aus dem Mikroskop und ersetzte ihn durch einen anderen. Er fragte: »Was hat die Untersuchung des Gewebes beim Kolloquium ergeben?«
McNeil, der das Kolloquium allein durchgefuhrt hatte, nachdem der entfernte Appendix aus dem Operationsraum heruntergekommen war, antwortete: »Im gro?en ganzen erschien es mir vollig normal.«
»Hm.« Pearson schob den Schnitt unter dem Mikroskop hin und her. »Einen Augenblick«, sagte er, »hier ist etwas.« Nach einer Pause zog er den zweiten Objekttrager heraus und untersuchte einen dritten. »Ja, hier ist es deutlich, eine akute Appendizitis. Sie beginnt gerade hier in diesem Schnitt. Wer war der Chirurg?«
»Dr. Bartlett«, antwortete McNeil.
Pearson nickte. »Er hat die Entzundung richtig und fruhzeitig erkannt. Sehen Sie es sich an.« Er raumte den Platz vor dem Mikroskop fur McNeil.
Wie es das Lehrprogramm des Krankenhauses von ihm verlangte, arbeitete Pearson mit dem Assistenzarzt zusammen und bemuhte sich gleichzeitig, mit den pathologischen Befunden fur die Chirurgie auf dem laufenden zu bleiben. Trotz aller Anstrengungen war beiden allerdings bewu?t, da? sie mit ihrer Arbeit weit im Ruckstand lagen. Die Schnitte, die sie jetzt untersuchten, stammten von einem Patienten, der vor mehreren Wochen schon operiert worden war. Der Patient war inzwischen langst entlassen, und im vorliegenden Fall konnte der Befund lediglich die ursprungliche Diagnose des Chirurgen bestatigen oder widerlegen. Hier hatte Gil Bartlett vollig recht gehabt, sich tatsachlich sogar Anerkennung verdient, da er die Erkrankung im Anfangsstadium erkannte, noch ehe der Patient viel zu leiden hatte.
»Also weiter.« Pearson setzte sich wieder vor das Mikroskop, und McNeil kehrte an die andere Seite des Schreibtisches zuruck.
Der Assistent schob einen Behalter mit Objekttragern vor Pearson, und wahrend der Pathologe ihn offnete, nahm McNeil sich ein neues Blatt mit Notizen vor. Wahrend sie arbeiteten, kam Bannister leise in das Zimmer. Nach einem fluchtigen Blick auf die beiden begann er, hinter ihnen in einem Aktenschrank Papiere abzulegen.
»Der Fall befindet sich noch in Behandlung«, erklarte McNeil. »Die Probe kam vor funf Tagen zu uns herunter, und sie warten oben auf unseren Befund.«
»Es ware besser, wenn Sie mir diese Falle zuerst vorlegten« sagte Pearson murrisch, »sonst bloken sie da oben wieder uber uns.«
McNeil war im Begriff zu antworten, da? er vor mehreren Wochen schon vorgeschlagen habe, das Arbeitsverfahren in diesem Sinne zu andern, Pearson aber darauf bestanden hatte, alle Proben in der Reihenfolge zu untersuchen, wie sie in der Pathologie eintrafen. Der Assistenzarzt unterdruckte diese Bemerkung jedoch. Was geht es mich an, dachte er. Er erklarte: »Eine funfundsechzigjahrige Frau. Die Probe stammt von einer Hautwucherung. Au?erlich erschien sie wie ein Leberfleck. Die Frage lautet: Ist es ein bosartiges Melanom?«
Pearson schob den ersten Schnitt unter das Mikroskop und bewegte ihn hin und her. Dann stellte er das Mikroskop auf die starkste Vergro?erung um und drehte am Okular. »Konnte sein.« Er nahm den zweiten Schnitt, dann zwei weitere. Danach lehnte er sich nachdrucklich zuruck. »Andererseits besteht die Moglichkeit eines Naevus coeruleus. Was halten Sie davon?«
McNeil setzte sich vor das Mikroskop. Die Wichtigkeit dieses Falles war ihm klar. Ein bosartiges Melanom ist eine heimtuckische, gefahrliche Hautgeschwulst. Ihre Zellen konnten sich schnell und morderisch im Korper verbreiten. Wenn es aus der kleinen bereits entfernten Probe eindeutig erkannt wurde, bedeutete es eine sofortige schwere Operation fur die Patientin. Ein Naevus coeruleus war dagegen ein vollig harmloses Muttermal. Es konnte fur den Rest ihres Lebens unbeachtet am Korper der Frau bleiben, ohne ihr zu schaden.
Aus seinen Studien wu?te McNeil, da? bosartige Melanome nicht haufig waren, er wu?te aber auch, da? ein Muttermal der Gattung Naevus coeruleus au?erst selten auftrat. Mathematisch gesehen bestand die Wahrscheinlichkeit, da? die vorliegende Geschwulst bosartig war. Aber hier ging es nicht um Mathematik, hier ging es um Pathologie in ihrer reinsten Form.
Wie er es gelernt hatte, verglich McNeil im Geist die Merkmale der beiden Geschwulstarten. Sie waren in bedruckender Weise ahnlich. Beide bestanden zum Teil aus Narben, zum Teil aus Zellgewebe und enthielten sehr viel Pigment. Ferner zeigten beide eine sehr klare Zellstruktur. McNeil war auch gelehrt worden, ehrlich zu sein. Nachdem er die Schnitte genau gepruft hatte, sagte er zu Pearson: »Ich wei? es nicht.« Er fugte hinzu: »Wie ist es mit fruheren Fallen? Konnen wir zum Vergleich welche heraussuchen? «
»Es wurde Jahre dauern, bis wir sie finden. Ich erinnere mich nicht mehr, wann ich den letzten Naevus coeruleus sah.« Pearson runzelte die Stirn. Seufzend sagte er: »Eines Tages mussen wir uns ein Krankheitsregister anlegen. Wenn wir dann auf zweifelhafte Falle wie diesen sto?en, konnen wir die Vergleichsfalle heraussuchen.«
»Das sagen Sie schon seit funf Jahren«, lie? sich Bannister trocken hinter ihnen vernehmen. Pearson fuhr herum: »Was machen Sie denn da?«
»Ich lege ab«, antwortete der erste Laborant kurz und bundig. »Eine Arbeit fur Buropersonal - wenn wir ausreichend Arbeitskrafte hatten.«
Und wahrscheinlich wurde sie dann besser verrichtet, dachte McNeil. Er wu?te gut, da? die Abteilung