mir. Ich habe gesagt, da? ich an diesem automatischen Apparat nicht interessiert bin und nicht beabsichtige, daruber zu diskutieren.« Er kam um seinen Schreibtisch, bis er unmittelbar vor Alexander stand, sein Gesicht dicht vor dem des jungen Mannes. »Und ich will Sie an noch etwas erinnern. Ich bin hier der Pathologe, und ich leite diese Abteilung. Ich habe nichts gegen Vorschlage, solange sie vernunftig sind. Aber halten Sie sich in Ihren Grenzen, verstanden?«

»Ja, Sir.« Gedemutigt und beschamt, aber ohne im geringsten zu verstehen, ging Alexander an seine Arbeit im Labor zuruck.

Mike Seddons war den ganzen Tag in Gedanken versunken gewesen. Ein paarmal mu?te er sich zusammenrei?en und sich bewu?t zwingen, seine Gedanken auf die Arbeit zu richten, die er gerade vor sich hatte. Einmal, wahrend einer Obduktion, mu?te McNeil ihn warnen. »Sie haben Ihre Hand gerade unter dem Stuck, das Sie schneiden. Wir legen Wert darauf, da? die Leute, die bei uns arbeiten, ihre Finger alle wieder gesund mitnehmen.«

Seddons anderte schnell seinen Griff. Es ware nicht das erstemal, da? ein unerfahrener Assistent sich mit einem der rasiermesserscharfen Instrumente in der Pathologie einen Finger samt dem Handschuh abhackte.

Dennoch schweifte seine Aufmerksamkeit immer wieder ab und wandte sich der standig auftauchenden Frage zu: Was versetzte ihn an Vivian so in Unruhe? Sie war anziehend und begehrenswert, und er war darauf versessen, so bald wie moglich mit ihr ins Bett zu gehen - daruber machte sich Mike Seddons keine Illusionen. Auch sie schien dazu bereit, wenn man annahm, da? der Schmerz in ihrem Knie am Abend vorher echt gewesen war. Und das glaubte er jetzt. Er hoffte, da? sie noch das gleiche wie gestern empfand, obwohl es dafur naturlich keine Garantie gab. Manche Madchen waren so wankelmutig. An einem Tag waren sie fur die exotischsten Intimitaten zu haben, und beim nachstenmal wiesen sie sogar die geringfugigste Annaherung zuruck und taten so, als ob die fruhere Begegnung nie stattgefunden habe.

Aber bei ihm und Vivian war mehr als lediglich Sex im Spiel. Mike Seddons begann sich zu wundern. Ganz gewi? hatte keine der fruheren Episoden - und deren hatte es einige gegeben - ihn so grundlich zum Nachdenken veranla?t, wie es jetzt der Fall war. Ein neuer Gedanke ging ihm durch den Kopf: Vielleicht wurde ihm alles andere klarer, wenn seine sexuellen Wunsche befriedigt waren. Er entschlo? sich, Vivian um eine weitere Verabredung zu bitten, und der heutige Abend war, vorausgesetzt, da? sie Zeit hatte dazu, so geeignet wie jede andere Stunde.

Vivian fand Mike Seddons Brief, nachdem sie ihre letzte Unterrichtsstunde des Tages hinter sich hatte und in die Schwesternunterkunft zuruckkam. Er war personlich abgeliefert worden und wartete im Postregal unter dem Buchstaben L auf sie. Er bat sie, ihn an diesem Abend um neun Uhr funfundvierzig im vierten Stock des Krankenhauses vor der Kinderabteilung zu treffen. Zunachst hatte sie nicht die Absicht, hinzugehen, weil sie keinen offiziellen Grund hatte, sich um diese Zeit im Krankenhaus aufzuhalten, und in Schwierigkeiten geraten konnte, wenn sie einer der Schulschwestern in die Hande lief. Aber dann stellte sie fest, da? sie doch gern gehen wollte, und um neun Uhr vierzig lief sie uber den holzernen Fu?weg, der vom Schwesternheim zum Hauptgebaude des Krankenhauses fuhrte.

Mike wartete auf sie. Er schlenderte dem Anschein nach in Gedanken versunken durch den Gang. Sobald er sie aber sah, winkte er sie zu einer Tur, und sie gingen hindurch. Hinter der Tur lag eine Treppe, die nach oben und nach unten fuhrte. Zu dieser Nachtstunde war sie still und verlassen, und sie wurden beizeiten gewarnt werden, falls jemand kam. Mike fuhrte sie an der Hand die halbe Treppe bis zum nachsten Absatz hinunter. Dann drehte er sich um, und es erschien ihr das Naturlichste in der Welt, da? sie sich in seine Arme legte.

Wahrend sie sich ku?ten, spurte sie, wie Mike sie fester umschlang, und plotzlich uberfiel sie der Zauber des gestrigen Abends wieder. In diesem Augenblick wu?te sie, warum sie so sehr gewunscht hatte, hierherzukommen. Dieser Mann mit dem ungebardigen roten Haar war ihr plotzlich unentbehrlich geworden. Sie wunschte ihn in jeder Weise, wunschte bei ihm zu sein, mit ihm zu sprechen, mit ihm zu lieben. Es war ein elektrisierendes, erregendes Gefuhl, das sie fruher nicht gekannt hatte. Er ku?te jetzt ihre Wangen, ihre Augen, ihre Ohren. Das Gesicht in ihrem Haar, flusterte er: »Vivian, Liebling, ich habe den ganzen Tag an dich gedacht. Ich konnte nichts anderes tun.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hande und sah sie an. »Wei?t du, was du tust?« Sie schuttelte den Kopf. »Du unterminierst mich.« Sie legte wieder ihre Arme um ihn. »Oh, Mike, Liebling.«

Es war hei? in dem Treppenhaus. Vivian spurte die Warme seines Korpers trotz ihrer eigenen Glut. Nun tasteten seine Hande suchend. Mit zitternder Stimme flusterte sie: »Mike, konnen wir nicht woanders hingehen?«

Sie spurte, wie seine Hande innehielten, und mu?te daruber lacheln. Er sagte: »Ich wohne zusammen mit Frank Worth in einem Zimmer. Aber heute abend ist er fort und kommt erst spat zuruck. Willst du es riskieren und mit dorthinkommen?« Sie zogerte. »Was passiert, wenn wir erwischt werden?«

»Wir werden beide aus dem Krankenhaus hinausgeworfen.« Er ku?te sie wieder. »Im Augenblick ist mir das egal.« Er ergriff ihre Hand. »Komm mit.«

Sie gingen eine Etage tiefer und durch einen Gang. Sie begegneten einem anderen Assistenzarzt, der zwar grinste, als er die beiden sah, aber nichts sagte. Dann uber eine weitere Treppe in einen weiteren Gang. Dieses Mal trat kurz vor ihnen eine wei?e Gestalt aus einer Tur. Vivians Herz setzte aus, als sie die Oberschwester erkannte. Aber die Oberschwester drehte sich nicht um und verschwand hinter einer anderen Tur, ehe sie an ihr vorbeikamen. Dann gelangten sie in einen engeren, stilleren Korridor mit geschlossenen Turen zu beiden Seiten. Unter manchen Turen schimmerte Licht hindurch, und hinter einer konnten sie Musik horen. Vivian erkannte Chopins e-moll-Konzert. Das Burlingtoner Symphonieorchester hatte es vor ein oder zwei Monaten gespielt.

»Hier herein.« Mike hatte eine Tur geoffnet, und sie traten schnell ein. Es war dunkel, aber sie konnte die Umrisse von Feldbetten und einem Sessel erkennen. Hinter sich horte sie das Schlo? zuschnappen, als Mike den Schlussel umdrehte.

Gierig, fordernd griffen sie nacheinander. Seine Finger waren an den Knopfen ihrer Schwesternuniform. Als sie zogerten, half sie ihm. Nun stand sie im Unterrock da. Einen Augenblick hielt er sie fest umfa?t. Gemeinsam genossen sie die Qual des Hinauszogerns. Dann bewegten sich seine Hande, hoben ihr sanft, zartlich und mit kostlicher Verhei?ung das Unterkleid uber den Kopf. Wahrend sie zu dem Bett trat, streifte sie ihre Schuhe ab. Hinter ihr war eine schnelle Bewegung, und dann war er bei ihr, halfen seine Hande ihr wieder. »Vivian, Liebling. Vivian.«

Sie horte ihn kaum. »Warte nicht, Mike, bitte warte nicht langer.« Sie spurte seinen Korper, der sich wild, verlangend gegen sie pre?te. Sie erwiderte ungezugelt, kampfte leidenschaftlich, um ihn fester, naher, tiefer an sich zu bringen.

Dann gab es plotzlich nichts mehr in der Welt, nichts, als einen Gipfel sturmischer Ekstase, rasend, sengend, schneidend, der naher, naher, naher kam.

Als sie nachher still nebeneinanderlagen, konnte Vivian die Musik wieder horen, die schwach uber den Gang klang. Es war wieder Chopin, diesmal die Etude in E-dur. Es erschien ihr seltsam, da? sie sich in diesem Augenblick bemuhte, eine Komposition wiederzuerkennen, aber die flie?ende, packende Melodie, die sie gedampft im Dunkeln horte, entsprach ihrer Stimmung in diesem Augenblick der Erfullung.

Mike beugte sich uber sie und ku?te sie sanft. »Vivian, Liebling, ich will dich heiraten.«

Leise fragte sie zuruck: »Bist du ganz sicher, Mike?«

Seine Worte kamen so unvermittelt, da? es ihn selbst uberraschte. Mike folgte einem Impuls, aber in seinem Innersten erkannte er plotzlich, da? es die Wahrheit war. Seine Absicht, Verpflichtungen auszuweichen, schien unsinnig und schal. Dies war eine Bindung, die er wollte und die alle anderen ausschlo?. Jetzt wurde ihm bewu?t, was ihn den ganzen Tag uber und fruher schon beunruhigt hatte. Von diesem Augenblick an beunruhigte es ihn nicht mehr. Typisch fur ihn antwortete er auf Vivians Frage scherzend: »Sicher bin ich sicher. Du etwa nicht?«

Wahrend sie die Arme um ihn legte, murmelte Vivian: »Ich bin mir noch nie so sicher gewesen.«

»He!« Mike machte sich los, stutzte sich auf einen Ellenbogen, und sah sie an. »Uber allem anderen habe ich eines vergessen. Was ist mit deinem Knie?«

Vivian lachelte ubermutig. »Heute abend hat es uns nicht gestort oder doch?«

Nachdem er sie wieder geku?t hatte, bat er: »Erzahle mir, was Lucy Grainger gesagt hat.«

»Sie hat nichts gesagt, sondern das Knie heute nachmittag durch Dr. Bell rontgen lassen, und will mich in ein paar Tagen zu sich rufen.«

»Ich bin erst wieder ruhig, wenn das geklart ist«, sagte Mike.

Vivian antwortete: »Sei nicht albern, Liebling. Wie kann so eine kleine Beule etwas Ernsthaftes sein?«

Вы читаете Letzte Diagnose
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату