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Boston, Mass. den 7. August Mr. H.N. Tomaselli, Verwaltungsdirektor Three Counties Hospital, Burlington, Pa. Sehr geehrter Mr. Tomaselli, seit meinem Besuch in Burlington vor einer Woche habe ich uber die Stellung in der Pathologie am Three Counties Hospital grundlich nachgedacht.

Ich schreibe Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, da? ich entschlossen bin, die Stellung unter den besprochenen Bedingungen anzunehmen, vorausgesetzt naturlich, da? Sie Ihre Ansicht inzwischen nicht geandert haben.

Sie sagten, da? Sie gro?en Wert darauflegten, da?, wer die Stellung auch ubernehme, so bald wie moglich mit der Arbeit beginnen solle. Da mich hier nichts weiter festhalt, kann ich nach Regelung einiger Kleinigkeiten am 15. August in Burlington antreten, das hei?t also, in genau einer Woche. Ich nehme an, da? Sie damit einverstanden sind.

Dr. O'Donnell erwahnte mir gegenuber Junggesellenapartments, die bald fertiggestellt sein und in der Nahe des Krankenhauses liegen sollen. Ich wu?te gern, ob Ihnen daruber Naheres bekannt ist und wurde es, falls ja, gern erfahren. Inzwischen sind Sie vielleicht so gutig, mir in einem Hotel fur den 14. ein Zimmer reservieren zu lassen.

Hinsichtlich meiner Arbeit an dem Krankenhaus besteht ein Punkt, der meiner Ansicht nach nicht vollig geklart wurde. Ich weise hier in der Hoffnung darauf hin, da? Sie vielleicht in der Lage sind, mit Dr. Pearson noch vor meiner Ankunft daruber zu sprechen.

Ich bin der Ansicht, da? es sowohl fur das Krankenhaus als auch fur mich selbst vorteilhaft ist, wenn ich einen klar festgelegten Verantwortungsbereich ubernehme, in dem ich im Rahmen angemessener Grenzen sowohl hinsichtlich der taglich anfallenden Arbeit als auch bei der Durchfuhrung von Umstellungen in der Organisation und der Technik, die selbstverstandlich von Zeit zu Zeit immer notwendig sind, freie Hand habe.

Meine eigenen Wunsche in dieser Hinsicht sind, innerhalb der pathologischen Abteilung die unmittelbare Verantwortung fur die Serologie, die Himatologie und Biochemie zu ubernehmen, wenn ich auch selbstverstandlich Dr. Pearson seinen Wunschen entsprechend in der pathologischen Anatomie und auf anderen Gebieten jederzeit zur Verfugung stehen wurde. Diesen Punkt schneide ich, wie gesagt, in der Hoffnung an, da? Sie und Dr. Pearson vor dem 15. August daruber entscheiden konnen. Seien Sie bitte versichert, da? ich jederzeit bemuht sein werde, in vollem Umfang mit Dr. Pearson zusammenzuarbeiten und dem Three Counties Hospital nach besten Kraften zu dienen.

Ihr sehr ergebener Dr. David Coleman.

Coleman las den sauber getippten Brief noch einmal durch, schob ihn in einen Umschlag und klebte ihn zu. Dann setzte er sich an seine Reisemaschine und tippte einen gleichartigen, wenn auch etwas kurzeren Brief an Dr. Pearson.

David Coleman verlie? das moblierte Apartment, das er mit kurzfristigem Mietvertrag fur die wenigen Monate, die er in Boston war, gemietet hatte, und brachte beide Briefe zum Briefkasten. Er dachte daruber nach, was er geschrieben hatte. Er war sich immer noch nicht sicher, warum er dem Three Counties Hospital gegenuber den sieben anderen Stellungen, die ihm in den letzten Wochen angeboten worden waren, den Vorzug gegeben hatte. Gewi? wurde sie nicht am besten bezahlt; vom finanziellen Standpunkt aus gesehen, stand sie auf der unteren Halfte der Liste. Three Counties Hospital war auch kein namhaftes Krankenhaus. Zwei andere medizinische Institute, die ihm ebenfalls ein Angebot gemacht hatten, besa?en internationalen Ruf. Dagegen war das Three Counties Hospital uber seine unmittelbare Umgebung hinaus kaum bekannt.

Warum also? War es, weil er furchtete, in einem gro?eren Institut unterzugehen, dort nicht zur Geltung zu kommen? Kaum, denn seine bisherige Laufbahn zeigte schon, da? er sich in dieser Art Umgebung durchzusetzen wu?te. War es, weil er das Gefuhl hatte, da? er an einem kleineren Krankenhaus gro?ere Freiheit zu Forschungsarbeiten besitzen wurde? Er hoffte zuversichtlich, Gelegenheit zur Forschung zu finden, aber wenn das sein dringlichster Wunsch gewesen ware, hatte er ein Forschungsinstitut wahlen konnen - seine Liste hatte eines enthalten - und alles andere lassen. War es der Reiz der Aufgabe, die ihn zu seiner Wahl veranla?te? Vielleicht. In der pathologischen Abteilung des Three Counties Hospitals war zweifellos vieles unzulanglich. Das hatte er in den zwei kurzen Tagen erkannt, die er in der vorigen Woche dort zugebracht hatte, als er der telefonischen Einladung des Verwaltungsdirektors zu einem Besuch des Krankenhauses folgte, um sich dort umzusehen. Und die Zusammenarbeit mit Dr. Pearson wurde nicht leicht werden. Er hatte die Ablehnung des alten Mannes gespurt, als er ihn kennenlernte, und der Verwaltungsdirektor hatte auf Colemans Fragen zugegeben, da? Pearson in dem Ruf stand, es sei schwierig, mit ihm auszukommen.

War es also die Herausforderung der Aufgabe? War das wirklich der Grund, weshalb er sich fur das Three Counties Hospital entschied? Wie? Oder lag der eigentliche Grund woanders? Stand noch etwas ganz anderes dahinter? War es Selbstkasteiung? War es immer noch das alte Gespenst, das ihn schon so lange verfolgte?

David Coleman hatte schon lange den Verdacht, sein Hochmut sei sein starkster Charakterzug. Und darin sah er den Fehler, den er am meisten furchtete und ha?te. Seiner eigenen Ansicht nach war er nie in der Lage gewesen, seinen Hochmut zu besiegen. Er unterdruckte ihn, lehnte ihn ab, aber immer wieder brach er durch - dem Anschein nach stark und unzerstorbar.

Zum gro?ten Teil beruhte sein Hochmut auf dem Bewu?tsein seiner geistigen Uberlegenheit. In Gesellschaft fuhlte er sich haufig uber die anderen geistig weit erhaben, im allgemeinen, weil er es tatsachlich war. Und intellektuell hatte ihm alles, was er bisher in seinem Leben getan hatte, bewiesen, da? er recht hatte.

Solange sich David Coleman erinnern konnte, war es ihm leicht gefallen, Wissen zu erwerben. Lernen war so einfach wie atmen gewesen. Auf der Volksschule, der Oberschule, dem College, der medizinischen Fakultat hatte er die anderen weit uberragt und die hochsten Auszeichnungen fast als Selbstverstandlichkeit hingenommen. Sein Verstand war gleichzeitig aufnahmefahig, analytisch und begreifend. Und hochmutig.

In jungen Jahren auf der Oberschule war ihm sein Hochmut zum erstenmal bewu?t geworden. Wie jeder, der von Natur aus brillant begabt ist, betrachteten seine Mitschuler ihn zunachst mit Argwohn. Als er dann nicht versuchte, das Bewu?tsein seiner geistigen Uberlegenheit zu verbergen, verwandelte sich der Argwohn in Abneigung und schlie?lich in Ha?.

Das hatte er damals gespurt, sich aber nicht bewu?t darum gekummert, bis der Schulleiter, der selbst ein brillanter Geist und verstandiger Mann war, ihn eines Tages zur Seite nahm. Noch heute erinnerte sich David Coleman genau daran, was er ihm gesagt hatte.

»Ich glaube, du bist erwachsen genug, um mich zu verstehen. Darum spreche ich es offen aus. Du hast in diesen vier Mauern au?er mir nicht einen einzigen Freund.«

Zunachst hatte er das nicht geglaubt. Dann aber, vor allem weil er im hochsten Grade ehrlich war, hatte er sich selbst zugegeben, da? es stimmte.

Weiter hatte der Schulleiter gesagt: »Du hast einen brillanten Kopf. Das wei?t du, und es gibt auch keinen Grund, weshalb du es nicht wissen solltest. In der Zukunft kannst du alles werden, was du willst. Du besitzt einen bemerkenswert uberlegenen Verstand, Coleman, nach meinen Erfahrungen mochte ich sagen, einen einzigartigen. Doch ich warne dich: wenn du mit anderen Menschen zusammen leben willst, mu?t du dich manchmal weniger uberlegen zeigen, als du bist.«

Es war gewagt, das einem jungen, beeinflu?baren Menschen zu sagen. Aber der Lehrer hatte seinen Schuler nicht unterschatzt. Coleman ging mit dem Rat fort, verdaute ihn, analysierte ihn und endete damit, da? er sich selbst verachtete.

Von da an arbeitete er noch angestrengter als bisher - um sich nach einem uberlegten Programm, das an Selbstkasteiung grenzte, zu rehabilitieren. Er fing mit dem Sport an. Solange David Coleman zuruckdenken konnte, hatte er eine Abneigung gegen Sport jeder Art empfunden. Bisher hatte er sich auf der Schule nie am Sport beteiligt und neigte dazu, Leute, die zu Sportveranstaltungen gingen und sich dort hinrei?en lie?en, begeistert zu jubeln, fur ziemlich stumpfsinnige Figuren zu halten. Von da an beteiligte er sich aber selbst aktiv - Rugby im Winter, Baseball im Sommer. Trotz seiner ursprunglichen Einstellung wurde er ein Konner. Auf dem College fand er sich in den ersten Mannschaften wieder. Und wenn er nicht selbst mitspielte, nahm er auf der Oberschule und auf dem College an jedem Spiel als Zuschauer teil und jubelte so laut wie die anderen. Allerdings war er nie fahig, sein Gefuhl der Gleichgultigkeit beim Spiel ganz zu uberwinden, wenn er es auch sorgfaltig fur sich behielt. Und er jubelte nie ohne das innere Unbehagen, da? er sich kindisch auffuhre. Aus diesem Grund glaubte er auch, da? er seinen Hochmut zwar gelegentlich, aber nie vollig uberwunden habe.

Seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen nahmen weitgehend die gleiche Entwicklung. Fruher hatte er sich bei einer Begegnung mit jemand, den er geistig fur minderwertig hielt, nie bemuht, seine Langeweile oder seine Interessenlosigkeit zu verbergen. Aber jetzt gab er sich in Befolgung seines Planes die gro?te Muhe, solchen

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