Pearson schuttelte den Kopf. Lucy fuhr fort: »Der Fall beunruhigt mich etwas. Ich vermute einen Knochentumor und habe fur ubermorgen eine Probeexcision angesetzt. Die Gewebeprobe kommt naturlich zu Ihnen hinunter, aber ich dachte, Sie wurden sich das Madchen vielleicht vorher auch einmal ansehen.«
»Gewi?. Wo ist sie?«
»Ich habe sie zur Beobachtung aufgenommen«, antwortete Lucy. »Sie liegt auf dem zweiten Stock. Wollen Sie es jetzt gleich tun?«
Pearson nickte. »Warum nicht?« Zusammen gingen sie in die Haupthalle zu dem Personenaufzug.
Lucys Bitte an Pearson war nicht ungewohnlich. In Fallen dieser Art, bei denen die Moglichkeit der Bosartigkeit bestand, war es der Pathologe, der das letzte Urteil uber den Zustand des Patienten abgab. Bei der Diagnose jeder Art von Tumor wirkten viele sich manchmal widersprechende Faktoren mit, die der Pathologe gegeneinander abwagen mu?te. Aber die Entscheidung uber einen Knochentumor war noch schwieriger als in anderen Fallen, und Lucy wu?te das. Folglich war es fur den Pathologen ein Vorteil, an einem derartigen Fall von Anfang an mitzuarbeiten. Auf diese Weise kannte er den Patienten, konnte die Symptome uberprufen und die Ansicht des Rontgenarztes einholen. Das alles trug zu seinem eigenen Wissen bei und half ihm bei der Diagnose.
Als sie in den Aufzug traten, blieb Pearson stehen und stohnte. Er legte eine Hand auf den Rucken.
Lucy druckte auf den Knopf zum zweiten Stock. Wahrend die Turen zuglitten, fragte sie: »Haben Sie Ruckenschmerzen?«
»Manchmal.« Muhsam richtete Pearson sich auf. »Wahrscheinlich von dem zu langen Uber-dem- Mikroskop-Hocken.«
Sie musterte ihn besorgt. »Warum kommen Sie nicht zu mir in die Sprechstunde, damit ich es mir ansehe?«
Er puffte an seiner Zigarre und grinste dann. »Das will ich Ihnen gern sagen, Lucy. Ich kann mir Ihre Honorare nicht leisten.«
Die Turen offneten sich, und sie traten auf den zweiten Stock hinaus. Als sie durch den Gang gingen, widersprach sie: »Sie behandele ich doch ohne Honorar. Ich halte sowieso nichts davon, Kollegen Rechnungen zu schicken.«
Er warf ihr einen amusierten Blick zu. »Sie sind also nicht so wie die Psychiater?«
»Nein, wirklich nicht.« Sie lachte. »Die schicken einem sogar eine Rechnung, wenn man mit Ihnen die Sprechstundenraume teilt, wie ich gehort habe.«
»Das stimmt.« Lucy hatte Pearson selten so ausgeglichen und gelassen gesehen. »Sie behaupten, das gehore zu ihrer Behandlung.«
»Hier ist es.« Sie offnete eine Tur, und Pearson trat zuerst ein. Sie folgte ihm und schlo? die Tur hinter sich.
Es war ein kleines Krankenzimmer, in dem nur zwei Patienten lagen. Lucy gru?te eine Frau in dem Bett neben der Tur, trat dann zu dem zweiten Bett, in dem Vivian lag und von der Zeitschrift aufblickte, in der sie gelesen hatte.
»Vivian, dies ist Dr. Pearson.«
»Hallo, Vivian«, sagte Pearson abwesend, wahrend er das Krankenblatt nahm, das Lucy ihm reichte.
Hoflich antwortete Vivian: »Guten Tag, Doktor.«
Fur Vivian war es immer noch ratselhaft, weshalb sie uberhaupt hier lag. Sie hatte wieder Schmerzen in ihrem Knie gehabt, das stimmte, aber es schien ihr nicht wichtig genug, um deshalb im Bett zu liegen. Allerdings hatte sie auch nicht viel dagegen einzuwenden. In gewisser Weise war ihr die Unterbrechung in dem Schwesternkursus willkommen, und es war eine angenehme Abwechslung, lesen und sich ausruhen zu konnen. Mike hatte auch gerade angerufen. Er schien besorgt, nachdem er gehort hatte, was geschehen war, und hatte versprochen, spater, sobald er konne, zu ihr zu kommen.
Lucy zog den Vorhang zwischen den beiden Betten vor, und jetzt sagte Pearson. »Zeigen Sie mir bitte Ihre beiden Knie.«
Vivian schlug die Bettdecke zuruck und zog den Saum ihres Nachthemdes hoch. Pearson legte das Krankenblatt hin und beugte sich zur Untersuchung vor.
Lucy beobachtete, wie die kurzen, plumpen Finger des Pathologen vorsichtig ihre Beine betasteten.
Sie dachte: Fur jemand, der zu anderen Leuten so grob sein kann, ist er uberraschend zart. Einmal stohnte sie unter dem Druck seiner Finger auf. Pearson blickte auf. »Hier tut es Ihnen weh, wie?« Vivian nickte.
»In Dr. Graingers Aufzeichnungen steht, da? Sie sich vor etwa funf Monaten das Knie angeschlagen haben?« fragte er.
»Ja, Doktor.« Vivian gab sich gro?e Muhe, die Tatsachen wahrheitsgema? zu berichten. »Zunachst konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Erst als ich genau nachdachte. Ich stie? damit gegen den Boden eines Schwimmbeckens. Vielleicht bin ich zu tief getaucht.«
Pearson fragte: »Hat das damals sehr weh getan?«
»Ja, aber die Schmerzen vergingen bald, und spater dachte ich nicht mehr daran. Es fiel mir jetzt erst wieder ein.«
»Gut, Vivian.« Er winkte Lucy, die die Bettdecke wieder heraufzog.
Er fragte Lucy: »Haben Sie die Rontgenaufnahmen?«
»Hier sind sie.« Sie reichte ihm einen gro?en, braunen Umschlag. »Es sind zwei Serien. Die erste Serie zeigt gar nichts.
Dann machten wir weichere Aufnahmen, um die Muskeln erkennen zu konnen, und diese Aufnahmen zeigen eine Veranderung am Knochen.«
Vivian horte dem Gesprach interessiert zu. Sie fuhlte sich plotzlich wichtig, weil sie in seinem Mittelpunkt stand.
Pearson und Lucy waren zum Fenster getreten, und der Pathologe hielt die Rontgenaufnahmen gegen das Licht. Als er den zweiten Satz studierte, deutete Lucy: »Dort. Sehen Sie?« Gemeinsam betrachteten sie den Film.
»Ah ja.« Pearson grunzte und reichte ihr die Filme zuruck. Seine Einstellung gegenuber Rontgenaufnahmen wurde immer durch die Vorbehalte eines Spezialisten bestimmt, der sich auf das unbekannte Gebiet eines anderen vorwagt. Er sagte: »Schatten aus dem Land der Schatten. Was meint die Rontgenabteilung dazu?«
»Ralph Bell bestatigt die Veranderung«, antwortete Lucy. »Aber er kann nicht genug sehen, um eine Diagnose zu stellen. Er ist auch der Ansicht, da? ich eine Probeexcision vornehmen soll.«
Pearson drehte sich wieder der Patientin zu: »Wissen Sie, was eine Probeexcision ist, Vivian?«
»Ich habe eine ungefahre Vorstellung« - das Madchen zogerte -, »aber ganz genau wei? ich es nicht.«
»Das haben Sie in Ihrem Schwesternkursus wohl noch nicht durchgenommen, wie?«
Sie schuttelte den Kopf.
Pearson erklarte: »Nun, Dr. Grainger beabsichtigt, ein kleines Stuck Knochengewebe unter Ihrem Knie herauszunehmen, gerade dort, wo etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Das kommt dann zu mir herunter, und ich werde es untersuchen.«
Vivian fragte: »Und konnen Sie daraus sehen, was damit ist?«
»Meistens kann ich das.« Er wollte gehen, zogerte dann. »Treiben Sie viel Sport?«
»O ja, Doktor. Tennis, Schwimmen, Skilaufen.« Sie fugte hinzu: »Ich reite auch sehr gern. In Oregon bin ich sehr viel geritten.«
»So, in Oregon«, antwortete er nachdenklich, und dann, wahrend er sich abwendete: »Nun gut, Vivian, das ist im Augenblick alles.«
Lucy lachelte. »Ich komme spater wieder.« Sie nahm das Krankenblatt und die Rontgenfilme und folgte Pearson hinaus.
Als sich die Tur schlo?, empfand Vivian zum erstenmal einen ahnungsvollen, furchtsamen Schauer.
Als sie ein Stuck den Gang hinuntergegangen waren, fragte Lucy: »Was meinen Sie dazu, Joe?«
»Es kann ein Knochentumor sein.« Pearson sagte es langsam, nachdenklich.
»Bosartig?«
»Das ist moglich.«
Sie kamen zu den Fahrstuhlen und blieben stehen. Lucy sagte: »Wenn er bosartig ist, mu? ich das Bein amputieren.«