Leuten gegenuber herzlich zu sein. Die Folge war, da? er sich auf dem College den Ruf eines wohlwollenden Weisen erwarb. Bei seinen Mitschulern, die beim Studium auf Schwierigkeiten stie?en, wurde es zu einer standigen Redensart: »Fragen wir doch David Coleman. Er kann uns bestimmt helfen.« Und das tat er immer. Bei jedem normal denkenden Menschen waren durch diesen Proze? seine Empfindungen gegenuber seinen Mitmenschen freundlicher geworden. Zeit und Erfahrung hatten ihm Mitgefuhl mit jenen gelehrt, die weniger begabt waren als er selbst. Coleman war sich dessen aber nicht sicher. Innerlich entdeckte er, da? er fur geistige Unzulanglichkeit immer noch die alte Verachtung empfand. Er verbarg sie, bekampfte sie durch eiserne Disziplin und gutes Theaterspielen, schien sie aber nie ganz zu verlieren.
Er hatte sich der Medizin zugewandt. Einerseits, weil sein inzwischen gestorbener Vater Landarzt gewesen war, und andererseits, weil er schon immer Arzt werden wollte. Als er aber vor der Wahl eines Spezialgebietes stand, hatte er sich fur die Pathologie entschlossen, weil sie allgemein als das wenigst glanzvolle Spezialgebiet galt. Dieser Schritt war ein Teil seines eigenen uberlegten Programms, seinen immer neu auftauchenden Hochmut zu schlagen.
Eine Zeitlang glaubte er, das sei ihm gelungen. Die Pathologie ist zeitweise ein einsames Gebiet, denn sie liegt fern von der Erregung und den Einflussen, die der unmittelbare Kontakt mit dem Patienten mit sich bringt. Spater aber, als sein Interesse und sein Wissen wuchsen, entdeckte er, da? die alte Verachtung fur jene, die weniger als er von den verborgenen Geheimnissen wu?ten, die man mit einem guten Mikroskop aufdecken konnte, wieder auftauchte. Nicht im gleichen Ma? allerdings, weil er in der Medizin unvermeidlicherweise Kopfen begegnete, die seinem ebenburtig waren. Und noch spater fand er, da? er sich gelockerter geben, auf einen Teil der eisernen Selbstdisziplin verzichten konnte, die er sich selbst auferlegt hatte. Er traf nach wie vor Menschen, die er fur dumm hielt - selbst in der Medizin fand er sie. Aber er zeigte es nie und beobachtete gelegentlich sogar, da? der Umgang mit diesen Leuten ihn weniger storte. Mit dieser Entspannung begann er sich selbst zu fragen, ob er seinen alten Feind am Ende nicht doch uberwunden habe.
Dennoch blieb er weiter vorsichtig. Ein Programm uberlegter Selbstberichtigung, das funfzehn Jahre befolgt worden war, konnte man nicht so leicht von heute auf morgen aufgeben. Und manchmal fand er es schwierig, zu unterscheiden, ob seine Motive auf seiner freien Entscheidung beruhten oder auf der Gewohnheit, in Sack und Asche zu gehen, die er so lange und so geduldig befolgt hatte. Daher die Fragen an sich selbst, weshalb er sich fur das Three Counties Hospital entschlossen hatte. Hatte er sich dafur entschieden, weil er das wirklich wollte: ein mittelgro?es, zweitklassiges Krankenhaus ohne Ruf und Ansehen? Oder war es das alte, unbewu?te Gefuhl, da? sein Hochmut dort am meisten leiden musse? Als er die beiden Briefe in den Kasten warf, wu?te er, da? diese Fragen nur von der Zeit beantwortet werden konnten.
Auf der siebten Etage des Burlington Medical Arts Building zog sich Elizabeth Alexander in dem Untersuchungsraum, der an Dr. Dornbergers Sprechzimmer grenzte, wieder an. Wahrend der letzten halben Stunde hatte Charles Dornberger sie in seiner ublichen Weise grundlich untersucht und war jetzt an seinen Schreibtisch zuruckgekehrt. Durch die halb offenstehende Tur horte sie ihn sagen: »Kommen Sie heruber und setzen Sie sich, wenn Sie fertig sind, Mrs. Alexander.« Sie streifte ihren Unterrock uber den Kopf und antwortete frohlich: »Ich bin gleich soweit, Doktor.«
Dornberger lachelte. Er hatte Patientinnen gern, die sich uber ihre Schwangerschaft offensichtlich freuten, und das traf fur Elizabeth Alexander zu. Sie wird eine gute, vernunftige Mutter sein, dachte er. Sie war eine anziehende, junge Frau, nicht hubsch im ublichen Sinn, aber mit einem lebhaften Temperament, das diesen Mangel mehr als wettmachte. Er blickte in die Notizen, die er sich fruher gemacht hatte. Sie war dreiundzwanzig. Als er noch junger war, sorgte er aus Vorsicht immer dafur, da? eine Schwester anwesend war, wenn er Patientinnen untersuchte. Er hatte von Arzten gehort, die das versaumt hatten und gegen die spater von hysterischen Patientinnen ha?liche Anschuldigungen vorgebracht worden waren. Heutzutage tat er das allerdings selten. Das zum mindesten war einer der Vorteile des Altseins.
Er rief ihr zu: »Nun, ich bin der Meinung, da? Sie ein gesundes, normales Kind bekommen werden. Es scheinen keinerlei Komplikationen vorzuliegen.«
»Das hat Dr. Crossan auch gesagt.« Sie schlo? den Gurtel ihres grunbedruckten Sommerkleides, trat durch die Tur aus dem angrenzenden Zimmer und setzte sich in den Sessel neben dem Schreibtisch.
Dornberger prufte wieder seine Notizen. »Das war Ihr Arzt in Chikago, nicht wahr?«
»Ja.«
»Hatten Sie ihn bei Ihrem ersten Kind?«
»Ja.« Elizabeth offnete ihre Handtasche und nahm einen Zettel heraus. »Ich habe hier seine Adresse.«
»Danke. Ich werde ihm wegen seiner Befunde und Behandlung schreiben.« Dornberger klammerte den Zettel an seine Notizen. Nuchtern fragte er: »Woran starb Ihr erstes Kind, Mrs. Alexander?«
»An einer Bronchitis, als sie einen Monat alt war«, antwortete Elizabeth in normalem Ton. Vor einem Jahr ware ihr die Antwort noch schwergefallen, und sie hatte mit den Tranen kampfen mussen. Jetzt, da sie wieder ein Kind erwartete, erschien ihr der Verlust leichter zu ertragen. Aber dieses Mal wurde ihr Kind leben, dazu war sie fest entschlossen.
Dr. Dornberger fragte: »War die Geburt normal?«
»Ja«, antwortete sie.
Er blickte in seine Notizen. Um von der Trauer abzulenken, die seine Fragen geweckt haben mochten, fuhr er freundlich fort: »Sie sind gerade erst nach Burlington gekommen, wenn ich richtig informiert bin?«
»Ja«, antwortete sie frohlich und fugte hinzu: »Mein Mann arbeitet im Three Counties Hospital.«
»Ich wei? es. Dr. Pearson hat es mir gesagt.« Wahrend er schrieb, fragte er: »Wie gefallt es ihm denn bei uns?«
Elizabeth uberlegte. »John hat noch nicht viel daruber gesagt, aber ich glaube, es gefallt ihm gut. Seine Arbeit interessiert ihn sehr.«
Dornberger loschte das, was er geschrieben hatte, ab. »Das erleichtert es immer, besonders in der Pathologie.« Er blickte auf und lachelte. »Wir anderen hangen sehr von der Arbeit in den Labors ab.«
Es entstand eine kurze Pause, in der der Arzt eine Schublade seines Schreibtisches offnete und einen Formularblock herauszog.
Dann sagte er: »Da wir gerade von den Labors reden, wir mussen Sie zu einer Blutuntersuchung schicken.«
Wahrend er das Formular ausfullte, antwortete Elizabeth: »Ich wollte Ihnen noch sagen, da? ich Rh-negativ bin, mein Mann aber Rh-positiv ist, Doktor.«
Er lachte. »Daran kann man erkennen, da? Ihr Mann medizinischer Laborant ist. Wir werden Ihr Blut sehr grundlich untersuchen.« Er ri? das Formular ab und reichte es ihr. »Damit konnen Sie jederzeit in die Abteilung fur ambulante Patienten ins Krankenhaus gehen.«
»Danke, Doktor.« Sie faltete das Formular zusammen und schob es in ihre Handtasche.
Ehe Dornberger das Gesprach beendete, zogerte er. Wie den meisten Arzten war ihm bewu?t, da? Patienten sich haufig unvollstandige oder falsche Vorstellungen von medizinischen Problemen machen. Bei seinen eigenen Patienten bemuhte er sich in diesen Fallen im allgemeinen sehr darum, sie aufzuklaren, selbst wenn es ihm Zeit kostete. Mrs. Alexander hatte ihr erstes Kind verloren. Deshalb war ihre zweite Schwangerschaft fur sie doppelt wichtig. Es war Dornbergers Aufgabe, dafur zu sorgen, da? sie sich nicht angstigte.
Sie hatte den Rh-Faktor genannt, und offensichtlich machte sie sich Gedanken daruber. Er bezweifelte, da? sie wirklich verstand, was es damit auf sich hatte. Er entschlo? sich, sich die Zeit zu nehmen, sie zu beruhigen.
»Mrs. Alexander«, begann er, »ich mochte Ihnen ganz eindeutig klarlegen, da? es sich auf Ihr Kind nicht notwendigerweise nachteilig auswirken mu?, da? Sie und Ihr Mann Blutgruppen mit verschiedenem Rh-Faktor haben. Verstehen Sie mich?«
»Ich glaube ja, Doktor.« Er erkannte, da? er recht hatte. Ihre Stimme lie? eine Spur Zweifel erkennen.
Geduldig fragte er: »Wissen Sie genau, was mit den Ausdrucken Rh-positiv und Rh-negativ bezeichnet wird?«
Sie zogerte. »Nun, eigentlich nicht, jedenfalls nicht ganz genau.«
Das hatte er erwartet. Er uberlegte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich will es Ihnen so einfach erklaren, wie ich kann.
Wir alle besitzen in unserem Blut bestimmte Faktoren, und von dem Ausdruck >Faktor< kann man sagen, er sei eine andere Bezeichnung fur >Bestandteil<.«