Pearson nickte kngsam. Er sah plotzlich sehr alt aus. »Ja«, antwortete er, »daran dachte ich auch gerade.«
XI
Die Viscount legte sich weich gegen den Wind und begann, an Hohe zu verlieren. Fahrgestell und Landeklappen waren ausgefahren, und sie flog genau Landebahn Nr. 1 des Flughafens Burlington an. Wahrend Dr. Kent O'Donnell das naher kommende Flugzeug von dem Terrassencafe aus beobachtete, uberlegte er fluchtig, da? Luftfahrt und Medizin vieles gemeinsam hatten. Beide fu?ten auf den Erkenntnissen der Wissenschaften, beide veranderten das Leben in der Welt und beseitigten uberkommene Vorstellungen. Beide bewegten sich unbekannten Horizonten und einer nur dunkel erahnten Zukunft entgegen. Es gab noch eine Parallele. Der Luftfahrt fiel es heute schwer, mit ihrer eigenen Entwicklung Schritt zu halten. Ein Flugzeugkonstrukteur, den er kannte, hatte ihm kurzlich gesagt: »Wenn ein Flugzeug fur den Einsatz fertig ist, ist es auch schon uberholt.«
In der Medizin, dachte O'Donnell, wahrend er seine Augen vor der strahlenden Nachmittagssonne beschattete, war es weitgehend das gleiche. Krankenhauser, Kliniken und die Arzte selbst waren nie in der Lage, ihr Wissen auf dem jungsten Stand zu erhalten. Ungeachtet, wie sehr sie sich darum bemuhten, immer waren ihnen die Forschung, die Entwicklung, die neuesten Techniken voraus, manchmal um Jahre. Heute konnte ein Mensch sterben, obwohl das rettende Medikament bereits erfunden war und in begrenztem Umfang vielleicht schon angewendet wurde. Aber es brauchte Zeit, bis die neuen Entwicklungen bekannt wurden und Anerkennung fanden. Das galt auch fur die Chirurgie. Ein Chirurg oder eine Gruppe von Chirurgen entwickelte vielleicht eine neue lebensrettende Technik, aber ehe sie allgemein angewendet werden konnte, mu?ten sie ihr Konnen weitergeben und andere die neuen Methoden beherrschen. Manchmal war das ein langwieriger Proze?. Die Herzchirurgie beispielsweise war jetzt ziemlich weit verbreitet und fur die meisten erreichbar, die ihrer dringend bedurften. Aber lange Zeit war nur eine Handvoll Chirurgen qualifiziert oder willens, sich daran zu wagen.
Au?erdem erhob sich bei jeder Neuerung die Frage, ob sie gut, ob sie eine kluge Entwicklung war. Nicht jede Veranderung bedeutete Fortschritt. Oft war die Medizin falschen Spuren gefolgt, Theorien, die den Tatsachen widersprachen, und begeisterten und besessenen Einzelgangern, die manches wagten, was erst halb geklart war, und andere durch ihr Beispiel verleiteten. Manchmal war es schwer, den mittleren Kurs zwischen Aufgeschlossenheit und vernunftiger Vorsicht einzuhalten. Im Three Counties Hospital mit seinen Vertretern der unerschutterlich konservativen und der fortschrittlichen Richtung - in beiden Lagern gab es gute Leute stand ein Mann wie O'Donnell standig vor dem Problem, in jedem Augenblick genau zu wissen, wo und bei wem er seine Verbundeten suchen mu?te.
Sein Gedankengang wurde durch die heranrollende Viscount abgebrochen, deren drohnende Motoren die Stimmen um ihn herum ubertonten. O'Donnell wartete, bis die Propeller standen und die Passagiere auszusteigen begannen. Als er Dr. Coleman unter ihnen erkannte, ging er die Treppe hinunter, um den neuen stellvertretenden Direktor der pathologischen Abteilung des Krankenhauses in der Halle zu empfangen.
David Coleman war uberrascht, als er den Chef der Chirurgie, der sich gro? und sonnengebraunt aus der Menschenmenge heraushob, mit ausgestreckter Hand auf sich warten sah. O'Donnell sagte: »Ich freue mich, Sie zu sehen, Dr. Coleman. Joe Pearson hatte keine Zeit, wir waren aber der Ansicht, da? jemand Sie hier abholen und willkommen hei?en sollte.« Was O'Donnell nicht hinzufugte, war, da? Joe Pearson sich rundheraus geweigert hatte, und da Harry Tomaselli nicht in der Stadt war, hatte sich O'Donnell die Zeit genommen und war selbst hinausgefahren.
Wahrend sie durch die dichte Menschenmenge in der hei?en Halle gingen, beobachtete O'Donnell, wie Coleman sich umsah. Er gewann den Eindruck, da? der junge Pathologe sich schnell ein Urteil uber seine Umgebung verschaffen wollte. Vielleicht war das seine Gewohnheit. Falls ja, war es eine gute. Zweifellos schnitt David Coleman bei dieser Prufung gunstig ab. Obwohl er einen dreistundigen Flug hinter sich hatte, war sein Gabardineanzug nicht zerdruckt. Sein gut geschnittenes Haar war sorgfaltig gescheitelt und geburstet, und er war sauber rasiert. Er trug keinen Hut, was ihn junger als seine einunddrei?ig Jahre erscheinen lie?. Er war schlanker als O'Donnell, seine Zuge waren klar geschnitten und gut geformt. Er hatte ein langliches Gesicht mit einem scharfen Kinn. Die Aktentasche unter seinem Arm gab ihm einen Akzent verla?licher Nuchternheit. Das Bild eines jungen Wissenschaftlers, dachte O'Donnell. Er fuhrte Coleman zur Gepackausgabe. Dort wurde ein Rollkarren mit Koffern entladen, und sie schlossen sich der Gruppe Reisender, die mit Coleman eingetroffen waren, an.
O'Donnell sagte: »Das ist das beim Fliegen, was ich verabscheue.«
Coleman nickte und lachelte schwach. Es wirkte fast, als wolle er sagen: Wir sollten unsere Fahigkeiten nicht auf hohle Konversation vergeuden, meinen Sie nicht?
Das ist ein kuhler Zeitgenosse, dachte O'Donnell. Wie bei seiner ersten Begegnung fielen ihm die stahlgrauen Augen auf, und er fragte sich, was man brauche, um hinter sie zu dringen. Coleman blieb jetzt unberuhrt in der Menge stehen und sah sich um. Fast wie auf Befehl trat ein Gepacktrager, ohne die anderen Reisenden zu beachten, auf ihn zu.
Zehn Minuten spater, als O'Donnell seinen Buick durch den dichten Verkehr um den Flughafen steuerte und zur Stadt fuhr, sagte er: »Wir haben Sie im Roosevelt Hotel einquartiert. Es ist so komfortabel und ruhig, wie man nur wunschen kann. Ich glaube, unser Verwaltungsdirektor hat Ihnen wegen des Apartments geschrieben.«
»Ja, das tat er«, antwortete Coleman. »Ich wurde das gern so schnell wie moglich in Ordnung bringen.«
»Sie werden keine Schwierigkeiten haben«, entgegnete O'Donnell und fugte hinzu: »Es steht Ihnen frei, sich ein oder zwei Tage Zeit zu nehmen, um eine geeignete Unterkunft zu suchen, ehe Sie Ihren Dienst im Krankenhaus ubernehmen.«
»Danke, das ist wohl nicht notig. Ich beabsichtige, morgen fruh anzutreten.«
Coleman war hoflich, aber entschieden. O'Donnell dachte: Das ist ein Mann, der sich genau uberlegt, was er will, und es dann klar ausspricht. Er macht auch den Eindruck, als ob er sich nicht leicht etwas ausreden lie?e. O'Donnell uberraschte sich bei der Uberlegung, wie Joe Pearson und David Coleman miteinander auskommen wurden. Zunachst einmal sah es so aus, als wurden sie aneinandergeraten. Aber das konnte man nie wissen. In Krankenhausern wurden manchmal die unwahrscheinlichsten Freundschaften furs Leben geschlossen.
Wahrend sich David Coleman auf der Fahrt durch die Au?enbezirke der Stadt nach allen Seiten umsah, empfand er fast so etwas wie Aufregung uber das, was vor ihm lag. Das war ungewohnlich, weil er meistens alles, was kam, mit sachlicher Nuchternheit hinnahm. Aber schlie?lich ging es um seine erste Stellung im Arztestab eines Krankenhauses. Er sagte sich: Uber eine ganz allgemein menschliche Regung braucht man sich nicht zu schamen, mein Freund. Dann lachelte er innerlich uber diese stumme Selbstkritik. Alte Gewohnheiten im Denken sind schwer abzulegen, dachte er.
Er fragte sich, was der neben ihm sitzende O'Donnell wohl fur ein Mann war. Uber den Chef der Chirurgie am Three Counties Hospital hatte er nur Gutes gehort. Wie kommt es, wunderte er sich, da? ein Mann mit O'Donnells Ausbildung und Qualifikation sich eine Stadt wie Burlington aussucht? Besa? auch er hintergrundige Motive? Oder folgte er anderen Uberlegungen? Vielleicht gefiel es ihm hier einfach? Es mu?te auch Menschen geben, vermutete Coleman, deren Wunsche gradlinig und unkompliziert waren.
O'Donnell bog aus, um einen Lastzug zu uberholen. Dann sagte er: »Ich wurde Ihnen gern einiges sagen, wenn ich darf.«
Coleman antwortete hoflich: »Aber bitte, gern.«
»Wir haben in den letzten Jahren im Three Counties Hospital eine Reihe von Veranderungen vorgenommen.« O'Donnell sprach langsam, uberlegte seine Worte. »Harry Tomaselli sagte mir, da? Sie schon einiges daruber gehort haben. Auch uber unsere Plane.«
Coleman lachelte. »Ja, das stimmt.«
O'Donnell druckte auf seine Hupe, und ein Wagen vor ihnen wich zur Seite. Er sagte: »Die Tatsache, da? Sie zu uns kommen, ist fur uns ein wichtiger Schritt, und ich kann mir vorstellen, da? sich daraus Anderungen ergeben mogen, die Sie selbst wunschen werden, wenn Sie sich bei uns eingelebt haben.«
Coleman dachte an die pathologische Abteilung des Krankenhauses, wie er sie wahrend seines kurzen Besuches gesehen hatte. »Ja«, antwortete er, »davon bin ich uberzeugt.«
O'Donnell schwieg. Dann fuhr er noch behutsamer fort: »Wenn es irgend moglich war, versuchten wir, Veranderungen friedlich herbeizufuhren. Manchmal war das nicht moglich. Ich gehore nicht zu den Leuten, die bereit sind, nur um des Friedens willen ein Prinzip zu opfern.« Er sah Coleman von der Seite an. »Ich mochte, da? Sie in diesem Punkt klarsehen.«
Coleman nickte, antwortete aber nicht.