einem kurzen, scharfen Stich die Nadel ein und zog den Kolben der Spritze zuruck. Sie zapfte so viel Blut, bis die Skala auf der Spritze sieben Kubikzentimeter anzeigte, zog rasch die Nadel aus der Vene und druckte einen Baumwolltupfer auf den Einstich. Das Ganze hatte weniger als funfzehn Sekunden gedauert.

»Mir scheint, das haben Sie schon ofter getan«, sagte Elizabeth. Das Madchen lachelte. »Sicher schon ein paar hundert Male.« Elizabeth sah zu, wahrend die Assistentin ein Reagenzglas beschriftete und die Blutprobe hineinfullte. Als sie damit fertig war, stellte sie das Reagenzglas auf ein Gestell. Sie verkundete: »Das ist alles, Mrs. Alexander.«

Elizabeth deutete auf das Glas. »Was geschieht jetzt damit?«

»Es kommt in das serologische Labor. Einer der Techniker dort wird die Untersuchung durchfuhren.« Elizabeth fragte sich, ob das wohl John sein wurde.

Mike Seddons, der allein im Aufenthaltsraum der Assistenzarzte sa?, war zutiefst beunruhigt. Wenn jemand ihm vor einem Monat gesagt hatte, da? er sich um ein Madchen, das er bei allem kaum kannte, so sorgen wurde, hatte er den anderen fur verruckt gehalten. Doch seit achtundvierzig Stunden, seit er das Krankenblatt im Schwesternzimmer auf Vivians Station eingesehen hatte, waren seine Sorgen und seine Qual standig gewachsen. In der vergangenen Nacht hatte er kaum geschlafen. Stundenlang hatte er wachgelegen, immer wieder die volle Bedeutung der Worte uberdacht, die in Dr. Lucy Graingers Handschrift auf dem Krankenblatt standen. »Vivian Loburton, Verdacht auf Osteosarkom, Vorbereitung fur Probeexcision.«

Als er Vivian zum erstenmal gesehen hatte - bei der Obduktion -, war sie fur ihn nicht mehr als irgendeine hubsche Lernschwester gewesen. Selbst bei ihrer zweiten Begegnung -vor dem Vorfall im Park - hatte er vorwiegend als ein interessantes, aufregendes Zwischenspiel an sie gedacht. Mike Seddons machte sich nie selbst etwas vor, weder uber Worte noch uber seine Absichten.

Auch jetzt tat er es nicht.

Zum erstenmal in seinem Leben liebte er tief und aufrichtig, und er war von einer qualenden, furchtbaren Angst ergriffen.

In der Nacht, als er Vivian sagte, da? er sie heiraten wolle, hatte er keine Zeit gehabt, die sich daraus ergebenden Folgen zu uberdenken. Bis zu diesem Punkt hatte Mike Seddons sich immer selbst gesagt, da? eine Heirat fur ihn nicht in Frage kam, ehe er seine Praxis eingerichtet, sich die Horner abgesto?en und seine Zukunft finanziell gesichert hatte. Aber als er seine Worte an Vivian ausgesprochen hatte, wu?te er, da? er sie aufrichtig meinte. Hundertmal hatte er sie seitdem im stillen wiederholt, ohne da? ihm einmal der Gedanke kam, sie zu bedauern.

Und nun das!

Im Gegensatz zu Vivian, die ihr Leiden immer noch fur eine kleine Beule unter dem Knie hielt - etwas Lastiges, aber nichts, das nicht durch eine Behandlung auf die eine oder andere Weise behoben werden konnte -, kannte Mike Seddons die Bedeutung der Worte >Verdacht auf Osteosarkome. Er wu?te, wenn diese Diagnose bestatigt wurde, bedeutete es, da? Vivian an einem virulenten, bosartigen Knochenkrebs litt, der sich durch ihren ganzen Korper auszubreiten drohte und es vielleicht schon getan hatte. In diesem Fall waren ihre Aussichten, ohne eine schnelle Operation langer als rund ein Jahr zu uberleben, gleich Null. Und Operation bedeutete Amputation des Beines - so schnell wie moglich, nachdem die Diagnose bestatigt war, in der Hoffnung, das Umsichgreifen der todlichen Krebszellen zu verhindern, ehe sie sich weit uber den ursprunglichen Herd hinaus verbreitet hatten. Und selbst dann. Nach der Statistik wurden nur zwanzig Prozent der an Knochenkrebs erkrankten Patienten durch eine Amputation von ihrem Leiden geheilt. Mit den ubrigen ging es standig abwarts, manche lebten nur noch ein paar Monate.

Aber es mu?te kein Osteosarkom sein. Es konnte ein harmloser Knochentumor sein. Die Chancen standen funfzig zu funfzig - die gleichen Aussichten wie beim Werfen einer Munze.

Mike Seddons fuhlte, wie ihm der Schwei? bei dem Gedanken ausbrach, wieviel fur sie beide, fur ihn selbst und fur Vivian, von dem Ergebnis der Probeexcision abhing. Er hatte uberlegt, ob er zu Lucy Grainger gehen und ihr alles offenbaren solle, sich dann aber dagegen entschieden. Wahrscheinlich konnte er mehr erfahren, wenn er sich im Hintergrund hielt. Wenn er sein personliches Interesse bekanntwerden lie?, konnte es sein, da? sich ihm einige Informationsquellen verschlossen. Um seine Gefuhle zu schonen, konnten die anderen in ihren Au?erungen ihm gegenuber vorsichtig und zuruckhaltend sein.

Das wollte er nicht. So oder so, er mu?te die Wahrheit wissen.

Es war ihm nicht leichtgefallen, mit Vivian zu sprechen und gleichzeitig zu versuchen, seine Befurchtungen geheimzuhalten. Gestern abend, als er allein bei ihr in ihrem Krankenzimmer sa? - die andere Patientin war entlassen worden, und das zweite Bett stand leer -, hatte sie uber seine offensichtlich dustere Stimmung gescherzt.

Vergnugt hatte sie die Trauben gegessen, die er ihr fruher gebracht hatte, und gesagt: »Ich wei?, was dir fehlt. Du gramst dich, da? du jetzt an mich gebunden bist und nicht mehr aus einem Bett in das nachste hupfen kannst.«

»Ich bin nie aus einem Bett in das nachste gehupft«, antwortete er und versuchte, ebenso gutgelaunt zu erscheinen wie sie. »So leicht ist das gar nicht. Man hat schon seine Muhe damit.«

»Mit mir hattest du nicht sehr viel Muhe.«

»Mit dir war es etwas anderes. Da passierte es einfach.«

Dabei wurde sie nachdenklich. »Ja, ich wei?.« Und wieder frohlich fuhr sie fort: »Nun, auf jeden Fall hat es keinen Zweck, wenn du glaubst, hier herauszukommen, Dr. Michael Seddons.

Ich habe nicht die Absicht, dich wieder loszulassen - niemals!«

Darauf ku?te er sie, hielt sie fest umschlungen. Sie hob das Gesicht und flusterte in sein Ohr. Ihr Haar lag weich gegen seine Wange und duftete. Leise sagte sie: »Noch etwas, Doktor. Seien Sie vorsichtig mit diesen Lernschwestern. Sie haben keine Moral.«

»Wirklich?« Er hielt sie von sich ab. »Und warum hat mir das niemand vorher gesagt?«

Sie trug ein dunnes, blaues Jackchen, das vorn offen stand, darunter ein Nylonnachthemd von dem gleichen durchsichtigen Blau. Plotzlich uberfiel es ihn atemberaubend, wie jung und schon sie war.

Vivian sah zur Tur. Sie war geschlossen. Sie sagte: »Sie haben heute hier auf der Station sehr viel zu tun. Ich wei? es, weil Sie es mir sagten. Wahrscheinlich kommt erst in einer Stunde wieder jemand ins Zimmer.«

Einen Augenblick war er schockiert. Dann lachte er und verliebte sich wieder Hals uber Kopf in ihre ehrliche und einfache Offenheit. Er sagte: »Meinst du hier? Jetzt?«

»Warum nicht?«

»Wenn jemand kommt, werde ich aus dem Hospital hinausgeworfen.«

Leise sagte sie: »Davor hast du neulich abend nicht so viel Angst gehabt.« Ihre Fingerspitzen glitten leicht uber sein Gesicht. Impulsiv beugte er sich vor und ku?te sie auf den Hals. Als seine Lippen weiter herunterglitten, horte er, wie sich ihr Atem beschleunigte, und spurte, wie ihre Finger sich in seine Schulter krallten.

Einen Augenblick war er versucht, dann siegte seine Vernunft. Er legte seine Arme um sie. Zartlich murmelte er: »Wenn das alles voruber ist, Vivian, Liebling, konnen wir wirklich allein sein. Und noch wichtiger, wir haben dann so viel Zeit, wie wir uns wunschen.«

Das war gestern gewesen. Heute nachmittag wurde Lucy in einem Operationsraum die Probeexcision vornehmen. Mike Seddons sah auf seine Uhr. Es war zwei Uhr drei?ig. Dem Operationsplan zufolge mu?ten sie jetzt beginnen. Wenn die Pathologie schnell arbeitete, konnte morgen das Ergebnis vorliegen. Mit einer leidenschaftlichen Inbrunst, die ebenso widerspruchsvoll wie auffallig war, betete er zu seiner eigenen Uberraschung: O Gott, bitte, Gott, la? ihn gutartig sein.

Der Narkosearzt nickte. »Von uns aus ist es soweit, Lucy.«

Dr. Lucy Grainger kam um das Kopfende des Operationstisches herum. Sie hatte schon die Handschuhe und den Operationskittel an. Zu Vivian herunterlachelnd sagte sie aufmunternd: »Es dauert nicht lange, und Sie werden nicht das geringste spuren.«

Vivian versuchte, zuversichtlich zuruckzulacheln. Sie wu?te allerdings, da? es ihr nicht ganz gelang. Vielleicht, weil sie schon ein bi?chen benommen war. Sie erinnerte sich, da? man ihr eine Beruhigungsspritze au?er der Ruckenmarksnarkose gegeben hatte, die der unteren Halfte ihres Korpers jedes Gefuhl nahm.

Lucy nickte dem ihr assistierenden Praktikanten zu. Er hob Vivians linkes Bein, und Lucy begann, die Tucher zu entfernen, die darum gewunden waren. Fruher am Vormittag, ehe Vivian in den Operationsraum gebracht wurde, war ihr Bein rasiert, grundlich gebadet und mit Merthiolate bestrichen worden. Jetzt trug Lucy noch einmal das Desinfektionsmittel auf und bedeckte das Bein oberhalb und unterhalb des Knies mit frischen, sterilen

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