Tuchern.
Auf der anderen Seite des Operationstisches hielt die Operationsschwester ein zusammengefaltetes grunes Laken bereit. Lucy fa?te es an einer Seite, und sie breiteten es so uber den Tisch, da? die Offnung in dem Tuch unmittelbar uber Vivians nacktem Knie lag. Der Narkosearzt griff danach und befestigte den oberen Saum des Tuches an einer Metallstange uber Vivians Kopf, so da? sie von dem ubrigen Operationsraum nichts mehr sehen konnte. Wahrend er zu ihr hinuntersah, sagte er: »Bleiben Sie ganz ruhig, Miss Loburton. Es ist nicht viel anders, als ob man einen Zahn gezogen bekommt - nur sehr viel angenehmer.«
»Skalpell bitte.« Lucy streckte die Hand aus, und die Operationsschwester reichte ihr das Messer. Mit der Mitte der Klinge vollzog sie einen kurzen, kraftigen Schnitt, unmittelbar unter dem Knie, etwa vier Zentimeter lang. Sofort begann das Blut zu flie?en.
»Arterienklemmen.« Die Operationsschwester hielt sie ihr schon hin, und Lucy klemmte zwei kleine Gefa?e ab. »Wollen Sie bitte abbinden.« Sie trat zuruck, damit der Praktikant hinter den beiden Klammern Schlingen um die Blutgefa?e legen konnte.
»Jetzt schneiden wir durch das Periost.« Der Praktikant nickte, Lucy setzte das Skalpell, das sie schon vorher verwendet hatte, auf das dicke, faserige Gewebe der Knochenhaut und durchschnitt sie glatt.
»Fertig zum Sagen.« Die Operationsschwester reichte Lucy eine mechanische Stryker-Sage. Hinter ihr hielt eine zweite Schwester das elektrische Kabel von dem Operationstisch ab.
Wieder erklarte Lucy dem Praktikanten: »Wir werden eine keilformige Probe des Knochens herausnehmen. Etwa einen halben bis dreiviertel Zoll lang. Das sollte genugen.«
Sie sah zu den Rontgenfilmen hinuber, die vor einem Leuchtschirm an der Wand hingen. »Wir mussen uns naturlich vergewissern, da? wir auch in den Tumor hineinkommen und nicht ein gesundes Knochenstuck nehmen, das vorgedruckt wurde.«
Lucy schaltete die Sage ein und setzte sie zweimal an. Jedesmal, wenn die Zahne in den Knochen eindrangen, war ein gedampftes, knirschendes Gerausch horbar. Dann schaltete sie die Sage ab und reichte sie zuruck. »So, ich denke, das genugt. Pinzette, bitte.«
Behutsam loste sie die Knochenprobe heraus und legte sie in ein kleines Gefa? mit Zenkerscher Losung, die ihr die zweite Schwester hinhielt. Anschlie?end wurde die Probe - bezeichnet und von einer Untersuchungsanforderung begleitet - in die Pathologie geschickt werden.
Der Narkosearzt fragte Vivian: »Nun, ist alles in Ordnung?«
Sie nickte.
»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte er. »Die Probe ist herausgenommen. Es mu? nur noch der Schnitt zugenaht werden.« Lucy nahte bereits das Periost mit einer laufenden Naht. Wenn das alles ware, wie einfach ware es dann, dachte sie dabei. Aber der Eingriff war lediglich ein Probeexcision zur Untersuchung. Ihre nachste Ma?nahme hing von Joe Pearsons Urteil uber die Knochenprobe ab, die sie ihm hinunterschickte.
Der Gedanke an Joe Pearson erinnerte Lucy an etwas, das sie gerade von Kent O'Donnell erfahren hatte: Heute war der Tag, an dem der neue zweite Pathologe des Krankenhauses in Burlington ankommen sollte. Sie hoffte, da? mit dem neuen Mann alles glatt gehen wurde. In O'Donnells Interesse ebensosehr wie aus vielen anderen Grunden.
Lucy respektierte die Bemuhungen des Chefs der Chirurgie, Korrekturen im Krankenhaus ohne gro?es Aufsehen durchzusetzen, obwohl sie aus eigener Beobachtung wu?te, da? O'Donnell einer Auseinandersetzung niemals auswich, wenn es wirklich not wendig war, frontal vorzugehen. Jetzt bin ich wieder dabei, dachte sie. Ich denke an Kent O'Donnell. Es war seltsam, wie sich gerade in letzter Zeit ihre Gedanken standig ihm zuwandten. Vielleicht geschah es infolge ihrer Nahe bei der Arbeit. Die Tage waren selten, an denen die beiden sich nicht irgendwann wahrend der Zeit, in der operiert wurde, begegneten. Jetzt fand Lucy, da? sie sich fragte, wie bald er sie wieder zum Abendessen einladen wurde. Vielleicht konnte sie selbst in ihrem eigenen Appartement eine kleine Gesellschaft veranstalten. Es gab ein paar Leute, die sie schon seit einiger Zeit einladen wollte, und sie konnte Kent O'Donnell dazu bitten.
Lucy lie? den Praktikanten vor, um das subkutane Gewebe zu nahen. »Verwenden Sie Einzelnahte«, sagte sie zu ihm. Sie beobachtete ihn aufmerksam. Er arbeitete langsam, aber sorgfaltig. Sie wu?te, da? mancher der Chirurgen am Three Counties Hospital die Praktikanten sehr wenig tun lie?, wenn sie assistierten. Aber Lucy hatte nicht vergessen, wie oft sie an einem Operationstisch danebengestanden und gehofft hatte, wenigstens ein paar Knoten uben zu konnen.
Das war in Montreal gewesen, vor ganzen dreizehn Jahren, als sie ihre Assistentenzeit im Montreal General Hospital antrat und dann dort blieb, um sich auf orthopadische Chirurgie zu spezialisieren. Sie hatte oft daruber nachgedacht, welche Aussichten fur einen Arzt bestanden, der sich fur ein Spezialgebiet entschlo?. Oft wurde dieser Entschlu? von der Art der Falle stark beeinflu?t, die man in seiner Praktikantenzeit kennenlernte. Ihre eigenen Interessen, zuerst auf der medizinischen Fakultat bei der McGill University und spater auf der medizinischen Fakultat der Toronto University waren haufig von einem Gebiet zu dem anderen gesprungen. Selbst bei ihrer Ruckkehr nach Montreal war sie noch unentschlossen gewesen, ob sie sich uberhaupt spezialisieren oder ob sie sich als praktische Arztin niederlassen solle. Aber dann hatte der Zufall gewollt, da? sie eine Zeitlang unter der Aufsicht und Anleitung eines Chirurgen arbeitete, der wegen seiner Leidenschaft fur die Orthopadie in dem Krankenhaus allgemein Old Bones genannt wurde.
Als Lucy ihn kennenlernte, war Old Bones Mitte Sechzig.
Seinem Auftreten und seiner Erscheinung nach war er einer der unangenehmsten Menschen, die sie kennengelernt hatte. Die meisten Lehrstatten haben ihre Primadonnen. In Old Bones schienen sich die schlimmsten Gepflogenheiten aller vereinigt zu haben. Regelma?ig beschimpfte er jeden in dem Krankenhaus - Praktikanten, Assistenten, seine eigenen Kollegen, Patienten - mit gleicher Unparteilichkeit. Im Operationsraum fluchte er, wenn er im geringsten gereizt wurde, auf Schwestern und Assistenten in Ausdrucken, die aus Kneipen und dem Hafenviertel stammten. Wenn ihm ein falsches Instrument gereicht wurde, schmi? er es an normalen Tagen nach dem Schuldigen, wenn er in nachsichtigerer Stimmung war, nur gegen die Wand.
Doch ungeachtet all dieser Auftritte war Old Bones ein Meister der Chirurgie. Der gro?te Teil seiner Arbeit galt der Beseitigung von Knochendeformationen bei verkruppelten Kindern. Seine hervorragenden Erfolge hatten ihm Weltruf eingebracht. Aber er anderte niemals sein Verhalten und behandelte selbst Kinder, die seine Patienten waren, in der gleichen rauhen Art wie Erwachsene. Aber irgendwie schienen Kinder selten vor ihm Angst zu haben. Lucy hatte sich oft gefragt, ob der kindliche Instinkt nicht ein besserer Ma?stab sei als die Vernunft der Erwachsenen.
Es war aber der Einflu? von Old Bones, der tatsachlich uber Lucys Zukunft entschied. Als sie aus erster Hand gesehen hatte, was die orthopadische Chirurgie vollbringen konnte, wollte sie ihr Teil zu diesen Leistungen beitragen. Drei Jahre Assistentenzeit verbrachte sie im Montreal General Hospital und assistierte Old Bones, sooft sie dazu die Moglichkeit hatte. Sie eiferte ihm in allem nach, au?er in seinen Manieren. Die anderte er nicht einmal Lucy gegenuber, obwohl sie gegen Ende ihres letzten Assistentenjahres stolz darauf war, da? sie erheblich seltener von ihm angeschrien wurde als andere.
Inzwischen hatte Lucy in ihrer arztlichen Praxis eigene Erfolge aufzuweisen, und in Burlington war sie infolge der vielen Patienten, die von anderen Arzten an sie uberwiesen wurden, eines der beschaftigsten Mitglieder im Arztestab des Three Counties Hospitals. Nur einmal war sie nach Montreal zuruckgekehrt - der Anla? lag jetzt zwei Jahre zuruck -, um am Begrabnis von Old Bones teilzunehmen. Es wurde behauptet, es sei eine der gro?ten Trauerfeiern fur einen Arzt gewesen, die die Stadt je gesehen hatte. Praktisch jeder, den der alte Mann je in seinem Leben beschimpft hatte, war in die Kirche gekommen.
Ihre Gedanken kehrten zur Gegenwart zuruck. Die Biopsie war fast abgeschlossen. Auf einen Wink von Lucy hin war der Praktikant dazu ubergegangen, die Haut zu vernahen, wobei er wieder Einzelnahte setzte. Er legte gerade die letzte an. Lucy blickte zur Uhr uber ihr an der Wand. Der ganze Eingriff hatte eine halbe Stunde gedauert. Es war drei Uhr.
Um sieben Minuten vor funf sturmte ein sechzehnjahriger Krankenhaushelfer pfeifend und mit schwingenden Huften in das serologische Labor. Das war die ubliche Form, in der er dort erschien, weil er wu?te, da? es Bannister, mit dem er auf standigem Kriegsfu? stand, argerte. Wie immer sah der erste Laborant von seiner Arbeit auf und fauchte ihn ungehalten an: »Ich sage dir jetzt zum letztenmal, da? du dieses unertragliche Benehmen unterlassen sollst, wenn du hier hereinkommst.«
»Da bin ich aber froh, da? es das letzte Mal ist.« Der Junge war nicht im geringsten beeindruckt. »Offen gesagt, geht mir Ihre standige Norgelei schon auf die Nerven.« Pfeifend trat er naher und balancierte ein Tablett