»Sie irren sich, und ich will Ihnen sagen, warum.« O'Donnell kummerte sich nicht mehr um die Wirkung seiner Worte. Er empfand, da? hier ein Punkt lag, den er aussprechen mu?te, fur sich selbst sosehr wie fur die anderen. »Die Medizin kennt nur ein wirkliches Problem. Es war immer das gleiche und wird immer das gleiche bleiben. Es ist das Problem des Uberlebens des einzelnen Individuums.« Er machte eine Pause. »Und Uberleben ist das alteste Naturgesetz.«

»Bravo!« Impulsiv klatschte Amelia Brown die Hande zusammen. Aber O'Donnell war noch nicht ganz zu Ende.

»Deshalb bekampfen wir die Kinderlahmung, Mr. Swayne, und deshalb bekampften wir die schwarze Pest und die Pocken und den Typhus und die Syphilis. Und deshalb bekampfen wir immer noch den Krebs und die Tuberkulose und alles andere. Das ist der Grund, weshalb wir die Heime haben, von denen Sie sprachen - die Sanatorien, die Pflegestatten fur Unheilbare. Das ist der Grund, warum wir Menschenleben erhalten - alle Menschenleben, die wir erhalten konnen, die der Schwachen so gut wie die der Starken. Weil hinter all dem ein Nenner steht: Uberleben! Das ist das Gesetz der Medizin, das einzige, das sie uberhaupt haben kann.«

Einen Augenblick erwartete er, Swayne wurde wie zuvor zuruckschlagen. Aber der alte Mann verharrte schweigend. Dann sah er zu seiner Tochter hinuber. »Gie?e Dr. O' Donnell noch etwas Kognak ein, Denise.«

O'Donnell hielt ihr sein Glas hin, als sie mit der Karaffe vor ihn trat. Ihr Kleid rauschte leise, und als sie sich zu ihm beugte, nahm er den schwachen, anregenden Duft ihres Parfums wahr. Einen Augenblick empfand er den absurden, jugendlichen Impuls, seine Hand auszustrecken und uber ihr weiches, dunkles Haar zu streichen. Er unterdruckte ihn, und sie ging zu ihrem Vater hinuber.

Wahrend sie das Glas des alten Mannes fullte, sagte sie: »Wenn du wirklich der Ansicht bist, die du gerade ausgesprochen hast, Vater, was hast du dann im Krankenhausausschu? zu suchen?«

Eustace Swayne lachte verhalten. »Hauptsachlich bin ich noch darin, weil Orden und ein paar andere hoffen, da? ich mein Testament nicht mehr andere.« Er sah zu Orden Brown hinuber. »Sie rechnen auf jeden Fall damit, da? sie nicht mehr lange zu warten brauchen.«

»Sie tun Ihren Freunden unrecht, Eustace«, sagte Brown. Sein Ton wies die richtige Mischung von Scherz und Ernst auf.

»Und Sie sind ein Schwindler.« Der alte Mann war wieder in guter Stimmung. Er fuhr fort: »Du hast mich etwas gefragt, Denise. Nun, ich will dir antworten. Ich bin im Krankenhausausschu?, weil ich ein praktischer Mann bin. Die Welt ist so wie sie ist, und ich kann sie nicht andern, obwohl ich sehe, was falsch daran ist. Aber was jemand wie ich tun kann ist, als ausgleichende Kraft wirken. Oh, ich wei? genau, wofur manche mich halten: Fur einen Obstruktionisten.«

Orden Brown hielt ihm schnell entgegen: »Hat das jemals einer gesagt?«

»Das brauchen Sie nicht.« Swayne warf dem Ausschu?vorsitzenden einen halb amusierten, halb boshaften Blick zu. »Aber bei jeder Tatigkeit ist irgendwo eine Bremse erforderlich. Das bin ich gewesen - eine Bremse, eine stabilisierende Kraft. Und wenn ich nicht mehr da bin, werden Sie und Ihre Freunde vielleicht merken, da? Sie eine neue brauchen.«

»Sie reden Unsinn, Eustace, und Sie sind gegenuber Ihren eigenen Motiven ungerecht.« Orden Brown hatte sich offensichtlich entschlossen, ebenso offen zu sprechen. Er fuhr fort: »Sie haben in Burlington ebensoviel Gutes getan wie jeder andere, den ich kenne.«

Der alte Mann schien in seinem Sessel zusammenzusinken. Er murmelte: »Wer von uns kennt seine eigenen Motive wirklich?« Dann blickte er auf. »Ich nehme an, da? Sie von mir einen gro?en Beitrag fur den neuen Erweiterungsbau erwarten.«

Orden Brown antwortete verbindlich: »Offen gesagt, hoffen wir, da? Sie es fur richtig halten werden, Ihren im allgemeinen gro?zugigen Beitrag zu spenden.«

Leise sagte Eustace Swayne unerwartet: »Vermutlich durften Sie eine Viertelmillion Dollars fur angemessen halten.«

O'Donnell horte, wie Orden Brown rasch einatmete. Eine derartige Spende war sehr freigebig, viel hoher, als sie selbst in ihren optimistischsten Stunden erwartet hatten.

Brown erwiderte: »Ich kann mich nicht verstellen, Eustace. Ehrlich gesagt, ich bin uberwaltigt.«

»Dazu besteht kein Grund.« Der alte Mann machte eine Pause und drehte sein Glas am Stiel zwischen den Fingern. »Ich habe mich allerdings noch nicht entschlossen; ich erwage es noch. In ein bis zwei Wochen werde ich es Ihnen mitteilen.« Unvermittelt wandte er sich an O'Donnell: »Spielen Sie Schach?«

O'Donnell schuttelte den Kopf. »Seit dem College nicht mehr.«

»Dr. Pearson und ich spielen oft zusammen Schach.« Er sah O'Donnell gerade an. »Sie kennen Joe Pearson naturlich.«

»Ja, sehr gut.«

»Ich kenne Dr. Pearson seit vielen Jahren«, sagte Swayne. »Im Three Counties Hospital und au?erhalb.« Die Worte wurden langsam und uberlegt ausgesprochen. Trugen sie einen warnenden Unterton? Es war schwer zu erkennen.

Swayne fuhr fort: »Meiner Meinung nach ist Dr. Pearson einer der qualifiziertesten Arzte des Krankenhauses. Ich hoffe, da? er noch viele Jahre lang die Leitung seiner Abteilung beibehalt. Ich achte seine Fahigkeiten und sein Urteil im hochsten Grad.«

Nun, das ist es, dachte O'Donnell. Jetzt liegt es offen und in klaren Worten vor. Ein Ultimatum an den Vorsitzenden des Krankenhausausschusses und an den Prasidenten des medizinischen Ausschusses. Eustace Swaynes Worte waren gleichbedeutend mit: Wenn Ihr meine Viertelmillion Dollars wollt - Hande weg von Joe Pearson!

Spater fuhren Orden Brown, Amelia und O'Donnell gemeinsam auf dem Vordersitz von Browns Lincoln Cabriolet durch die Stadt zuruck. Zunachst schwiegen sie. Dann sagte Amelia: »Glaubst du es wirklich? Eine Viertelmillion?«

Ihr Mann antwortete: »Es ist ihm zuzutrauen, da? er sie gibt, wenn er die Laune danach hat.«

O'Donnell fragte: »Haben Sie ihn verstanden?«

»Ja.« Browns Antwort kam ruhig und ohne Beschonigung und ohne, da? er versuchte, weiter uber das Thema zu reden. O'Donnell dachte, dafur danke ich Ihnen. Er wu?te, da? er sich mit diesem Problem herumschlagen mu?te, nicht der Vorsitzende.

Vor dem Eingang seines Appartement-Hotels setzten sie ihn ab. Als Amelia ihm gute Nacht sagte, fugte sie noch hinzu: »Oh, ubrigens, Kent, Denise lebt von ihrem Mann getrennt, ist aber nicht geschieden. Ich glaube, da liegen irgendwelche Schwierigkeiten, obwohl wir nie daruber gesprochen haben. Sie hat zwei Kinder auf der Oberschule. Und sie ist neununddrei?ig Jahre alt.«

»Warum erzahlst du ihm das alles?« fragte Orden Brown.

Amelia lachelte. »Weil er es wissen mochte.« Sie legte ihre Hand auf den Arm ihres Mannes. »Aus dir konnte man nie eine Frau machen, mein Lieber. Nicht mal durch eine Operation.«

Wahrend O'Donnell dem Lincoln nachblickte, fragte er sich, wieso sie das wissen konnte. Vielleicht hatte sie gehort, wie er sich von Denise Quantz verabschiedete. Hoflich hatte er gesagt, er hoffe, sie wiederzusehen, und sie hatte geantwortet: »Ich lebe mit meinen Kindern in New York. Warum besuchen Sie mich nicht, wenn Sie das nachste Mal dort sind?« Jetzt fragte sich O'Donnell, ob er nicht doch an dem Chirurgenkongre? in New York teilnehmen solle, obwohl er sich in der vergangenen Woche entschlossen hatte, nicht hinzufahren. Plotzlich wandten sich seine Gedanken Lucy Grainger zu, und vollig widersinnig hatte er einen Augenblick das Gefuhl, ihr gegenuber treulos zu sein. Wahrend er uber den Burgersteig zum Hauseingang ging, wurde er durch eine Stimme aus seinen Gedanken aufgeschreckt: »Guten Abend, Dr. O'Donnell.«

Er drehte sich um und erkannte einen der chirurgischen Assistenzarzte: Seddons. Er hatte ein hubsches, dunkelhaariges Madchen bei sich, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Wahrscheinlich eine der Lernschwestern, dachte O'Donnell. Sie schien in dem Alter zu sein. Er lachelte beiden zu und antwortete: »Guten Abend.« Dann offnete er mit dem Schlussel die Glastur und ging durch die Halle zum Fahrstuhl.

»Er sieht aus, als ob er Sorgen habe«, meinte Vivian.

Seddons antwortete unbekummert: »Das bezweifle ich, mein kluges Kind. Wenn man es so weit gebracht hat wie er, hat man die meisten Sorgen hinter sich.«

Das Theater war zu Ende, und sie befanden sich auf dem Ruckweg zum Three Counties Hospital. Es war eine hubsche Auffuhrung gewesen, ein freimutiges, ausgelassenes Musical, in dem sie viel gelacht und sich an den Handen gehalten hatten.

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