»Nein, ich werde es tun.« Der Verwaltungsdirektor machte eine Notiz. Wenigstens, dachte er, kann ich Joe Pearson dadurch eine ahnliche zeitraubende Unterhaltung sparen.

»Danke, Mr. T.« Die Kuchenleiterin stemmte sich aus dem Sessel hoch. Er wartete, bis sie aus dem Zimmer war, und schob dann sorgfaltig den Aktenkorb an seinen ursprunglichen Platz zuruck.

David Coleman kam vom Essen in der Kantine in die Pathologie zuruck. Auf seinem Weg durch die Gange und uber die Treppe in das Souterrain dachte er uber die Zeit nach, die er bisher mit Dr. Pearson verbracht hatte. Er kam zu dem Ergebnis, da? sie bis zu diesem Augenblick unbefriedigend und ergebnislos verstrichen war.

Pearson hatte sich zwar hoflich gezeigt, wenn auch nicht von Anfang an, so doch spater. Als er Coleman in seinem Zimmer auf ihn wartend vorfand, war seine erste Bemerkung gewesen: »Sie haben es also ernst gemeint, als Sie schrieben, Sie wollten sofort anfangen.«

»Es schien mir nicht viel Sinn zu haben, langer zu warten«, antwortete Coleman und fugte hinzu: »Ich habe mich inzwischen in den Labors umgesehen. Hoffentlich hatten Sie nichts dagegen.«

»Das ist Ihr gutes Recht.« Pearsons Antwort kam halb knurrend, als ob es sich um eine Invasion handele, die ihm zwar nicht gefiel, mit der er sich aber abfinden mu?te. Dann, als ob er seine Unfreundlichkeit erkenne, sagte er: »Nun, ich mu? Sie wohl wenigstens willkommen hei?en.«

Nachdem sie sich die Hande geschuttelt hatten, fugte der alte Mann hinzu: »Als erstes mu? ich jetzt einen Teil von dem hier aufarbeiten.« Er deutete auf einen unordentlichen Stapel von Behaltern mit Objekttragern, Aktendeckeln und einzelnen Papieren auf seinem Schreibtisch. »Vielleicht konnen wir uns anschlie?end uber Ihre Arbeit hier unterhalten.«

Coleman hatte dagesessen, ohne da? er etwas anderes zu tun hatte, als eine medizinische Zeitschrift zu lesen, wahrend Pearson sich durch einen Teil der Papiere wuhlte. Dann kam ein Madchen zum Diktat, und anschlie?end begleitete er Pearson zu einem Kolloquium im Nebenzimmer des Obduktionsraumes. Als er Pearson und den beiden Assistenten - McNeil und Seddons - an dem Sektionstisch gegenubersa?, kam er sich weitgehend wie ein jungerer Assistent vor. Er konnte zu dem Kolloquium fast nichts beitragen. Pearson fuhrte das Kolloquium durch, als ob Coleman lediglich ein Zuschauer sei, und der alte Mann erkannte auch mit keiner Andeutung Colemans Stellung als neuer stellvertretender Leiter der gesamten Abteilung an.

Spater gingen er und Pearson gemeinsam zum Essen, und im Verlauf der Mahlzeit stellte Pearson ihn ein paar Mitgliedern des Arztestabes vor. Dann entschuldigte sich der alte Pathologe mit der Bemerkung, er habe eine dringende Arbeit zu erledigen, und verlie? den Tisch. Jetzt kehrte Coleman allein in die Pathologie zuruck und erwog in Gedanken das Problem, das vor ihm zu stehen schien.

Naturlich hatte er bei Dr. Pearson einen gewissen Widerstand erwartet. Aus den verschiedensten fragmentarischen Informationen hatte er sich zusammengereimt, da? Pearson keinen zweiten Pathologen wunschte, aber auf diese Behandlung war er nicht gefa?t gewesen. Als das mindeste hatte er vorausgesetzt, da? bei seiner Ankunft ein Arbeitszimmer fur ihn bereitstand und sein Aufgabengebiet klar umrissen war. Gewi?, er hatte nicht erwartet, da? ihm sofort eine gro?e und wichtige Verantwortung ubertragen wurde. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, da? der alte Pathologe ihn eine Zeitlang kontrollierte. Er selbst hatte an Pearsons Stelle einem Neuling gegenuber die gleiche Vorsichtsma?nahme ergriffen. Aber daruber ging die Situation, wie die Dinge lagen, weit hinaus. Dem Anschein nach hatte sich trotz Colemans Brief niemand mit der Frage abgegeben, worin seine Pflichten bestehen sollten. Anscheinend herrschte die Vorstellung, da? er herumsitzen solle, bis seine Post und seine anderen Pflichten Dr. Pearson genugend Zeit lie?en, um ihm ein paar Aufgaben zu ubertragen. Nun, in diesem Falle mu?ten einige Vorstellungen korrigiert werden - und das bald.

David Coleman kannte die Schwachen seines eigenen Charakters seit langem. Aber ebenso war er sich seiner Qualitaten bewu?t; die wichtigsten darunter waren seine Kenntnisse und seine Fahigkeiten als Arzt und Pathologe. Kent O'Donnell hatte nur eine Tatsache festgestellt, als er Coleman als hochqualifiziert bezeichnete. Trotz seiner Jugend verfugte er bereits uber ein Konnen und einen Schatz an Erfahrungen, denen viele praktizierende Pathologen kaum Gleichwertiges gegenuberzustellen vermochten. Gewi? bestand fur ihn kein Grund, vor Dr. Joseph Pearson in Ehrfurcht zu erstarren, und wenn er auch gewillt war, das Alter und die vorgesetzte Stellung des alten Pathologen zu respektieren, hatte er andererseits aber nicht die Absicht, sich als unerfahrener Grunschnabel behandeln zu lassen.

Er besa? noch eine andere Starke: ein Gefuhl, das alle anderen Uberlegungen, ob es nun den Charakter, den Versuch zur Duldsamkeit oder irgend etwas anderes betraf, beiseite schob. Das war seine Entschlossenheit, Medizin kompromi?los, sauber, ehrlich zu praktizieren - und sogar exakt, soweit Exaktheit auf medizinischem Gebiet moglich war. Fur jeden, der sich mit weniger begnugte - und selbst in den kurzen Jahren seiner eigenen Erfahrungen hatte er derartige Leute getroffen und kennengelernt: die Kompromi?ler, die Politiker, die Tragen, die um jeden Preis Ehrgeizigen -, empfand David Coleman nur Zorn und Abscheu.

Wenn man ihn gefragt hatte, woher dieses Gefuhl stammte, ware ihm die Antwort schwergefallen. Keinesfalls war er sentimental, noch hatte er sich der Medizin zugewandt, weil er offensichtlich von dem Wunsch getrieben wurde, der Menschheit zu helfen. Der Einflu? seines Vaters mochte eine gewisse Rolle spielen, aber, wie David Coleman vermutete, keine allzu gro?e. Sein Vater, das war ihm jetzt bewu?t, war innerhalb der Grenzen eines praktischen Arztes ein durchschnittlich guter Arzt gewesen, aber im Wesen der beiden bestand ein auffallender Unterschied. Der altere Coleman war eine warme, aufgeschlossene Personlichkeit gewesen, die viele Freunde besessen hatte. Der Sohn war kuhl, schwer zuganglich, haufig zuruckhaltend. Der Vater hatte mit seinen Patienten gescherzt und ihnen muhelos sein Bestes gegeben. Der Sohn hatte als Praktikant, ehe die Pathologie ihn von den Patienten absonderte, nie mit ihnen gescherzt, sondern ihnen gewissenhaft, exakt und uberlegen etwas mehr gegeben, als viele andere als ihr Bestes zu geben hatten. Und wenn sich als Pathologe sein Verhaltnis zu den Patienten auch verandert hatte, seine Einstellung war die gleiche geblieben.

Manchmal empfand David Coleman in Augenblicken ehrlicher Selbstprufung den Verdacht, seine Einstellung ware nicht anders, wenn er statt der Medizin irgendeinen anderen Beruf ergriffen hatte. Im Grunde genommen vermutete er, werde sie durch seine Genauigkeit in Verbindung mit seiner Unduldsamkeit gegenuber Fehlern oder Versagern bestimmt -durch das Gefuhl, da? die Person oder die Sache, der immer man dienen wolle, berechtigt sei, das Au?erste zu verlangen, das man geben konnte. In gewisser Weise widersprachen sich diese Gefuhle vielleicht. Wahrscheinlich war er von einem Studienkameraden treffend charakterisiert worden, der einmal einen angeheiterten Trinkspruch ausbrachte: »Auf David Coleman - den Burschen mit dem antiseptischen Herz.«

Wahrend er jetzt durch den Gang im Souterrain ging, kehrten seine Gedanken zur Gegenwart zuruck, und sein Instinkt warnte ihn, da? ein Zusammensto? nahe bevorstand.

Er trat in das Arbeitszimmer der Pathologie und fand Pearson uber ein Mikroskop gebeugt, vor sich einen geoffneten Behalter mit Objekttragern. »Kommen Sie, und sehen Sie sich das an. Was halten Sie davon?« Er machte vor dem Mikroskop Platz und winkte Coleman heran.

»Was ist das fur ein Fall?« Coleman schob den ersten Objekttrager unter die Halteklammer und stellte das Okular ein.

»Eine Patientin Lucy Graingers. Lucy ist Chirurgin bei uns. Sie werden sie noch kennenlernen.« Pearson blickte in seine Notizen. »Der Fall betrifft ein neunzehnjahriges Madchen, Vivian Loburton, eine unserer Lernschwestern. Sie hat eine Schwellung unter dem linken Knie, anhaltende Schmerzen. Die Rontgenuntersuchung ergab eine Mi?bildung am Knochen. Die Schnitte stammen von der Probeexcision.«

Es waren acht Schnitte, und Coleman studierte sie nacheinander. Er wu?te sofort, warum Pearson nach seiner Meinung fragte. Das war ein Grenzfall, so schwierig wie er nur sein konnte. Schlie?lich sagte er: »Meiner Meinung nach gutartig.«

»Ich halte es fur bosartig«, entgegnete Pearson ruhig. »Fur ein Osteosarkom.«

Wortlos nahm Coleman noch einmal den ersten Schnitt vor. Geduldig und sorgfaltig untersuchte er ihn wieder, wiederholte das gleiche mit den sieben anderen. Bei seiner ersten Untersuchung hatte er die Moglichkeit eines Osteosarkoms erwogen. Jetzt tat er es wieder. Wahrend er die rot und blau eingefarbten, durchscheinenden Schnitte studierte, die dem ausgebildeten Pathologen so vieles verrieten, prufte er in Gedanken noch einmal die Fur und Wider. Alle Schnitte zeigten umfangreiche Bildung von neuem Knochengewebe -osteoblastisches Wachstum mit Knorpeleinsprengseln dazwischen. Eine Verletzung mu?te in Betracht gezogen werden.

Hatte die Verletzung einen Bruch verursacht? War die neue Knochenbildung das Ergebnis der Regeneration - des Versuchs des Korpers, sie zu heilen? Wenn ja, war das Wachstum zweifellos gutartig. Bestanden Anzeichen fur eine Knochenmarkentzundung? Unter dem Mikroskop konnten sie leicht mit dem gefahrlichen Osteosarkom verwechselt werden. Aber nein, es waren keine polymorphokernigen Leukozyten in der charakteristischen Weise in dem Mark zwischen den Knochenfasern vorhanden. Es lagen keine vordringenden Blutgefa?e vor. Folglich hing die

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