Er legte den Horer zuruck und wandte sich an Coleman: »Es gibt zwei Manner, die Experten auf diesem Gebiet sind. Chollingham in Boston und Earnhart in New York.«

Coleman nickte. »Ja, ich habe von ihnen gehort.«

Bannister trat ein. »Sie haben mich gewunscht?« Er sah auf Coleman und ignorierte ihn dann betont.

»Nehmen Sie diese Schnitte.« Pearson schlo? den Behalter und schob ihn uber den Schreibtisch. »Schicken Sie heute abend noch zwei Satze fort, mit Luftpost Eilboten und einem Schild >Dringend< darauf. Der eine Satz geht an Dr. Chollingham in Boston, der andere an Dr. Earnhart in New York. Lassen Sie die ublichen Begleitbriefe schreiben. Fugen Sie Abschriften der Krankengeschichte bei und bitten Sie beide, ihren Befund telegrafisch zu ubermitteln.«

»Jawohl.« Den Behalter mit den Objekttragern unter dem Arm ging Bannister hinaus.

Wenigstens hier hat der Alte schnell und richtig gehandelt, dachte Coleman. Krankheitsregister oder nicht, die Ansicht von zwei Experten uber diesen Fall einzuholen, war ein guter Gedanke.

Pearson sagte: »In zwei bis drei Tagen mu?ten wir Antwort haben. Inzwischen mu? ich wohl mit Lucy Grainger reden.« Er uberlegte. »Ich werde ihr nicht zuviel sagen, nur, da? geringe Zweifel vorhanden sind und wir« - er warf Coleman einen scharfen Blick zu - »eine Bestatigung von anderer Seite einholen.«

XIII

Vivian verhielt sich vollig still - war verwirrt, verstandnislos. Das durfte ihr doch nicht geschehen. Es mu?te jemand anders sein, von dem Dr. Grainger da sprach. Ihre Gedanken ubersturzten sich. Ja, das war es! Irgendwie mu?ten die Krankenblatter von zwei Patienten verwechselt worden sein. Das war in Krankenhausern schon vorgekommen. Dr. Grainger hatte sehr viel zu tun. Sie konnte leicht etwas verwechseln. Vielleicht wurde jetzt einem anderen Patienten gesagt, da?...

Unvermittelt brach sie diesen Gedankengang ab, hielt bewu?t inne, versuchte, sich klarzuwerden. Es war keine Verwechslung. Sie wu?te es. Klar und eindeutig erkannte sie es am Gesichtsausdruck von Dr. Grainger und von Mike Seddons, die Vivian jetzt von beiden Seiten ihres Krankenhausbettes beobachteten, in dem sie durch Kissen im Rucken gestutzt halb lag, halb sa?.

Sie wandte sich an Lucy Grainger. »Wann werden Sie es. endgultig wissen?«

»In zwei Tagen. Dr. Pearson wird uns benachrichtigen, sobald das Ergebnis vorliegt.«

»Und er wei? nicht...«

»Im Augenblick wei? er es nicht«, antwortete Lucy. »Er wei? es noch nicht mit Gewi?heit.«

»Oh, Mike.« Sie griff nach seiner Hand.

Er hielt sie zartlich. Dann sagte sie: »Entschuldigung. aber ich glaube. ich mu? weinen.«

Wahrend Seddons seinen Arm um Vivian legte, stand Lucy von ihrem Stuhl auf. »Ich komme spater wieder.« Sie fragte Seddons: »Bleiben Sie noch?«

»Ja.«

Lucy sagte: »Machen Sie Vivian ganz klar, da? noch nichts Endgultiges entschieden ist. Ich wollte nur, da? sie darauf vorbereitet ist. fur den Fall.«

Er nickte langsam mit seinem wirren, roten Haarschopf. »Ich verstehe.«

Als Lucy in den Gang hinaustrat, dachte sie: ja, davon bin ich uberzeugt.

Gestern nachmittag, als Joe Pearson sie telefonisch benachrichtigte, konnte Lucy sich nicht entschlie?en, ob sie Vivian sofort daruber unterrichten solle, welche Moglichkeit bestand, oder ob sie damit bis spater warten solle. Wenn sie wartete, und der pathologische Befund uber die Probe lautete: >gutartig<, war alles in Ordnung, und Vivian wurde nie von dem drohenden Schatten erfahren, der eine Zeitlang uber ihr gelegen hatte. Aber auf der anderen Seite, wenn in zwei Tagen der pathologische Befund >bosartig< hie?, war die sofortige Amputation lebenswichtig. Konnte Vivian dann noch rechtzeitig darauf vorbereitet werden oder wurde der psychologische Schock zu gro? sein? Dieser Schock konnte auf das junge Madchen, das nicht damit rechnete, da? ihr irgend etwas Ernsthaftes fehle, ungeheuer wirken, wenn er es plotzlich und unvorbereitet traf. Es konnte Tage dauern, ehe Vivian seelisch auf die gro?e Operation vorbereitet war - Tage, die zu verlieren sie nicht riskieren durfte.

Lucy berucksichtigte dabei noch eine weitere Uberlegung. Die Tatsache, da? Joe Pearson ein Gutachten von dritter Seite einholte, war an sich schon bezeichnend. Wenn es sich um eine eindeutig gutartige Geschwulst handelte, hatte er das gleich gesagt. Die Tatsache, da? er es nicht tat, trotz seiner Ablehnung, sich in der einen oder der anderen Richtung festzulegen, als er mit ihr sprach, bedeutete, da? zumindest starke Anhaltspunkte fur die Bosartigkeit vorlagen.

Nach Berucksichtigung all dieser Argumente entschlo? Lucy sich, Vivian gleich uber die Situation zu unterrichten. Wenn das Urteil spater auf gutartig lautete, hatte sie zwar unnotigerweise Angste ausgestanden - das war richtig -, das war aber immer noch besser als ein plotzlicher, vernichtender Schlag, der sie vollig unvorbereitet traf.

Dieses unmittelbare Problem wurde auch durch das Auftreten von Dr. Seddons vereinfacht. Der junge Praktikant war am vergangenen Abend zu Lucy gekommen und hatte ihr von seinem und Vivians Plan, zu heiraten, erzahlt. Er hatte zugegeben, da? es zunachst seine Absicht gewesen war, im Hintergrund zu bleiben, da? er es sich jetzt aber uberlegt habe. Lucy war froh daruber. Das bedeutete wenigstens, da? Vivian nicht ganz fur sich allein stand und jemand hatte, bei dem sie Trost und Unterstutzung finden konnte.

Zweifellos wurde das Madchen beides in hohem Ma? notig haben. Lucy hatte ihr so behutsam, wie sie konnte, den Verdacht auf Knochenkrebs mit all seinen tragischen Konsequenzen mitgeteilt. Aber wie behutsam man seine Worte auch wahlte, tatsachlich bestand keine Moglichkeit, den Schlag wirklich zu mildern. Nun uberlegte Lucy den nachsten Schritt, den sie unternehmen mu?te: die Eltern des Madchens unterrichten. Sie sah auf den Zettel in ihrer Hand mit einer Adresse in Salem, Oregon, die sie von Vivians Krankenkarte als die der nachsten Angehorigen abgeschrieben hatte. Sie hatte schon Vivians Zustimmung, ihre Eltern zu benachrichtigen. Jetzt stand Lucy vor der schweren Aufgabe, ihnen die Nachricht durch ein Ferngesprach so schonend wie moglich zu ubermitteln.

Sie uberlegte sich, welche Schwierigkeiten sich noch ergeben konnten. Vivian war minderjahrig. Nach den Gesetzen war fur eine Amputation die Zustimmung der Eltern erforderlich. Wenn die Eltern beabsichtigten, sofort mit dem Flugzeug nach Burlington zu kommen, konnte sie die schriftliche Genehmigung bei ihrer Ankunft erhalten. Wenn nicht, mu?ten sie uberredet werden, ihre Einwilligung telegrafisch zu erteilen und Lucy das Recht einraumen, notfalls davon Gebrauch zu machen.

Sie sah auf ihre Uhr. Ihr ganzer Vormittag war mit Terminen in ihrer Sprechstunde in der Stadt ausgefullt. Vielleicht war es das beste, gleich zu telefonieren, ehe sie das Krankenhaus verlie?. Im zweiten Stock betrat sie das kleine Arbeitszimmer, das sie mit Gil Bartlett teilte. Es war kaum mehr als eine Kammer - so klein, da? sie es selten gleichzeitig benutzten. Im Augenblick war es reichlich besetzt - von Bartlett und Kent O'Donnell. Als O'Donnell sie sah, sagte er: »Verzeihen Sie, Lucy, ich gehe sofort. Fur drei Personen ist dieses Zimmer nicht gebaut worden.«

»Das ist nicht notig.« Sie druckte sich an den beiden Mannern vorbei und setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch. »Ich mu? nur schnell ein oder zwei Dinge erledigen. Dann gehe ich sofort wieder.«

»Ich rate Ihnen, zu bleiben.« Gil Bartletts Bart vollfuhrte das ubliche hupfende Auf und Ab. Sein Ton war scherzhaft. »Kent und ich sind heute morgen au?ergewohnlich tiefsinnig. Wir diskutieren gerade uber die Zukunft der Chirurgie.«

»Es gibt Leute, die behaupten, da? sie keine Zukunft hat.« Lucy pa?te ihren Ton dem Bartletts an. Sie hatte ihre Schreibtischschublade geoffnet und suchte nach klinischen Unterlagen, die sie fur eine Untersuchung in der Stadt brauchte. »Es wird behauptet, da? alle Chirurgen aussterben werden, da? sie in ein paar Jahren so veraltet sind wie Wudu-Zauberer oder Medizinmanner.«

Bartlett bereitete nichts gro?eres Vergnugen als Gesprache dieser Art. »Und wer, wenn ich fragen darf, soll unsere blutrunstige Knochenschlosserei ubernehmen?«

»Die ist dann uberflussig.« Lucy hatte die Aufzeichnungen gefunden und griff nach ihrer Aktentasche. »Alles wird durch Diagnose ersetzt. Die Medizin wird die Krafte der Natur gegen die Mi?funktionen der Natur einsetzen. Man wird beweisen, da? unsere psychische Gesundheit die Wurzel aller organischen Erkrankungen bildet. Krebs wird durch die Psychiatrie und Gicht durch angewendete Psychologie verhindert. «Sie schlo? den Rei?verschlu? ihrer Aktentasche und fugte in leichterem Ton hinzu: »Wie Sie wohl erraten haben, zitiere ich.«

»Ich kann das kaum erwarten.« Kent O'Donnell lachelte. Wie immer freute er sich uber Lucys Nahe. War es toricht oder gar lacherlich von ihm, da? er sich davor scheute, ihr Verhaltnis enger und vertrauter werden zu

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