Entscheidung von der grundsatzlichen Untersuchung der Osteoblasten, der Knochenbildungszellen, ab. Das war die ewige Frage, vor der alle Pathologen standen. Stellte die Wucherung an einer Verletzung einen naturlichen Heilungsproze? dar, um eine Lucke in der Abwehr des Korpers auszufullen? Oder wucherte die Verletzung, weil ein Neoplasma vorhanden war, und war sie folglich bosartig? Bosartig oder gutartig? Man konnte sich so leicht irren, und alles, was man tun konnte, war, sich darauf zu beschranken, die vorliegenden Erscheinungen gegeneinander abzuwagen und dementsprechend zu urteilen.

»Ich furchte, ich kann Ihnen nicht zustimmen«, sagte er hoflich zu Pearson. »Ich mochte immer noch sagen, da? dieses Gewebe gutartig ist.«

Der alte Pathologe stand schweigend und nachdenklich da, offensichtlich wog er seine Ansicht gegen die des jungeren Mannes ab. Nach einem Augenblick sagte er: »Sie werden aber wohl zugeben, da? man in diesem Fall zweifeln kann, in der einen, wie in der anderen Richtung.«

»Ja, das ist richtig.« Coleman wu?te, da? es in Situationen, wie der vorliegenden, Anla? zu Zweifeln gibt. Die Pathologie war keine exakte Wissenschaft. Sie kannte keine mathematischen Formeln, durch die man beweisen konnte, da? eine Ansicht falsch oder richtig war. Manchmal konnte man sein Urteil nur auf eine wohlerwogene Schatzung stutzen. Man konnte es kluges Raten nennen. Er verstand Pearsons Zogern. Auf dem alten Mann lag die Verantwortung fur die endgultige Entscheidung. Aber Entscheidungen dieser Art gehorten zur Arbeit des Pathologen. Vor ihnen gab es kein Ausweichen. Man mu?te sie auf sich nehmen. Nach einer Pause fugte Coleman hinzu: »Falls Sie recht haben und es tatsachlich Knochenkrebs ist, bedeutet das naturlich Amputation.«

»Das wei? ich.« Die Worte kamen heftig, aber ohne Feindschaft. Coleman erkannte: Wie vernachlassigt die Abteilung in anderer Hinsicht auch sein mochte, Pearson war ein zu erfahrener Pathologe, um eine ehrliche abweichende Meinung zu verubeln. Au?erdem wu?ten sie beide, wie trugerisch die Voraussetzungen bei jeder Diagnose waren. Jetzt ging Pearson durch das Zimmer. Als er sich umdrehte, sagte er grimmig: »Diese verfluchten Grenzfalle. Ich hasse sie. Immer wieder, wenn ich darauf sto?e. Man mu? eine Entscheidung treffen und wei? genau, da? sie falsch sein kann.«

Ruhig antwortete Coleman: »Gilt das nicht fur einen gro?en Teil der Pathologie?«

»Aber wer wei? das sonst? Das ist doch der springende Punkt.« Pearsons Erwiderung war laut, fast leidenschaftlich, als ob der Jungere eine empfindliche Stelle getroffen habe. »Die Offentlichkeit wei? nichts - nichts ist gewisser als das. Sie sieht den Pathologen nur im Kino oder im Fernsehen, einen Wissenschaftler im wei?en Mantel, der vor ein Mikroskop tritt, kurz hineinblickt und dann verkundet: >gutartig< oder >bosartig<. Das ist alles. Die Leute glauben, wenn man da hineinsieht« - er deutete auf das Mikroskop, mit dem sie untersuchten -, »hatte man auch ein Schema, das alles klar und ubersichtlich einteilt wie bei einer Ziegelmauer. Aber sie haben keine Ahnung, da? es Falle gibt, bei denen wir nicht im entferntesten sicher sein konnen.«

David Coleman hatte oft das gleiche gedacht, wenn er es auch nicht so eindeutig formuliert hatte. Ihm kam der Gedanke, da? dieser Ausbruch vielleicht durch etwas verursacht wurde, was der alte Mann schon lange in sich herumtrug. Schlie?lich war das eine Uberlegung, die nur ein Pathologe wirklich verstehen konnte. Behutsam warf er dazwischen: »Sind Sie nicht der Meinung, da? wir meistens richtig urteilen?«

»Gewi?, das stimmt schon.« Pearson ging im Zimmer umher, wahrend er sprach. Jetzt standen sie dicht beieinander. »Aber wie ist es mit den Fallen, bei denen wir uns irren? Was ist mit diesem Fall hier, wie? Wenn ich erklare: bosartig, wird Lucy Grainger amputieren. Ihr bleibt gar keine andere Wahl. Und wenn ich mich irre, verliert ein neunzehnjahriges Madchen umsonst ein Bein. Und andererseits: wenn es bosartig ist und keine Amputation vorgenommen wird, stirbt sie wahrscheinlich innerhalb von zwei Jahren.« Er schwieg. Nach einer Pause fugte er bitter hinzu: »Vielleicht stirbt sie auch so. Eine Amputation bedeutet nicht immer die Rettung.«

Damit offenbarte Pearson eine Seite seiner Personlichkeit, die Coleman nicht bei ihm vermutet hatte: eine tiefe innere Anteilnahme an dem einzelnen Patienten. Selbstverstandlich lie? sich dagegen nichts einwenden. Fur den Pathologen war es gut, wenn er sich daran erinnerte, da? er es in vielen Fallen nicht lediglich mit Gewebestuckchen zu tun hatte, sondern mit lebenden Menschen, deren Geschick er durch seine Entscheidung im Guten oder im Bosen beeinflu?te. Wenn man diese Tatsache nicht verga?, blieb man wachsam und gewissenhaft. Das hei?t, solange man sorgfaltig darauf achtete, da? man sein wissenschaftliches Urteil nicht durch seine Gefuhle beeinflussen lie?. Coleman hatte schon einige der Zweifel, die Pearson aussprach, selbst erfahren mu ssen, obwohl er viel junger war. Seinem Wesen gema?, behielt er sie fur sich selbst. Das besagte aber nicht, da? sie ihn weniger bedruckten. In dem Versuch, dem alten Mann bei seinen Uberlegungen zu helfen, sagte er: »Wenn es bosartig ist, darf keine Zeit verloren werden.«

»Ich wei?.« Pearson dachte wieder angestrengt nach.

»Darf ich vorschlagen, da? wir uns einige fruhere Falle ansehen«, sagte Coleman. »Falle mit den gleichen Symptomen?«

Der alte Mann schuttelte den Kopf. »Das geht nicht. Das dauert zu lange.«

Taktvoll drangte Coleman: »Aber wenn wir das Krankheitsregister durchgehen.?« Er schwieg.

»Wir haben keins.« Das wurde leise gesagt, und zunachst fragte sich Coleman, ob er richtig gehort habe. Dann fuhr Pearson fort, fast als habe er Colemans unglaubige Uberraschung erwartet: »Ich habe schon lange die Absicht, eins einzurichten... bin einfach nicht dazu gekommen.«

Coleman glaubte kaum, was er horte. »Hei?t das. wir konnen keine fruheren Falle studieren?«

»Es wurde eine Woche dauern, bis wir sie gefunden haben.«

Pearsons Verlegenheit war nicht mehr zu verkennen. »Diese Falle sind nicht sehr haufig, und wir haben nicht genug Zeit, danach zu suchen.«

Nichts, was Pearson sagen konnte, hatte David Coleman so schockiert wie das. Fur ihn und fur alle Pathologen, bei denen er gelernt und mit denen er bisher zusammengearbeitet hatte, war das Krankheitsregister ein wichtiges Arbeitsmittel. Es war die Quelle fur Hinweise, ein Lehrmittel, die Erganzung des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrung fur den Pathologen, ein Detektiv, der Hinweise sammelt und Losungen anbot, eine Ruckversicherung, eine Stutze in Augenblicken des Zweifels.

Das alles bot es und mehr. Es war ein Zeichen fur die Leistungen einer pathologischen Abteilung, dafur, da? sie nicht nur in den Tag hineinlebte, sondern auch Wissen fur die Zukunft aufbewahrte. Es war die Garantie, da? die Patienten des Krankenhauses von morgen in den Genu? dessen kamen, was man heute lernte. Die pathologischen Abteilungen neuer Krankenhauser betrachteten die Einrichtung eines Krankheitsregisters als eine primare Aufgabe. In alten, lange bestehenden Instituten unterschieden sich die Register ihrer Art nach. Manche waren schlicht und einfach, andere umstandlich und komplex, lieferten Daten fur die Forschung und die Statistik neben den Informationen fur die tagliche Arbeit. Aber einfach oder umstandlich, eines hatten alle gemeinsam: ihren Nutzen fur den Vergleich eines vorliegenden Falles mit gleichartigen fruheren. David Coleman konnte das Fehlen des Fallregisters im Three Counties Hospital nur mit einem einzigen Wort bezeichnen: Verbrecherisch!

Bis zu diesem Augenblick hatte er trotz des vorherrschenden Eindrucks, da? die pathologische Abteilung des Three Counties Hospitals dringend einer Neuorganisation bedurfte, versucht, sich von jedem personlichen Urteil uber Dr. Joseph Pearson zuruckzuhalten. Schlie?lich hatte der alte Mann lange allein gearbeitet, und der Arbeitsanfall in einem Krankenhaus dieser Gro?e konnte fur einen einzelnen Pathologen nicht leicht zu bewaltigen gewesen sein. Diese Belastung konnte die unzulanglichen Verfahren erklaren, die Coleman in den Labors bereits entdeckt hatte, und wenn diese Mangel auch nicht entschuldbar waren, wurden sie dadurch doch wenigstens verstandlich.

Es war auch moglich, da? Pearson in anderer Hinsicht Format besa?. Nach David Colemans Ansicht gingen im allgemeinen ein hoher medizinischer Standard mit einer guten Verwaltung Hand in Hand. Aber von den beiden war die Medizin - in diesem Fall die Pathologie - wichtiger. Er wu?te, da? es viele wei?schimmernde Abteilungen gab, die glanzendem Chrom und einer tuchtigen Verwaltung die erste Stelle einraumten und der Medizin erst in weitem Abstand die zweite. Er hatte es fur moglich gehalten, da? es hier umgekehrt war - eine schlechte Verwaltung, aber gute Medizin. Das war der Grund gewesen, warum er seine naturliche Neigung unterdruckte, den alten Pathologen auf Grund dessen zu beurteilen, was er bisher gesehen hatte. Aber jetzt fand er es unmoglich, sich langer Illusionen hinzugeben. Dr. Joseph Pearson war nachlassig und unfahig.

Coleman versuchte, die Verachtung in seiner Stimme zu verbergen, und fragte: »Was beabsichtigen Sie zu tun?«

»Ich kann nur eines tun.«

Pearson war an seinen Schreibtisch zuruckgegangen und hatte das Telefon abgehoben. Er druckte auf einen Knopf. Nach einer Pause sagte er: »Bannister soll kommen.«

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