vierzig Minuten im Gange. Die beiden alten Manner sa?en an einem niedrigen Spieltisch aus Rosenholz einander in der eichengetafelten Bibliothek gegenuber, in der vor drei Wochen O'Donnell und Swayne ihr Wortgefecht gefuhrt hatten. Nur zwei Lampen brannten in dem Raum; eine unter einem Schirm hing unmittelbar uber dem Spieltisch, die andere, eine gedampft schimmernde Rokokolampe, stand neben der Tur zur Halle. Die Kopfe beider Manner lagen im Schatten, das Licht zwischen ihnen fiel unmittelbar auf das eingelegte Schachbrett in der Mitte des Tisches. Nur wenn der eine oder der andere sich vorbeugte, um eine Figur auf dem Brett zu ziehen, lie? der Rand des Lichtscheins kurz ihre Gesichter erkennen.
Im Augenblick schwiegen beide. Die tiefe Stille des Zimmers lag wie eine dampfende Hulle uber den beiden Louis XV.-Sesseln, in denen sie sa?en. Eustace Swayne hatte sich zuruckgelehnt. Er hielt ein Kognakglas aus Rubinkristall zwischen den Fingern und uberprufte den Stand der Partie.
Dr. Joseph Pearson war zuletzt am Zug gewesen. Vor ein oder zwei Minuten hatte er die wei?e Dame der kostbaren, aus indischem Elfenbein geschnitzten Schachfiguren behutsam aufgenommen und die Figur ein Feld vorgeschoben.
Jetzt stellte Eustace Swayne das Kognakglas ab und schob den Bauern an seinem au?ersten rechten Flugel zwei Felder vor. Dann unterbrach er das Schweigen und sagte brummend: »Ich habe gehort, da? es im Krankenhaus Veranderungen gegeben hat.«
Joe Pearson studierte das Schachbrett im Lichtschein der Lampe. Nachdem er uberlegt hatte, beugte er sich vor, schob seinen au?ersten linken Bauern ein Feld weiter und blockierte damit den Weg des Gegners. Erst dann antwortete er mit dem einzigen geknurrten Wort: »Einige!«
Wieder herrschte Schweigen, Friede, als ob die Zeit stillstehe. Dann regte sich der alte Finanzmann in seinem Stuhl. »Finden diese Veranderungen Ihre Zustimmung?« Er griff vor und schob seinen Laufer zwei Felder diagonal nach rechts. Halb belustigt blickte er uber den Tisch in das Halbdammer; sein Ausdruck besagte: Schlage diesen Aufmarsch, wenn du kannst.
Diesmal antwortete Joe Pearson, ehe er zog.
»Nicht vollig.« Er blieb im Schatten, studierte die Position des Gegners, erwog die vorhandenen Moglichkeiten. Dann griff er wieder behutsam nach den Figuren und schob seinen Turm ein Feld nach links, so da? er eine offene Linie beherrschte.
Eustace Swayne wartete. Eine Minute verging, eine zweite, dann eine dritte. Schlie?lich griff er nach seinem Turm zu einem ahnlichen Zug auf die gleiche offene Linie, um den Angriff seines Gegners abzuwehren, und sagte: »Sie haben in Zukunft die Moglichkeit, Ihr Veto einzulegen, falls Sie davon Gebrauch machen wollen. «
»So? Was fur eine Art Veto?« Die Frage kam beilaufig, aber die Handlung, die sie begleitete, erfolgte schnell. Pearson ergriff seinen Damenspringer und placierte ihn auf eines der Mittelfelder.
Wahrend Swayne das Brett studierte und die Starke seiner Stellung erwog, antwortete er: »Ich habe Orden Brown und eurem Chef der Chirurgie gesagt, da? ich bereit bin, eine Viertelmillion Dollars fur den Baufonds zu geben.« Mit dem letzten Wort machte er einen Zug, der dem Pearsons entsprach, und setzte seinen Konigsspringer vor, neben das Feld mit dem stark placierten Springer seines Gegners.
Diesmal dauerte das Schweigen lange. Am Ende nahm der Pathologe seinen Laufer, zog ihn uber das ganze Feld und schlug einen Bauern. Ruhig sagte er: »Schach.« Dann: »Das ist viel Geld.«
»Ich habe eine Bedingung daran geknupft.« Swayne, jetzt in der Defensive, zog seinen Konig ein Feld nach rechts. »Das Geld wird nur gegeben, wenn Sie freie Hand behalten, Ihre Abteilung im Krankenhaus in der Weise und so lange zu leiten, wie Sie wunschen.«
Dieses Mal macht Joe Pearson keinen Zug. Er schien nachzudenken, blickte in die Dunkelheit uber dem Kopf des anderen. Dann sagte er einfach: »Sie beschamen mich.« Seine Augen wendeten sich wieder dem Schachbrett zu. Nach einer Weile setzte er seinen Springer auf ein Feld, so da? die Figur Swaynes jetzt den in die Enge getriebenen Konig angriff.
Eustace Swayne hatte den Zug sorgfaltig beobachtet. Aber vor seinem Gegenzug griff er nach der Kognakkaraffe, fullte Pearsons Glas, dann sein eigenes. Als er die Karaffe abstellte, sagte er: »Wir leben in einer Welt der jungen Manner, und ich nehme an, da? sie immer eine Welt der jungen Manner war, selbst wenn alte Manner manchmal noch Macht besitzen. und den Verstand, sie zu benutzen.« Dann griff er mit funkelnden Augen vor, nahm den Bauern vor seinem Konig und schlug damit den lastigen Springer.
Nachdenklich strich Pearson mit Daumen und Zeigefinger uber sein Kinn. Dann nahm er seine Dame, zog sie sechs Felder auf der offenen Line vor und schlug den Bauern des schwarzen Konigs. »Sie sagen. Orden Brown und O'Donnell wissen das?«
»Ich habe es ihnen eindeutig klargemacht.«
Der alte Finanzmann schlug mit seinem Konigslaufer den Laufer seines Gegners auf g5.
Plotzlich schmunzelte Joe Pearson. Es war nicht zu erkennen, ob das Spiel oder die Unterhaltung seine Heiterkeit verursachte. Aber schnell griff er vor. Er schob seine Dame neben den schwarzen Konig, sagte leise: »Matt.«
Eustace Swayne verhehlte seine Bewunderung fur den entscheidenden Uberraschungsangriff nicht. Er nickte, wie um sein eigenes Urteil zu bestatigen.
»Ja«, sagte er, »Sie sind ohne Zweifel so gut wie eh und je.«
Die Musik endete, und die Paare auf der Tanzflache des kleinen, aber eleganten Nachtlokals - eines der wenigen, die Burlington aufweisen konnte - begaben sich langsam zu ihren Tischen zuruck.
»Verraten Sie mir, was Sie denken«, forderte Denise Quantz O'Donnell auf. Sie lachelte ihm uber die schwarze Platte des kleinen Tisches zu, der zwischen ihnen stand.
»Ehrlich gesagt, ich dachte gerade, da? es hubsch ware, wenn wir diesen Abend wiederholen konnten.«
Ganz leicht hob sie das Glas in ihrer Hand. Es enthielt den Rest ihres zweiten Old Fashioned. »Hoffentlich denken Sie es noch ofter.«
»Darauf trinke ich gern.« Er leerte seinen Scotch und Soda, winkte dann dem Kellner und bestellte das gleiche. »Wollen wir tanzen?« Die Musik hatte wieder eingesetzt.
»Sehr gern.« Sie erhob sich, wendete sich ihm halb zu, als er ihr zu der kleinen, gedampft beleuchteten Tanzflache folgte. Er hob seine Arme, und sie legte sich in sie hinein. Sie tanzten dicht aneinander.
O'Donnell war nie ein guter Tanzer gewesen, die Medizin hatte ihm dazu zuwenig Zeit gelassen. Aber Denise Quantz folgte jedem seiner Schritte. Wahrend die Minuten verstrichen, spurte er ihren Korper, schlank, biegsam, ihm gehorsam folgend, die Musik und seine Bewegungen vorausahnend. Einmal strich ihr Haar leicht uber sein Gesicht und brachte einen Hauch des gleichen Parfums mit sich, das er schon bei ihrer ersten Begegnung wahrgenommen hatte.
Das Funf-Mann-Orchester, gedampft und unaufdringlich, seine Arrangements sorgfaltig auf die intime Umgebung abgestimmt, spielte ein einschmeichelndes, ein paar Jahre altes Lied von Pyramiden am Nil, Tropeninseln, Sonnenaufgangen und ewiger Liebe. Einen Augenblick hatte er das Gefuhl, als lebe er von geliehener Zeit, als ob er sich in einem Vakuum befinde, als ob er von allem abgeschlossen sei, fern von der Medizin, von dem Three Counties Hospital und den anderen Dingen, mit denen er taglich lebte. Dann ging die Musik in ein schnelleres Tempo uber, und er mu?te uber seine Sentimentalitat lacheln.
Wahrend sie tanzten, fragte er: »Kommen Sie oft hierher -nach Burlington, meine ich?«
»Eigentlich nicht«, antwortete sie. »Gelegentlich, um meinen Vater zu besuchen, aber das ist auch alles. Offen gesagt, kann ich die Stadt nicht leiden.« Dann lachend: »Ich hoffe, da? ich damit nicht Ihren Burgerstolz verletze.«
»Nein«, antwortete er. »Ich bin in der einen oder anderen nicht unabhangig geblieben. Aber sind Sie nicht hier geboren worden...« Er fugte hinzu: »Denise - wenn ich darf?«
»Selbstverstandlich, wir wollen nicht formell miteinander sein.« Sie sah gerade zu ihm auf und lachelte. Als Antwort auf seine Frage sagte sie: »Ja, ich wurde hier geboren. Ich bin hier aufgewachsen und ging hier auch zur Schule. Meine Mutter lebte damals noch.«
»Und warum wohnen Sie jetzt in New York?«
»Ich glaube, ich bin New Yorkerin aus Instinkt. Au?erdem wohnte mein Mann in New York; er lebt immer noch dort.« Es war das erstemal, da? sie ihren Mann erwahnte. Sie tat es leichthin und ohne Verlegenheit. »Nachdem wir uns trennten, stellte ich fest, da? ich New York nicht mehr verlassen wollte. Es gibt keine Stadt, die man mit New York vergleichen kann.«
»Ja«, antwortete er, »das stimmt wohl.« Er dachte wieder: Wie schon diese Frau ist. Sie besa? ohne jeden