Selene zuckte die Achseln, als wollte sie sagen: Machen Sie, was Sie wollen.
Sie hatte einen entfernt orientalischen Zug um die Augen, der ihm schon bei vielen Mondmadchen aufgefallen war, doch ihr Haar war honigfarben, und ihre Nase ragte keck hervor. Alles in allem war sie attraktiv, ohne klassisch schon zu sein.
Der Mann von der Erde starrte auf das Namensschild, das sie an ihrer Bluse uber der hohen, nicht zu gro?en linken Brust trug. Sie kam zu dem Schlu?, da? er wirklich nur das Namensschild betrachtete und nicht die Brust, obwohl die Bluse halb durchsichtig war, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel auf den Stoff traf, und obwohl sie nichts darunter trug.
'Gibt es denn viele Selenes hier?' fragte er.
'O ja. Hunderte. Und auch Cynthias, Dianas und viele Madchen namens Artemis. Selene ist ein bi?chen unschon. Von den Selenes, die ich kenne, wird die eine Halfte 'Silly' genannt und die andere 'Lene'.'
'Und in welche Kategorie fallen Sie?'
'In keine. Ich bin einfach Selene, mit drei Silben. Selene', sagte sie und betonte stark die erste Silbe, 'jedenfalls fur die, die uberhaupt meinen Vornamen verwenden.'
Das kleine Lacheln auf dem Gesicht des Erdmannes sah aus, als ob er nicht oft lachelte.
Eine Kellnerin trat an ihren Tisch und stellte mit schnellen, gleitenden Bewegungen die Teller ab.
Der Mann von der Erde war sichtlich beeindruckt. 'Es scheint ja fast, als lie?en Sie die Teller herabschweben', meinte er, zu der Kellnerin gewandt.
Die Kellnerin lachelte und verschwand.
'Versuchen Sie es ihr nur nicht nachzumachen', sagte Selene. 'Sie ist die Schwerkraft gewohnt und kann damit umgehen.'
'Und wenn ich es versuche, lasse ich alles fallen? Richtig?'
'Es wurde ein furchterliches Durcheinander geben.'
'Dann la? ich es lieber sein.'
'Die Chancen stehen gut, da? es doch jemand versucht, und dann segelt der Teller zu Boden. Der Ubeltater greift unweigerlich danach und verfehlt sein Ziel, und ich wette zehn zu eins, da? er dabei aus dem Stuhl gehoben wird. Ich wurde ja alle davor warnen, aber das ist ohnehin sinnlos, und wenn es dann trotzdem geschieht, sind die Betroffenen nur noch aufgeregter. Naturlich lachen die anderen, die Touristen - denn wir Eingeborenen haben das schon zu oft gesehen, um es lustig zu finden, und man mu? hinterher immer furchterlich aufwischen.'
Der Mann von der Erde hob vorsichtig seine Gabel. 'Ich verstehe. Sogar die einfachste Bewegung hat etwas Seltsames.'
'Eigentlich gewohnt man sich sehr schnell daran. Wenigstens an Kleinigkeiten wie das Essen. Das Gehen ist schon schwerer. Ich habe noch keinen Erdenmenschen hier drau?en vernunftig laufen sehen. Jedenfalls nicht wirklich kraftsparend.'
Eine Zeitlang a?en sie schweigend. Dann fragte er: 'Was bedeutet denn das L.?' Wieder war sein Blick auf ihr Namensschild gerichtet. Es lautete: 'Selene Lindstrom L.'
'Luna, weiter nichts', antwortete sie ziemlich gleichgultig, 'damit ich mich von den Immigranten unterscheide. Ich bin hier geboren.'
'Wirklich?'
'Das ist gar nicht so verwunderlich. Immerhin haben wir schon seit uber einem halben Jahrhundert eine funktionierende Gesellschaft hier oben. Glauben Sie etwa, bei uns werden keine Babies geboren? Es gibt Leute, die hier geboren sind und schon Gro?kinder haben.'
'Wie alt sind Sie?'
'Zweiunddrei?ig', erwiderte sie.
Er sah sie verblufft an und murmelte schlie?lich: 'Naturlich.'
Selene hob die Augenbrauen. 'Sie wissen also Bescheid? Den meisten Fremden mu? man es erst erklaren.'
'Ich wei? jedenfalls, da? die meisten sichtbaren Alterserscheinungen dem unweigerlichen Sieg der Schwerkraft uber das Korpergewebe entspringen - die Schlaffheit der Wangen, das Herabhangen der Bruste. Da die Mondschwerkraft nur ein Sechstel der Erdgravitation betragt, ist es eigentlich leicht begreiflich, da? die Menschen hier sehr lange jung aussehen.'
'Jung aussehen - das ist es', meinte Selene. 'Wir sind keinesfalls unsterblich. Unsere Lebenserwartung ist etwa so gro? wie die der Erdbewohner, doch haben wir meistens ein angenehmeres Alter.'
'Das ist nicht zu unterschatzen... Naturlich gibt es auch Nachteile, nehme ich an.' Der Mann hatte eben zum erstenmal von seinem Kaffee gekostet. 'Da ware zum Beispiel dieses ...' Er suchte nach einem Wort und gab es schlie?lich auf.
'Wir konnten naturlich Lebensmittel und Getranke von der Erde importieren', sagte sie amusiert, 'aber nur so viel, da? sich damit ein winziger Teil der Bevolkerung fur kurze Zeit ernahren lie?e. Das ware sinnlos, solange wir den Laderaum fur lebenswichtigere Dinge zur Verfugung haben. Au?erdem sind wir das Zeug gewohnt - oder wollten sie etwa ein starkeres Wort verwenden?'
'Nicht fur den Kaffee', entgegnete er. 'Das wollte ich mir fur das Essen aufheben. Aber 'Zeug' kommt schon hin... Sagen Sie... auf dem Plan fur die Tour habe ich das Protonensynchrotron vermi?t.'
'Das Protonensynchrotron?' Sie leerte ihre Tasse und begann sich umzusehen, als versuchte sie den richtigen Augenblick abzuschatzen, ihre Schafchen wieder auf die Beine zu bringen. 'Das steht unter terrestrischer Verwaltung und ist Touristen leider nicht zuganglich.'
'Auch Lunarier durfen nicht heran?'
'O doch. Das Personal besteht sogar hauptsachlich aus Luna-riern. Aber es ist die terrestrische Regierung, die dort zu bestimmen hat. Keine Touristen.'
'Ich wurde es sehr gern sehen', sagte er.
'Daran zweifle ich nicht... Sie haben mir Gluck gebracht; kein Teller, kein Tourist am Boden.'
Sie stand auf und rief: 'Meine Damen und Herren, in etwa zehn Minuten geht es weiter. Bitte lassen Sie die Teller einfach stehen. Die Toiletten hier stehen zu Ihrer Verfugung. Anschlie?end besuchen wir die Nahrungsmittelfabriken, in denen Mahlzeiten, wie Sie sie eben genossen haben, hergestellt werden.'
Selenes Unterkunft war naturlich nur klein und kompakt, doch sehr durchdacht. Die Fenster boten einen Panoramablick; Weltallszenen, die sich langsam und willkurlich veranderten, ohne Ahnlichkeit mit realen Konstellationen. Jedes der drei Fenster konnte nach Belieben auf teleskopartige Vergro?erung eingestellt werden.
Barron Neville mochte die Fenster nicht. Bei jedem Besuch schaltete er sie mit heftiger Bewegung ab mit der Bemerkung: 'Wie haltst du das nur aus? Du bist die einzige, die einen so schlechten Geschmack hat. Wenn diese Nebel und Sternenhau-fen wenigstens existieren wurden!'
Und Selene zuckte kuhl die Achseln und erwiderte: 'Was ist schon Existenz? Woher willst du wissen, da? die anderen Sterne da drau?en wirklich existieren? Au?erdem geben mir die Fenster ein Gefuhl der Freiheit und Bewegung. Darf ich mir das in meiner Privatunterkunft nicht gonnen, bitte sehr?'
Neville pflegte dann etwas zu murmeln und den halbherzigen Versuch zu machen, die Kontrollen wieder so einzustellen, wie er sie vorgefunden hatte.
Die Mobel waren angenehm gerundet und die Wande mit abstrakten Mustern in weichen, unauffalligen Farben bemalt. Die Darstellung von etwas Lebendigem fehlte allerdings vollig.
'Leben ist typisch fur die Erde', erklarte Selene, wenn sie darauf angesprochen wurde, 'nicht fur den Mond.'
Als sie jetzt nach Hause kam, fand sie wie so oft Neville in ihrem Zimmer; Barron Neville, der auf der schmalen Couch ruhte. Eine Sandale hatte er abgestreift, und uber seinem Bauchnabel, wo er sich gekratzt hatte, schimmerte eine Reihe roter Stellen.
'Machst du uns etwas Kaffee, Barron?' bat sie und glitt, begleitet von einem erleichterten Aufseufzen, mit anmutiger Bewegung aus ihren Kleidern, die sie achtlos zu Boden warf und mit einem Fu? in die Ecke stie?.
'Endlich erlost', sagte sie. 'Das ist das Schlimmste an der Arbeit - da? man sich wie ein Erdchen anziehen mu?.'
Neville in der Kuchenecke kummerte sich nicht um sie; den Ausspruch kannte er schon. 'Was ist mit deinem Wasservorrat?' fragte er. 'Es ist ja kaum noch etwas da.'