Kapitel 1
Das Madchen sah aus, als wurde sie sich einfach nur mitten im Farnkraut ausruhen. Ein Arm lag locker hinter ihrem Kopf, der andere ausgestreckt an ihrer Seite. Das blasse, zarte Gesicht wirkte entspannt. Die Augen mit den dunklen Wimpern waren geschlossen. Zwischen den leicht geoffneten Lippen leuchteten schone wei?e Zahne. Ihr dunkles Haar bildete einen starken Kontrast zu der bla?lich schimmernden Haut.
Allein das dunne Rinnsal Blut aus dem Mundwinkel, das inzwischen getrocknet war, und ihre scheinbar so durchscheinende Haut, die rot bis blaulich gesprenkelt war, verrieten, da? sie sich nicht einfach nur ausruhte. Ein scharfsichtiger Beobachter hatte au?erdem an ihren zerrissenen und blutverschmierten Kleidern erkennen konnen, da? etwas nicht stimmte.
Der Junge stand vor dem Madchen, blickte ausdruckslos zu ihm hinunter. Er war schmal, drahtig gebaut, hatte rotlichbraune Haare und sommersprossige, gebraunte Haut, die verriet, da? er sich die meiste Zeit bei Wind und Wetter drau?en aufhielt. Seine Lippen waren uberma?ig rot und voll, was ihm einen leichten Zug ins Ha?liche gab. Seine wa?rigen Augen hafteten auf dem Korper des Madchens. Er trug eine armellose Schaflederjacke, die von einem Ledergurtel zusammengehalten wurde. Uberdies mutete sein Au?eres durch die dicken Hosen und die Ledergamaschen wie das eines Schafers an.
Ein tiefer Seufzer drang aus seiner Kehle.
»Ach Mair, warum nur? Warum, Mair?«
Er schien nun zu schluchzen, doch sein Gesichtsausdruck blieb unverandert. Mit starrem Blick stand er noch eine Weile so da, bis er die Rufe in der Ferne vernahm. Ruckartig schaute er auf, hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt, als lauschte er. Seine Miene wirkte auf einmal gehetzt. Die schreiende Meute naherte sich ihm rasch. Jetzt konnte er ihre Rufe deutlich verstehen.
Der Junge blickte noch einmal auf das tote Madchen und rannte los.
Er war kaum zehn oder zwanzig Meter weit gekommen, als ihn ein heftiger Schlag auf die Schultern zu Boden ri?. Er sturzte nach vorn auf Hande und Knie. Muhsam rang er nach Luft.
Hinter einem Baum war ein stammiger Mann hervorgetreten, der eine dicke Holzkeule in Handen hielt. Er war dunkel, untersetzt und trug einen Vollbart. Nun stand er breitbeinig uber dem Jungen, die Keule erhoben, gewaltbereit und bedrohlich.
»Steh auf, Idwal«, brummte der Mann finster. »Sonst schlage ich noch einmal zu.«
Der Junge blickte auf, seine Schulter schmerzte.
»Was willst du von mir, Furst Gwnda?« jammerte er. »Ich habe dir nichts getan.«
Der Mann runzelte bose die Stirn. »Keine Widerrede, Bursche!«
Er zeigte auf den Weg hinter sich, auf die Leiche des Madchens. Da tauchte unter den Baumen hervor eine Gruppe von Mannern auf und lief nun den Waldweg entlang.
»Hierher!« rief der dunkelhaarige Mann. »Hierher, Leute! Ich habe ihn. Ich habe den Morder.«
Die Meute rannte auf den knienden Jungen zu, der vor Angst zu weinen anfing.
»Bei der Heiligen Jungfrau, ich schwore, ich habe sie nicht ...«
Einer der Manner, die ihn zuerst erreichten, schlug ihm seitlich auf den Kopf. Nun vollig zu Boden gestreckt, wurde der Junge glucklicherweise bewu?tlos, denn jetzt prugelten auch die anderen auf ihn ein.
»Genug!« rief der dunkelhaarige Mann. »Ich wei?, ihr seid voller Zorn. Wir werden ihn in unser Dorf mitnehmen und vor einen
»Wozu brauchen wir einen Richter, Gwnda?« rief einer der Manner. »Haben wir es nicht mit eigenen Augen gesehen? Habe ich nicht beobachtet, wie sich Idwal und die arme Mair erst vor kurzem lauthals gestritten haben? Idwal war so au?er sich, wie ich ihn noch nie erlebt habe.«
Der schwarzbartige Mann schuttelte den Kopf. »Wir mussen die Gesetze einhalten, Iestyn. Wir werden nach dem
Der Monch war jung und lief mit dem zuversichtlich raschen Schritt der Jugend den Weg durch den Wald. Er hatte den Winterumhang eng um seinen Korper geschlungen, um sich vor der fruhmorgendlichen Kalte zu schutzen. Seinen dicken Wanderstab aus Schlehdorn trug er weniger als Gehhilfe, sondern vielmehr als Waffe bei sich - jederzeit zu seiner Verteidigung einsatzbereit. Der Wald von Ffynnon Druidion, der Druidenquelle, war beruchtigt fur Stra?enrauber, die in dusteren Verstecken lauerten und hier ihr Unwesen trieben.
Bruder Cyngar hatte keine Angst, er war nur vorsichtig. In der ersten Morgendammerung dieses Herbsttages, der strahlend schon zu werden versprach, wurden, so meinte Cyngar, alle Rauber noch ihren Alkoholrausch ausschlafen. So fruh wurde kein einziger Schurke nach Opfern Ausschau halten. Nicht einmal der gefurchtete Clydog Cacynen, der hier in den Waldern hauste. Clydog, die Wespe, wurde er genannt, denn er stach zu, wenn man es am wenigsten erwartete. Ein beruchtigter Geachteter. Die Angst vor ebenjenem Clydog Cacynen hatte Bruder Cyngar dazu gebracht, bereits in aller Fruhe aufzubrechen, nachdem er die Nacht in der Hutte eines Holzfallers bei dem alten aufrecht stehenden Stein Unterschlupf gefunden hatte.
Der Rauhreif hatte sich wie ein wei?er Teppich uber den Waldboden gelegt. Die schwache winterliche Sonne versuchte, ihre Strahlen durch die weichen wei?en Wolken zu bohren. Der Wald wirkte farblos. Die Baume hatten gro?tenteils bereits ihr Laub verloren, hatte es doch schon mehrere kalte Nachte gegeben, obwohl der Spatherbst erst noch bevorstand. Hier und da waren ein paar immergrune Stechpalmen zu sehen, an deren weiblichen Exemplaren rote Beeren leuchteten. Kleine braune Zapfen schmuckten die Erlen, dazwischen sah man Birken. Aber alles wurde uberragt von hohen, ausladenden Eichen.
Ab und zu entdeckte Bruder Cyngar an Eschenstammen Holzkohlenpilze. Sie waren ungenie?bar, vertrieben aber angeblich Krampfe, wenn man sie vor dem Schlafengehen ins Bett legte, wie er gehort hatte. Aber eigentlich verachtete er solchen Aberglauben.
Es regte sich im Wald. Cyngar bemerkte eine Spitzmaus, ein winziges braunes Etwas, das aus dem Gebusch vor ihm heraushuschte. Er sah, wie die kleine Maus kurz innehielt und herumschnuffelte. Ihr schlechtes Sehvermogen wurde durch ihren einzigartigen Geruchssinn wettgemacht, denn kaum witterte sie den Fremden, piepste sie und war im Bruchteil einer Sekunde wieder verschwunden.
Uber Bruder Cyngar stie? ein am Himmel kreisender Rotmilan einen wehmutigen Schrei aus, er hatte wohl die kleine, davonhuschende Maus im kahlen Strauchwerk entdeckt, und ware nicht Bruder Cyngar gewesen, hatte er sie sich zum Fruhstuck geholt.
Nur einmal hob der Monch seinen Stock zur Verteidigung, als er in der Nahe ein unheimliches Rascheln vernahm. Doch er entspannte sich wieder, als er ein braunliches wei? gesprenkeltes Fell und ein breites Geweih erkannte, das zu einem Damhirsch gehorte, der sofort im sicheren Unterholz verschwand.
Der Waldpfad fuhrte nun auf einen offenen, mit Farnkraut uberzogenen Hang. Bruder Cyngar verspurte eine gewisse Erleichterung, weil er jetzt den Wald hinter sich hatte. Er machte sogar eine Pause, legte seinen Stock beiseite und holte, als er etwas kleines Orangefarbenes am Wegrand entdeckte, sein Messer heraus. Er kniete nieder und untersuchte die wei?e Unterseite der Pilze. Viele a?en diese roh oder in Ho-nigmet getaucht. Bruder