Cyngar legte sie in das kleine marsupium, das er am Gurtel trug.

Er erhob sich, nahm seinen Stock und schritt mit neuer Kraft voran, denn er wu?te, da? sein Ziel nun nicht mehr fern war.

Hinter dem nachsten Hohenzug lag die Gemeinschaft von Llanpadern, das heilige Kloster der Gesegneten Bruder, in der etwa drei?ig Glaubensbruder im Dienste Gottes wirkten. Dort wollte Bruder Cyngar um die Gastfreundschaft der Monche ersuchen und fruhstucken, ehe er zur beruhmten Abtei Dewi Sant auf der Halbinsel Moniu, die manche auch auf lateinisch Menevia nannten, aufbrach. Die Abtei war allen religiosen Gemeinschaften des Konigreiches von Dy-fed ubergeordnet. Sein eigener Klostervorsteher hatte Bruder Cyngar Botschaften an den dortigen Abt Tryffin anvertraut. Bruder Cyngar war am Vortag ge-gen Mittag aufgebrochen und hatte nach einer langeren Wegstrecke in der Holzfallerhutte ubernachtet, um dann von dort zu recht fruher Stunde und ohne etwas im Magen, den beruchtigten Wald von Ffynnon Druidion zu durchqueren. Ihm war wie allen anderen Pilgern, die Richtung Suden nach Moniu unterwegs waren, die sprichwortliche Gastfreundschaft von Llanpadern bekannt.

Gelassen schritt Bruder Cyngar nun voran. Die Sonne, die noch nicht ganz durch die Wolken gebrochen war, schien bereits so warm, da? sie den Morgenfrost vertrieb.

Nun hatte er den Sattel des nackten felsigen Berges erreicht, den man Carn Gelli nannte. An seinem hochsten Punkt war ein kleiner Steinhugel kunstvoll aufgeschichtet. Darunter befand sich ein altes Grab, das dem Berg seinen Namen verlieh. Bruder Cyngar blieb stehen und schaute ins Tal hinunter. Dort lag das Kloster, ein Komplex aus grauen Steingebauden. Aus einem gro?en Schornstein stieg Rauch auf. Bruder Cyngar lief den Pfad weiter, immer schneller, getrieben von dem Wunsch, rasch das Kloster zu erreichen.

Als er sich dem Tor naherte, mu?te er zu seiner Verwunderung feststellen, da? es offenstand und weit und breit niemand zu sehen war. Unwillkurlich lief ihm ein Schauer uber den Rucken. Das war ungewohnlich, selbst zu dieser fruhen Stunde, denn sonst traf man die Bruder von Llanpadern auf den umliegenden Feldern an, machten sie sich doch schon beim ersten Tageslicht an die Arbeit, auch an einem kalten Herbstmorgen wie diesem. Gewohnlich herrschte an den Toren und auf den Feldern reges Treiben.

Beklommen blieb Bruder Cyngar am Tor stehen. Heute versah dort niemand seinen Dienst. Nach kurzem Zogern trat er zu dem holzernen Pfosten, um an der Bronzeglocke zu ziehen, die dort hing. Ein schauriger Klang hallte nach. Nichts ruhrte sich daraufhin, kein Laut war zu vernehmen. Es gab keinerlei Anzeichen dafur, da? sich uberhaupt jemand im Kloster aufhielt.

Bruder Cyngar wartete einige Augenblicke und zog dann noch einmal die Glocke mit ihrem fordernden Lauten, diesmal langer und beharrlicher. Doch wieder regte sich nichts.

Langsam schritt er in den ausgestorbenen Innenhof und blickte sich um.

Uberall herrschte Totenstille.

Mitten auf dem Hof war eine mindestens vier Meter hohe Pyramide aus Asten und Holzscheiten aufgeschichtet, die aussah, als sollte sie in nachster Zeit angezundet werden und als ein riesiges Freudenfeuer in Flammen aufgehen. Der junge Mann betrachtete sie genauer und rieb sich dabei nachdenklich die Wange.

Er unterdruckte den Schauer, der ihm erneut uber den Rucken fahren wollte, und lief uber den viereckigen Hof auf die Tur der Kapelle zu und stie? sie auf. Die Kapelle wirkte duster, obwohl es heller Vormittag war. Nicht einmal die Altarkerzen waren angezundet. In dem Dunkel konnte er kaum etwas erkennen.

Da Bruder Cyngar das Kloster schon mehrere Male besucht hatte, kannte er sich hier gut aus und trat nun durch eine kleine Tur, die zum Wohntrakt fuhrte, wie er wu?te. Die Monche verbrachten die Nacht in einem gro?en Schlafsaal, der jetzt vor ihm lag. Die Betten wirkten unberuhrt. Sie schienen entweder sehr fruh aufgestanden zu sein und hatten sie gerichtet, oder sie waren in der letzten Nacht uberhaupt nicht schlafen gegangen.

Wahrend Bruder Cyngar zwischen den leeren Bettreihen umherwandelte, wurden seine Lippen immer trockener, und seine Unruhe nahm zu. Irgend etwas riet ihm, sich ganz leise uber den Steinfu?boden zu bewegen.

Hinter dem Schlafsaal befand sich das Refektorium, der Speisesaal des Klosters.

Auch der wirkte wie ausgestorben, das hatte er schon vermutet. Doch auf welche Weise leer und verlassen er ihn vorfinden wurde, das hatte er nicht geahnt. Ein paar ru?ig flackernde Kerzen erleuchteten den Saal, und zu seiner Uberraschung sah Bruder Cyngar, da? die Tische alle gedeckt waren und sich auf jedem Holzteller noch die halb verzehrten Speisen befanden. Messer und Loffel lagen so herum, als waren die Monche bei ihrer Mahlzeit gestort worden. Neben den Gedecken standen Becher mit Wasser oder Wein.

Plotzlich schreckte Cyngar nervos auf und lie? seinen Schlehdornstock mit lautem Gepolter zu Boden fallen. Auf einem Tisch unweit von ihm zog eine schwarze Ratte etwas von einem Teller herunter und huschte mit ihrer Beute davon. Bruder Cyngar pre?te die Lippen fest aufeinander, dann beugte er sich nach unten, um seinen Stock aufzuheben.

Nirgendwo sah er ein Anzeichen, das erklart hatte, warum die Monche die Tafel so ubersturzt verlassen hatten. Es gab keine Unordnung, Stuhle und Banke waren zuruckgeschoben, als hatten sich alle ganz normal erhoben, nichts deutete darauf hin, da? sie das Refektorium hektisch oder in Panik verlassen hatten. Bruder Cyngar ging zwischen den Tischen auf und ab und suchte nach Hinweisen, die den Anblick, der sich seinen unglaubigen Augen bot, hatten erhellen konnen.

Ihm fiel auf, da? die Kerzen fast heruntergebrannt waren, also hatte man sie lange vor seinem Eintreffen angezundet, an ein oder zwei Stellen war das Kerzenwachs auf den Tisch gelaufen. Es mu? sich um das Abendessen handeln, dachte Bruder Cyngar, also mussen die Monche vor Beendigung ihrer Mahlzeit einfach aufgestanden sein, alles ordentlich hinterlassen haben und ... und einfach verschwunden sein! Bruder Cyngar begann vor Angst zu zittern.

Dann nahm er all seinen Mut zusammen und machte sich daran, die restlichen Gebaude des Klosters abzusuchen, eines nach dem anderen. Die Raume des Klostervorstehers waren ordentlich und sauber, sein Bett war unberuhrt, und auch hier gab es keine Anzeichen fur einen Tumult oder einen plotzlichen Aufbruch. Das kleine Skriptorium wirkte ebenfalls aufgeraumt, die Bucher standen in Reih und Glied in den Regalen. Drau?en, auf der anderen Seite des Innenhofs, in den Lagerraumen, befand sich ebenfalls alles an seinem Platz, und als der junge Monch die Stallungen betrat, hatte auch dort alles seine Ordnung.

Erst als er wieder uber den Hof zur Kapelle zuruckeilte, wurde ihm bewu?t, was das zu bedeuten hatte. In den Stallen fehlten die Tiere, weder Huhner, Schweine noch Kuhe oder Schafe, selbst die beiden Maulesel, die im Kloster gehalten wurden, waren da. Sie waren wie die Monche allesamt wie vom Erdboden verschluckt.

Bruder Cyngar hielt sich fur einen logisch denkenden jungen Mann. Er war der Sohn eines Bauern, so schnell lie? er sich nicht in Angst und Schrecken versetzen. Ehe die Furcht die Oberhand gewann, mu?ten erst einmal alle Fakten und moglichen Deutungen untersucht und genauer in Augenschein genommen werden. Vorsichtig naherte er sich dem Haupttor und suchte dabei mit den Augen den Boden ab, als wurde er dort auf Hinweise sto?en, die die Flucht der Monche und der Tiere erklarten. Die Kuhe und Maulesel wurden vor dem Tor sicher Spuren hinterlassen haben. Doch im weichen Boden war nichts zu sehen. Er entdeckte ein paar tiefe Wagenspuren, aber das war nicht ungewohnlich. Viele Bauern der Umgebung trieben regelma?ig mit dem Kloster Handel. Die Wege nach Norden und Westen waren steinig, also wurden dort die Fahrten rasch verschwinden. Er konnte ein paar Abdrucke von flachen Sandalen, wie sie die Monche trugen, erkennen, aber sonst so gut wie nichts. So blieb ihm nur der Schlu?, da? die Gemeinde wie Rauch im Wind zerstoben sein mu?te.

Bruder Cyngar verspurte den Drang, auf die Knie zu fallen und ein Gebet zu sprechen, um das Bose von sich fernzuhalten, denn was man nicht auf naturliche Weise erklaren konnte, mu?te das Werk des Ubernaturlichen sein. Fur das ausgestorbene Kloster gab es im Augenblick keine Erklarung. Zumindest keine, die ihm in den Sinn kam.

Konnte es sein, da? Pater Clidro, der Klostervorsteher von Llanpadern, und seine Mitbruder sich mitten beim Abendessen von den Tischen erhoben hatten, die Kerzen hatten brennen lassen, alle Tiere um sich geschart hatten und dann ... Was dann? Wie von Geisterhand vertrieben worden waren?

Als ein von der Vernunft bestimmter junger Mann zwang sich Bruder Cyngar, noch einmal ins Refektorium zuruckzukehren und die Kerzen auszuloschen, ehe er wieder zum Haupttor ging. Wieder lie? er die Augen umherschweifen, dann schlo? er die Tore. Unschlussig stand er da. Was sollte er nun tun?

Er wu?te, da? sich ein paar Meilen nach Norden die gro?ere Gemeinde Llanwnda befand. Gwnda, der Furst von Pen Caer, war ein Mann der Tat und allseits dafur bekannt. Sollte er sich dorthin aufmachen? Doch da fiel ihm ein, da? es in Llanwnda keinen Priester gab, und was sollten Gwnda und seine Leute gegen die ubernaturlichen Machte des Bosen ausrichten, durch die sich die Bruderschaft von Llanpadern offensichtlich in Luft aufgelost hatte?

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