»Wenn du mich wegen der Eindringlinge von gestern abend fragst, so habe ich dir doch schon erklart, da? die fremden Krieger uber die Mauern geklettert sind und ...«

»Danach frage ich nicht. Ich mochte wissen, wer die Frau ist, die gestern abend in der Abtei war. Und damit meine ich nicht meine Gefahrtin.«

Bruder Willibrod blickte ihn mit emporter Miene an.

»Bist du verruckt? Eine Frau hier in der Abtei? Unmoglich!«

»Nicht unmoglich. Ich sah sie in dem Hof neben der Kapelle. Eine schlanke Frau, blond, in einem roten Kleid und mit Juwelen geschmuckt.«

Bruder Willibrod trat einen gro?en Schritt zuruck. Verbluffung huschte uber sein Gesicht. Dann erstarrte es zu einer Maske.

»Es gab keine solche Frau in der Abtei, weder gestern abend noch sonst irgendwann.« Er drehte sich um und ging so schnell weg, da? Eadulf ihm nur uberrascht nachschauen konnte.

Wahrend er noch dastand, kam der junge Bruder Redwald mit zwei Eimern Wasser fur die Gastezimmer um die Ecke.

»Guten Morgen, Bruder Eadulf«, gru?te er unsicher. »Kann ich irgend etwas fur dich oder fur Schwester Fidelma tun?«

»Vielen Dank«, antwortete Eadulf duster. »Ich glaube, alles Notige wird schon getan.« Er wollte bereits weitergehen, da fiel ihm etwas ein, und er fuhr fort: »Du konntest mir sagen, wo ich Bruder Osred finde. Ich wollte gestern abend mit ihm sprechen, bekam aber keine Gelegenheit dazu.«

»Bruder Osred? Der Schmied?« Bruder Redwald kniff nachdenklich die Lippen zusammen. »Ich glaube, der ist mit den andern fort.«

Eadulf runzelte die Stirn. »Fort mit den andern? Was soll das hei?en?«

»Vor kurzer Zeit hat Abt Cild eine kleine Schar von Brudern hinausgefuhrt. Sie wollen ins Moorland und den Geachteten Aldhere aufspuren.«

»Was?« Eadulf fiel ein, da? er sich gelobt hatte, Cild zu begleiten, um dafur zu sorgen, da? so etwas wie Gerechtigkeit geubt wurde, falls der Abt den Geachteten ergreifen sollte. Im nachsten Augenblick rannte Eadulf hinter Bruder Willibrod her.

Kapitel 6

Der traurige Ruf einer einsamen Rohrdommel veran-la?te Eadulf, das Maultier zu zugeln, das er ritt, und sich enttauscht umzuschauen. Ein Stuck weit vor sich sah er den Vogel in seinem schwarz und braun gestreiften Federkleid vorsichtig an den wogenden Halmen des Schilfs herumturnen, sich an ihnen mit den Krallen emporziehen, um das umgebende Gelande zu uberblicken. Dann hatten seine hellen Augen Eadulf erspaht, und er verschwand im Schutz der Pflanzen.

Nur wenige Monate zuvor, das wu?te Eadulf, hatte dieses hohe Schilf ein wildes dramatisches Bild vor dem sturmerfullten Himmel geboten, ein Bild, das ihn durch seine Schonheit bezaubert hatte. Doch jetzt trugen die Halme keine Blutenstande mehr und waren gebeugt von der Last des Schnees, niedergedruckt durch das kalte Frostwetter. Das war jedoch nur eine vorubergehende Vorstellung, denn wichtigere Dinge beschaftigten ihn.

Eadulf mu?te sich eingestehen, da? er sich verirrt hatte.

Er hatte Bruder Willibrod uberreden konnen, ihm eins der wenigen in den Stallen der Abtei verbliebenen Maultiere zu leihen, damit er Abt Cild und dem halben Dutzend bewaffneter Monche, die dieser bei sich hatte, nachreiten konnte. Er hatte dem dominus eingeredet, Abt Cild habe das Angebot seiner Begleitung angenommen und wohl nur vergessen, auf ihn zu warten.

»Ich kann sie leicht einholen«, hatte Eadulf Bruder Willibrod versichert. »Ich folge ihren Spuren im Schnee.«

Der dominus hatte ihn ziehen lassen, doch au?erst widerwillig. Sein Widerwille war berechtigt, denn Eadulf hatte nicht bedacht, da? der Schnee trocken und pulvrig war und der Wind in Sto?en daruberfuhr und ihn hierhin und dorthin blies. Er war noch nicht weit von der Abtei entfernt, als er feststellen mu?te, da? der Wind alle Spuren von Abt Cild und seinen Mannern verweht hatte.

Nun hatte Eadulf umkehren sollen, doch seine Hartnackigkeit trieb ihn weiter, seine Entschlossenheit, die ihm oft half, Widerstande zu uberwinden. Er gab dem Maultier die Sporen, wenngleich ohne gro?e Zuversicht. Es war ein kraftiges, starkbeiniges Tier, das an hartes Winterwetter gewohnt war, doch ebenso bekannt war fur seine Hartnackigkeit, die der Eadulfs gleichkam. Und Eadulf gab bereitwillig zu, da? er sich in keinem Sattel wohl fuhlte. Ihm ging es nicht so wie Fidelma, die reiten beinahe eher als laufen gelernt hatte. Er war unsicher und wu?te, da? die Tiere seine Unsicherheit spurten, vor allem dieses muskelbepackte Maultier.

Trotz der dichten Schneedecke merkte Eadulf, da? er sich jetzt im Moorland befand und die Kuste nicht weit entfernt war. Er war nahe dieser Gegend aufgewachsen, hatte sich aber nie in sie hineingewagt. Diese Landschaft mit den kleinen Bachen und Lagunen, dem Mischwald und den Strecken von jetzt unter dem Schnee verborgenem Heideland darin, das alles war typisch fur die flachen Marschen, die den Kustenstreifen des Konigreichs der Ost- Angeln bildeten. Doch es gab keine Spuren, denen er folgen konnte, nichts Greifbares, keine markanten Punkte, an denen er sich zu orientieren vermochte.

Aus der Nahe kam ein scheltendes »Ziepdididi-di«, flog dicht an seinem Kopf vorbei und verklang in der Ferne. Er erhaschte gerade noch einen Blick auf eine winzige wei?braune Gestalt mit schimmerndem schwarzem Kopf. Etwas hatte die Sumpfmeise aufgeschreckt, und dann sah Eadulf, was es gewesen war. Ein Rohrweihenweibchen, zu erkennen an seinem gro?en dunkelbraunen Korper und den hellbraunen Schultern und Kopf, war auf Beutejagd. Der Greifvogel ernahrte sich von kleinen Vogeln ebenso wie von Mausen und anderen kleinen Saugetieren.

Eadulf hoffte, die Sumpfmeise wurde ihrem hungrigen Verfolger entkommen.

Er wu?te, da? er nun dicht am Meer war. Er spurte den Salzgeruch in der Luft und sah, da? der Schnee hier dunner lag, weil die Heide in Sanddunen und Kiesstrand uberging. Dahinter war die lange Linie des Meereshorizonts auszumachen in dem Grau, zu dem Himmel und Wasser verschmolzen. Hier und da wuchsen kleine Sanddornbusche in den Dunen. Eadulf fiel auf, da? sie noch einige der orangeroten Beeren trugen, die er als Kind fur seine Mutter gesammelt hatte, die Marmelade daraus kochte.

Ein Stuck weit vor sich sah er einen kleinen Land-vorsprung, eine grasbewachsene Erhebung, die wie ein bescheidenes Vorgebirge aus einer dicht bewaldeten Gegend heraustrat und sich zu einer Spitze erhob, von der das Land an allen Seiten au?er der Landverbindung wie in winzigen Klippen zum Meer hin abfiel. Es bildete eine kleine Halbinsel. Eadulf vermutete, da? er von diesem Punkt aus wahrscheinlich weit uber das Moorland blicken und den Abt und seine Bruder erspahen konnte.

Er lenkte das Maultier auf den Wald zu. Sollte er von diesem Aussichtspunkt aus Abt Cild und seine Leute nicht sehen konnen, uberlegte er, dann mu?te er wohl zur Abtei zuruckkehren. Falls Abt Cild Aldhere ergreifen sollte, hatte er eigentlich dabei sein wollen, um zu horen, was dieser dazu sagte, da? man ihn des Mordes an Bruder Botulf beschuldigte. Er wollte dafur sorgen, da? Gerechtigkeit geubt wurde. Doch diese Gelegenheit hatte er offenbar verpa?t, und er war sich sicher, da? der Abt keine weitere Einmischung von seiner Seite hinnehmen wurde.

Eadulf ritt durch das Waldchen auf die kleine Landzunge zu. Als er aus seinem Schutz herauskam, erblickte er etwas, was ihn die Zugel so scharf anziehen lie?, da? sein Reittier unwillig schnaubte und mit den Vorderhufen aufstampfte. In Lee der Landzunge lag ein angelsachsisches Langschiff am Ufer, und etwa zwanzig Leute wimmelten darum herum. Seine Bauart und seine Wimpel lie?en erkennen, da? es nicht aus dem Land der Ost- Angeln stammte, sondern vom Land der Ost-Sachsen kam. Das gro?e Segel trug das Sonnensymbol des Gottes Thunor, das Kreuz mit den gebogenen Armen.

Jemand stie? einen Ruf aus, als man Eadulf bemerkte, und einige Manner sturmten mit gezogenen Schwertern den felsigen Abhang hinauf, auf dem er uberrascht hielt. Bevor er reagieren konnte, vernahm er ein Zischen in der Luft. Mehrere Pfeile pfiffen an ihm voruber, aber sie waren nicht auf ihn gezielt. Sie waren hinter ihm abgeschossen worden, und zwei von ihnen fanden ihre Ziele unter den heraneilenden Kriegern. Diese brachen mit Schmerzensschreien zusammen, und die anderen blieben verstort stehen.

Eadulf war verwirrt. Er fand sich plotzlich von mehreren Kriegern umringt, deren Bogen todliche Geschosse

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