so argumentieren: Wenn Leute mit klarem Verstand die Frau gesehen und sie als eine Frau erkannt hatten, die fur tot galt, dann gab es zwei Moglichkeiten. Entweder war die Frau noch am Leben, oder aber jemand spielte ihre Rolle. Gespenster und Geister von Toten kamen in ihren Uberlegungen nicht vor. So einfach war das. Doch dies war nicht ihr Land und ihre Kultur. Einen Moment empfand Eadulf sogar etwas wie Groll. Wie sollte Fidelma denn auch das lastende Unheil verstehen konnen, das in den dunklen angelsachsischen Wintern brutete? Aber dann kam ihm dieser Gedanke ungerecht vor.
Den Jungen schien er nicht uberzeugt zu haben.
»Es ist Julzeit, Bruder. Wei?t du noch, was das bedeutet?«
Er wu?te es sehr gut. Wahrend der zwolf Tage des Julfests kamen die heidnischen Gotter der Angelsachsen Midgard am nachsten, der mittleren Welt, in der die Menschheit wohnte. Dann hatten die Toten die Freiheit, die aufzusuchen, die sie im Leben gekrankt hatten, und Trolle und Elfen wurden ausgesandt, die
Ubeltater zu bestrafen. Eadulf fuhlte sich schuldig, weil er uberhaupt daran dachte, doch die Kultur, in der man aufgewachsen ist, legt man nicht so leicht ab. Er beugte sich vor und tatschelte dem Jungen wieder die Schulter.
»Hier gibt’s nichts Ubernaturliches, mein Sohn«, erklarte er ihm zuversichtlich, obgleich er sich wie ein dreister Lugner vorkam, dem das anzusehen sein mu?te. »Es gibt nur ein Geheimnis, das wir noch luften werden. Halte an deinem Glauben fest und fuhle dich im Schutz Christi sicher.«
Er lie? den Jungen in seiner Zelle zuruck und ging wieder in den Haupthof. Von dort aus folgte er dem Weg, von dem er wu?te, da? er zum Zimmer des Abts fuhrte. Abt Cild erwartete ihn, hinter seinem Tisch sitzend, die Handflachen auf der Tischplatte und mit zornerfullter Miene.
»Hast du nicht begriffen, da? du sofort nach deiner Ruckkehr in die Abtei zu mir kommen solltest?« fragte er streitlustig.
»Ich hatte Dringenderes zu erledigen«, erwiderte Eadulf kuhl und zeigte mit seiner Haltung, da? er sich von dem Abt nicht einschuchtern lie?.
Abt Cilds Miene wurde noch finsterer.
»Dein Mangel an Respekt ist mir schon aufgefallen, Bruder Eadulf. Du bist mir als Abt zum Gehorsam verpflichtet.«
»Ich habe noch andere Pflichten«, entgegnete Eadulf. »In erster Linie bin ich Erzbischof Theodor verpflichtet, deinem geistlichen Vorgesetzten. Er hat mich zu seinem Abgesandten ernannt, und ich darf in seinem Namen sprechen. Nur ihm habe ich zu gehorchen.«
Wahrend er redete, hielt Eadulf verstohlen die Finger gekreuzt. Was er sagte, stimmte insofern, als das das die Rolle war, die er im Auftrag Theodors bei Konig Colgu in Cashel gespielt hatte, aber jetzt nicht mehr. Eadulf nahm aber an, Cild wurde es nicht offen bezweifeln und in Canterbury bei Erzbischof Theodor nachfragen lassen. Im ubrigen nahm es Cild mit der Wahrheit auch nicht so genau. In ein paar Tagen, hoffte Eadulf, hatte er den Fall geklart, und er beruhigte sein Gewissen mit einem alten Spruch seines Volkes, da? man namlich mit der Falschheit weiter kommt als mit der Wahrheit, wenn man es mit einem Lugner zu tun hat, und eine solche Luge verschwindet eines Tages, wahrend nur die Wahrheit bestehen bleibt.
Abt Cild betrachtete ihn mit gemischten Gefuhlen. An seiner Schlafe zuckte ein winziger Muskel, er pre?te die Lippen zusammen.
»Behauptest du, eine hohere Autoritat zu besitzen als ich?« fragte er drohend.
»Ich weise dich nur darauf hin, da? du mir nichts zu befehlen hast, Cild«, fauchte Eadulf. »Schwester Fidelma ist krank. Das Fieber ist auf seinem Hohepunkt, entweder es geht zuruck, oder sie ist in Gefahr. Ich werde sie diese Nacht pflegen. Also zieh deinen Wachter von ihrer Zimmertur ab.«
Eadulfs bestimmtes Auftreten schien Abt Cild zu verbluffen. Er war es uberhaupt nicht gewohnt, da? jemand seine Befehlsgewalt in Frage stellte.
Eadulf fuhr unbeeindruckt fort: »Au?erdem reinige ihren Namen vom Stigma der schwarzen Magie und des ublen Zaubers. Da? ein Mann, der intelligent genug ist, das Amt des Abts dieses Hauses zu beanspruchen, solchem Gerede von Hexerei Glauben schenkt, ist unerhort.«
Abt Cild schnellte von seinem Stuhl hoch.
»Das werde ich nicht tun! Ich bin hier der Abt und nicht du, und Erzbischof Theodor soll doch selbst herkommen, wenn er meine Eignung anzweifelt.«
Eadulf hatte auch nicht erwartet, da? er mit seiner Forderung sofort und ohne weiteres durchdringen werde.
»Es ist gut moglich, da? er das tut, denn ihm sind viele Dinge uber dieses Haus zu Ohren gekommen.« Eadulf wu?te, wieviel er wagte, indem er so weit uber die Tatsachen hinausging.
Abt Cild kniff die Augen zusammen.
»Erklare mir, was du damit meinst«, forderte er.
»Das werde ich tun. Aber erst ein paar Fragen. Warum hast du solche Angst vor dieser angeblichen Erscheinung?«
Die Frage kam unerwartet, Cild stutzte und setzte sich abrupt wieder hin.
»Wie ... Wie kommst du darauf, da? ich Angst habe?«
Eadulf lachelte nur. »Ich sah gestern abend eine Dame nahe der Kapelle. Du bekamst Angst, als ich sie beschrieb. Heute sah Bruder Redwald dieselbe Frau in Schwester Fidelmas Zimmer. Bruder Redwald behauptet, es ware deine Frau, die als tot gilt. Ist sie wirklich tot?«
Abt Cilds Miene wurde zornig. »Wagst du es, mich einen Lugner zu nennen?«
»Ich stelle nur eine Frage.«
»Sie ist tot. Und nur eine Person, die schwarze Kunste ausubt, konnte ihr Bild heraufbeschworen. Nichts dergleichen geschah, bis du mit der fremden Frau hierherkamst.«
»Aber ich habe gehort, da? diese Erscheinung auch gesehen wurde, bevor wir die Abtei betraten«, protestierte Eadulf.
»Der Geist erschien, sobald ihr in dieses Konigreich kamt. Die Hexerei der Auslanderin mu? so machtig sein, da? sie den Geist schon aus der Ferne beschworen konnte«, erwiderte Cild ungeruhrt. »Ihr habt euch hier den Zutritt erzwungen und Gastfreundschaft verlangt. Ich hatte euch beide sofort hinauswerfen sollen. Ich gab nach und lie? euch bleiben. Sofort tauchte der Geist auf. Ich habe auch nicht vergessen, da? gleich auf euer Erscheinen der Auftritt Garbs und seiner Leute folgte, der die gra?lichsten Beschuldigungen gegen mich erhebt. Ich ubersehe weiterhin nicht die Tatsache, da? Garb und deine Gefahrtin aus demselben Land stammen. Vielleicht sind sie verwandt und miteinander verschworen? Ich bin ein logisch denkender Mensch. Es war eure Ankunft, die all dieses Ubel in Aldreds Abtei brachte. Hier ist nichts Boses geschehen bis gestern abend, als ihr beide die Gastfreundschaft der Abtei beanspruchtet.«
Eadulf hatte ihn ruhig angehort. Nun lachelte er traurig.
»Das stimmt doch nicht, Cild. Gestern fruh wurde mein guter Freund Botulf ermordet. Wir sind auf seinen Wunsch hin hergekommen - nur eben zu spat!«
Eadulf sah keinen Grund, diese Tatsache noch langer zu verschweigen. Er meinte, jetzt ware der richtige Zeitpunkt, sie zu verwenden, und er behielt recht, denn Cild schwieg eine Weile und bemuhte sich vergeblich, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen.
»Warum hat Botulf euch hergebeten?«
Eadulf lachelte wissend. Jetzt konnte er Gedankenspiele mit dem Abt treiben.
»Wu?te jemand in der Abtei, da? er eine Botschaft nach Canterbury geschickt hatte, um mich hierher zu rufen?« Eadulf stellte die Frage nachdenklich.
»Ich wu?te es jedenfalls nicht.« Aus Abt Cilds Stimme war unterdruckter Zorn herauszuhoren.
»Wie ich merke, wart ihr, Botulf und du, nicht so eng miteinander verbunden, wie du es bei seiner Beisetzung glauben machtest. Welcher Art war die Feindschaft, die zwischen euch bestand?«
»Hat dir Botulf erklart, da? Feindschaft zwischen uns herrschte?« wollte der Abt wissen.
»Bestreitest du es?« konterte Eadulf.
»Nein. Ich weise dich darauf hin, da? mir dein Freund Botulf von Konig Ealdwulf aufgezwungen wurde. Wenn du die Wahrheit wissen willst, Botulf versuchte, einen Verrater und Feigling zu verteidigen, und deshalb befahl der Konig, er habe in dieser Gemeinschaft zu bleiben und sich nicht weiter als eine Meile von ihr zu entfernen, bis er sein Verbrechen gesuhnt hatte. Mir gefiel dieses Verfahren nicht, aber ich befolgte die Anweisung des Konigs.«