Kopfschuttelnd schaute er Eadulf an. »Es ist immer gut, wenn man seinen Platz und seine Pflicht kennt«, sagte er lachelnd. Dann offnete er die Tur des Gastezimmers, ging hinein und winkte Eadulf, ihm zu folgen. Als er die Tur schlo?, verzog er das Gesicht. »Bruder Beornwulf besitzt gute, starke Arme, doch ihm fehlt die geistige Beweglichkeit. Er tut, was man ihm sagt, nicht mehr und nicht weniger.«
Fidelma lag noch immer auf ihrem Bett, in Decken gehullt und vom Fieber gepackt.
Bruder Higbald beruhrte ihre feuchte Stirn mit dem Handrucken. Sie stohnte leise, hielt aber die Augen geschlossen.
»Ach ja,
Eadulf nickte. »Ich wurde ihr trotzdem etwas verordnen, was ihr gegen das Fieber hilft und es senkt.«
»Dem stimme ich zu. Was schlagst du vor?«
»Einen Aufgu? von Wermut, Katzenminze ...?«
»Ebenso gut«, pflichtete ihm Eadulf bei.
Bruder Higbald nahm seinen kleinen Beutel von der Schulter. »Zufallig habe ich schon etwas vorbereitet.«
Eadulf nahm die winzige Amphore, die der Apotheker ihm gab, entstopselte sie und roch daran. Dann nickte er.
»Soll ich ihr das geben?« fragte er.
Bruder Higbald signalisierte Zustimmung.
Eadulf schob vorsichtig die Hand unter Fidelmas hei?en, schwei?gebadeten Kopf und hob ihn an. Sie stohnte unwillig, aber Eadulf setzte ihr die kleine Amphore an die Lippen, druckte sie sanft auseinander und lie? die Flussigkeit in den Mund tropfeln.
»Ein, zwei gro?e Schlucke«, ordnete Bruder Hig-bald an.
Muhsam flo?te ihr Eadulf die Medizin ein.
»Du kannst ihr spater noch mal etwas geben, wenn das Fieber nicht nachla?t. Aber sie ist eine starke, gesunde Frau. Ich denke, dafur sollten wir dankbar sein.«
Eadulf stellte die Amphore auf den Seitentisch.
»Nun mussen wir abwarten«, sagte Bruder Higbald zufrieden. »Ich uberlasse dir die Wache, mein Freund, aber ich meine wirklich, ihr solltet meinem Rat folgen und aus diesem Haus bei der ersten Gelegenheit fliehen.«
Er ging rasch hinuber zu der Wand, an der ein gro?er Wandteppich mit einer religiosen Darstellung hing. Mit verschworerischer Miene schaute er sich um.
»Hier hinter findet ihr einen kleinen Gang, der aus den Mauern der Abtei hinausfuhrt. Verge?t das nicht.«
Er zog den Vorhang beiseite. Zu Eadulfs Uberraschung war eine Tur dahinter. Sie ging nach innen auf und war nicht verschlossen. Bruder Higbald offnete sie und wies hindurch in die Dunkelheit.
»Folgt dem Gang, nehmt die beiden ersten Abzweigungen nach links und dann die erste nach rechts. Merke dir das gut. Zweimal links und dann rechts. Die Abtei hat mehrere solcher Tunnel, denn sie wurde auf einer alten keltischen Burg erbaut, die von Tytila, dem Sohn Wuffas, zerstort wurde, als unser Volk dieses Land eroberte.«
»Ich werde daran denken, Bruder Higbald, und an deinen Rat, fur den ich dir aufrichtig dankbar bin.«
Der Apotheker erwiderte nichts; er schlo? die Tur und schob den Wandteppich wieder davor. Danach lachelte er kurz und hob die Hand zum Abschiedsgru?, ehe er das Zimmer verlie?. Eadulf horte, wie er drau?en zu Bruder Beornwulf sprach. Er wartete noch etwas, dann schaute er nach Fidelma und setzte sich schlie?lich auf einen Stuhl am Kamin.
Plotzlich merkte er, wie mude er war. Es war ein langer Tag gewesen. Er hatte einen weiten Ritt auf einem Maultier gemacht, und ihm taten alle Knochen weh. Er lehnte sich zuruck, legte die Hande in den Scho? und schlo? die Augen.
Die Ereignisse des Tages kreisten langsam in seinen Gedanken, und er bemuhte sich, sie in einen Zusammenhang zu bringen.
Vor allem nagte die Gefahr fur Fidelma an ihm. Sie lag vor ihm auf dem Bett und hatte keine Ahnung von dem, was ihr drohte. Sie kampfte mit ihrem unmittelbaren Feind, dem Fieber. Es war seine oberste Pflicht, sie zu beschutzen. Bruder Higbald hatte ihm wenigstens einen Ausweg gezeigt, um Abt Cilds Verfolgung zu entgehen. Doch eine Flucht aus Aldreds Abtei konnte doch wohl nur die letzte Moglichkeit sein?
Was hatte er uber das Geheimnis erfahren? Sein guter Freund hatte ihn zur Abtei gerufen. Wenige Stunden vor seiner Ankunft war dieser Freund ermordet worden. Der Abt und sein leiblicher Bruder waren in einen todlichen Streit verstrickt, und der Abt lastete seinem Bruder Aldhere den Mord an Botulf an. Ald-here seinerseits warf seinem Bruder, dem Abt, diesen Mord vor. Au?erdem war Garb aus Maigh Eo im Konigreich Connacht aufgetaucht und beschuldigte den Abt, seine Frau Gelgeis, Garbs Schwester, ermordet zu haben. Er hatte ein rituelles Fasten gegen den Abt angekundigt. Die Umstande des Todes von Gelgeis waren anscheinend unklar. Sowohl Eadulf als auch der junge Redwald hatten eine Frau in der Abtei gesehen. Bruder Redwald behauptete, diese Frau sei die tote Gelgeis. Und dazu kam noch die verhangnisvollste Tatsache von allen: Fidelma war angeklagt, die Geister von Toten beschworen zu haben.
Eadulf hatte Bruder Redwalds Geschichte vom Geist der Gelgeis, den er gesehen haben wollte, als eine jugendliche hysterische Reaktion abtun konnen. Aber damit konnte er nicht erklaren, da? er am vorigen Abend auch eine Frau vor der Kapelle gesehen hatte. Sowohl Abt Cild als auch Bruder Willibrod hatten seine Beschreibung anscheinend erkannt. Beide meinten, sie trafe auf Gelgeis zu, die tote Frau des Abts.
Eadulf stohnte leise und schuttelte den Kopf.
Nichts davon schien logisch zu sein, nichts ergab einen Sinn. In diesem Moment fiel ihm plotzlich das Stuck Papier ein, das er in Botulfs Zelle aus der Buchtasche genommen hatte. Er suchte in dem
Der erste Satz offenbarte sich Eadulf als ein Zitat aus dem Ersten Buch Samuel: »Der Herr sieht nicht, wie ein Mensch sieht; ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an.«
Eadulf kam diese Ermahnung irgendwie bekannt vor, doch er wu?te nicht, warum.
Die nachste Zeile war ihm noch nicht begegnet, aber Botulf hatte den Namen Lukrez daneben geschrieben: »Wenn ein Ding sich verandert und seinen eigenen Bereich verla?t, bedeutet diese Veranderung sogleich den Tod dessen, was es vorher war.« Dann war hinzugefugt und unterstrichen: »Die Veranderung ist deutlich - wann tritt der Tod ein?«
Darauf folgte ein Absatz, der fast enthullend, aber zugleich vollig verwirrend war: »So Gott will, wird mein Freund bald hier sein. Steht nicht geschrieben, da? die Gnade die Stutze der Gerechtigkeit ist? Doch nicht bei dem Mann aus Mercia. Wir werden vernichtet vom Volk aus ...« Eadulf versuchte das nachste Wort zu entziffern, das durch einen Tintenfleck entstellt wurde. Es sah wie »Moor« aus. Er dachte an Aldhere und seine Geachteten im Moorland und erschauerte leicht. »So Gott will, wird mein Freund bald hier sein.« Das konnte sich nur darauf beziehen, da? Botulf auf Eadulfs Ankunft wartete, und er war zu spat gekommen, um seinem Freund zu helfen.
Das letzte Zitat war ebenfalls seltsam, und Bruder Botulf hatte wiederum seine Quelle angegeben. »Kann auch jemand Feuer im Busen behalten, da? seine Kleider nicht brennen? Wie sollte jemand auf Kohlen gehen, da? seine Fu?e nicht verbrannt wurden? Spruche Salomos.« Hinzugefugt war der Satz: »So ist es mit Brettas Sohn.«
Eadulf lehnte sich stirnrunzelnd zuruck und versuchte, die Aufzeichnungen seines toten Freundes zu entratseln. Was war in Botulf vorgegangen? Verstandlich war allein die Bemerkung uber Brettas Sohn. Aber inzwischen hatte er erfahren, da? Aldhere und Cild beide Brettas Sohne waren, und jeder von ihnen hatte sicherlich »Feuer im Busen«. Alles andere ergab keinen Sinn. Er steckte das Papier zuruck in den
Nachdenklich stand er auf und trat zum Bett, um nach Fidelma zu sehen. Es hatte sich nichts verandert. Vielleicht hatte Higbald recht. Es war wohl das klugste, mit Fidelma die Abtei zu verlassen, sobald sie dazu in der Lage war.
