»Und was ist mit Aldhere?« fragte Fidelma.
»Aldhere? Morgen ist er sicher. Ob die Uberfalle und Brandschatzungen nun von ihm oder von seinem Bruder ausgingen - und das werde ich schon herausbekommen -, so bleibt Aldhere doch geachtet und wird vom Konig nicht begnadigt.«
»Meinst du, da? das Urteil gegen ihn gerecht war?«
Wieder lachelte Sigeric dunn. »Du hast zweifellos mit Aldhere gesprochen?«
»Naturlich.«
»Er ist eine beeindruckende und uberzeugende Erscheinung. Sagen wir, das Urteil des Konigs war gerecht entsprechend dem, was ihm vorgetragen wurde. Der Konig wird seinen Spruch nicht andern.«
Fidelma nickte gedankenvoll. »Na, dann konnen wir an unsere Hauptaufgabe gehen und versuchen, das Ubel zu entlarven, das alle diese Mauern zu durchdringen scheint.«
Die Kapelle war voll besetzt, nicht nur mit Mitgliedern der religiosen Gemeinschaft der Abtei, sondern auch mit Gadra und Garb und ihren Gefolgsleuten, mit Bruder Laisre und seinen Mitbrudern, mit dem spottischen Aldhere samt Bertha und einigen seiner Schar von Geachteten, die er zu seinem personlichen Schutz mitgebracht hatte, wie er behauptete. Ferner war der Bauer Mul anwesend, der am Vormittag als Fidelmas Bote fungiert hatte. Lord Sigeric hatte den gewohnten Platz des Abts vor der Gemeinde eingenommen. Er trug eine Amtskette und hatte seinen Amtsstab bei sich.
Als Fidelma die Kapelle betreten hatte, mit Eadulf an ihrer Seite, war ihr aufgefallen, da? von Abt Cild nichts zu sehen war, und sie hatte sich sofort bei Sige-ric nach ihm erkundigt.
»Der Mann ist geistig umnachtet, Schwester. Er lebt nicht mehr in dieser Welt«, erklarte ihr der Oberhofmeister. »Der Mord an dem, was er fur den Geist seiner schon lange verstorbenen Frau hielt, hat sein Gemut vollig verstort. Er sitzt in seinem Zimmer, murmelt und kichert vor sich hin und hat sich in seine eigene Welt zuruckgezogen. Es ware sinnlos, ihn vor diese Versammlung zu bringen.«
Diese Nachricht uberraschte sie nicht. Sie hatte gesehen, in welchem Zustand Abt Cild war, als er in sein Zimmer gefuhrt wurde. Davon, dachte sie, wurde er sich nicht so schnell erholen, wenn uberhaupt jemals. Das war auch eine Art von Gerechtigkeit, wenn es auch besser gewesen ware, er hatte sich vor dieser Versammlung fur seine Sunden verantworten konnen.
Sie schaute sich unter den Versammelten um und erblickte Bruder Willibrod auf einem hervorgehobe-nen Platz. Er wirkte nun wieder gefa?t und hielt sich aufrecht. Sein eines ruheloses Auge war gerotet vom Weinen. Neben ihm sa? der junge Bruder Redwald mit blassem, verstortem Gesicht. Ab und zu erschauerte er.
Sigeric rausperte sich und flusterte Fidelma zu: »Bist du nun bereit, uns uber diese Angelegenheit aufzuklaren, Schwester?«
»Ja«, antwortete sie fest.
Sogleich erhob sich Sigeric, und es trat eine erwartungsvolle Stille in der Kapelle ein. Obwohl es nicht erforderlich war, klopfte er mit seinem Amtsstab auf den Boden.
»Die meisten von euch kennen mich«, begann er in einem schroffen Tonfall, der ihm die Aufmerksamkeit aller sicherte. »Ich bin Lord Sigeric, Oberhofmeister Ealdwulfs, des Konigs der Ost-Angeln. Ich bin hierher gesandt, um nach dem Gesetz der Wuffingas Recht zu sprechen. Ihr alle seid auf mein Wort hin sicher hergekommen, und ihr konnt in Sicherheit wieder gehen, sofern nicht jemand unter euch ist, der sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat im Zusammenhang mit den Todesfallen, die sich in dieser Abtei ereignet haben, oder des Verrats an diesem Konigreich schuldig ist. Ich nehme an, ich habe mich klar genug ausgedruckt?«
Er hielt inne, und da ihm niemand antwortete, wies er mit der Hand auf Fidelma.
»Ihr alle mogt wissen, da? dies Fidelma ist, die Schwester des Konigs von Muman im Lande Eireann.
Man hat mir berichtet, da? sie in ihrer Heimat eine angesehene Anwaltin ist. Auch au?erhalb der Grenzen ihres eigenen Landes ist sie, so von Konig Oswy von Northumberland, zu Rate gezogen worden, auch von dem Oberhaupt eurer christlichen Religion, der im fernen Rom lebt. Obwohl ich das Gesetz der Wuf-fingas vertrete, das Frauen keine amtliche Stellung zugesteht, und ich dem alten Glauben anhange, habe ich mich damit einverstanden erklart, da? Fidelma von Cashel unter meinem Vorsitz die Vollmacht erhalt, die Wahrheit uber die Dinge zu erforschen, die sich in der Abtei ereignet haben. Niemand hier darf sich dieser Vollmacht widersetzen, denn damit widersetzt er sich meiner Amtsgewalt und der des Konigs, den ich vertrete. Ist das klar?«
Wieder trat Schweigen ein, wahrend sich alle uberrascht ansahen, doch niemand etwas sagte. Die Angeln und Sachsen waren im ersten Moment entsetzt uber das, was Sigeric verkundete. Da? eine Frau vor ihnen einen Proze? fuhrte, widersprach allen ihren Erfahrungen. Sigeric fa?te ihr verblufftes Schweigen einfach als Zeichen ihrer Zustimmung auf. Er setzte sich wieder und winkte Fidelma, seinen Platz vor der Versammlung einzunehmen.
Fidelma hatte schon vor gro?eren und hochrangigeren Zusammenkunften pladiert und hatte keine Scheu, zu einer Zuhorerschaft zu reden, die zugleich uberrascht und feindselig war.
Anscheinend waren nur Gadras Gruppe und die irischen Monche nicht verwirrt dadurch, da? Fidelma aufgefordert wurde, die Verhandlung zu fuhren. Viele von ihnen lachelten, erfreut daruber, da? eine Vertreterin ihres eigenen Rechtssystems den Fall vortragen sollte.
»Ein Sprichwort meines Volkes sagt«, begann Fidelma, »da? ein Ubel wie eine Nadel eindringt und wie eine Eiche wachst. Es hat wahrlich ein gro?es Ubel innerhalb dieser Mauern gegeben.«
Diese nachdruckliche Eroffnung fesselte die Aufmerksamkeit aller, und das Gemurmel, das sich bei den Angeln und Sachsen erhoben hatte, als sie vortrat, ebbte langsam ab. In der eintretenden Stille war nur das Flustern Bruder Laisres zu horen, der es ubernommen hatte, die Reden fur Gadra aus dem Sachsischen ins Irische zu ubersetzen. Garb verstand die Sprache anscheinend gut genug, um der Verhandlung folgen zu konnen.
»Es ist angemessen, da? wir heute, am Tag des Festes der Unschuldigen Kinder, hier versammelt sind. An diesem Tag erinnern wir uns an die Kinder von Bethlehem, die auf Befehl des Konigs Herodes getotet wurden, der damit das Kind Jesus vertilgen wollte. An diesem Tag gedenken wir des unschuldigen Blutes, das vergossen wurde. Welcher Tag ware besser geeignet, Rechenschaft zu fordern fur das unschuldige Blut, das hier vergossen wurde?«
Sie hielt inne und sammelte ihre Gedanken.
»Es hat verschiedene Mordtaten gegeben, die innerhalb dieser Mauern geschahen oder von ihnen ausgingen. Diese Mauern sind fast vom Blut getrankt. Das ziemt sich nicht fur ein Haus religioser Andacht. Ich habe schon bald nach meiner Ankunft hier erfahren, da? die ursprunglichen Bruder verjagt und einige von ihnen hingerichtet worden sind. Bruder Pol zum Beispiel wurde als Ketzer vor dem Tor gehangt. Wir haben gehort, da? auch die Frau des Abts, einsam und unglucklich, zu Tode kam. Manche behaupten, sie habe durch die Hand ihres Gatten den Tod gefunden, andere meinen, sie sei in einen nahen Sumpf geraten und habe ein tragisches Ende genommen.
Man hat uns berichtet, da? in den letzten sechs Monaten die Menschen dieser Gegend Uberfallen auf ihre Bauernhofe und Heimstatten ausgesetzt waren. Der hiesige Bauer Mul, der heute anwesend ist, verlor seine Frau und seine beiden Kinder durch die Waffen dieser Rauber.
Bruder Eadulfs Freund, Bruder Botulf, bat uns herzukommen, weil er Hilfe brauchte. Am Vormittag des Tages, an dem wir eintrafen, wurde er ermordet. Vor zwei Tagen wurden Botulfs Vetter, einer von Aldhe-res Geachteten, und mehrere andere seiner Manner getotet. Es gibt Anzeichen dafur, da? sie von Brudern dieser Abtei umgebracht wurden, und Mul kann ebenfalls berichten, da? Spuren auf seinem Hof darauf hindeuten, da? der Uberfall von Monchen dieser Abtei verubt wurde.«
Das rief ein erstauntes Gemurmel bei vielen der Bruder hervor, wahrend die Manner Aldheres und Gadras den Monchen der Abtei zornige und drohende Blicke zuwarfen.
Fidelma hob die Hand und forderte Ruhe.
»Wahrend all dieser Gewalttaten behauptete der Abt, er werde vom Geist seiner Frau Gelgeis verfolgt.«
»Gottes Gerechtigkeit!« rief Bruder Tola aus den Reihen der irischen Monche dazwischen. »Der Schatten einer gequalten und ermordeten Frau. Moge er ihn bis in die Holle verfolgen!«
Ein unruhiges Murren erhob sich, und wieder mu?te Fidelma mit erhobenen Handen Ruhe schaffen.
»So besessen war Abt Cild davon, da? er mich sogar beschuldigte, ich hatte dieses Gespenst heraufbeschworen, das nun anscheinend in der Abtei umging. In der letzten Nacht begegnete ihm eine junge Frau, die er fur diesen Geist hielt, und in seinem Wahn zog er ein Messer und erstach sie.«
Sie sah Bruder Redwald dasitzen und zittern.