Im Operationsraum war Bert im Nu auf dem Tisch festgeschnallt, und der Arzt machte sich ans Werk.

Eigentlich war er kein Arzt, wie mir rasch klar wurde. In einer Gesellschaft von ein paar tausend Menschen, die sich seit drei oder vier Generationen vom Hauptstrom des menschlichen Wissens abgespalten hat, kann es keine Arzte geben. Er war aber ein verdammt guter Techniker und hatte es hier mit seinem ureigenen Fachgebiet zu tun. Er kannte die Herz-Lungen-Maschine in— und auswendig und wu?te genau um die Schwierigkeiten von Storungen im Atmungs— und Kreislaufbereich.

Der Eingriff in den Hustenreflex, den diese Me nschen zum Uberleben unter diesem Druck vorne hmen mu?te, hatte Forschungen in dieser Richtung notig gemacht. Im Raum waren verschiedene Ste uereinrichtungen fur die Maschine und ihre Zusatzgerate angebracht, offenbar parallel zu der Fernsteuerung. Die Druckminderung war augenscheinlich nicht der einzige Zweck des Apparates.

In weniger als einer Minute hatte der Techniker Bert an den Apparat angeschlossen. Langsam bekam er wieder seine normale Farbe. Dann wurden andere Instrumente in seine Kehle geschoben, damit man hineinsehen konnte.

Dort war offenbar kein gro?er Schaden eingetreten, im Gegensatz zur Au?enseite des Halses, die zu einer einzigen gro?en Schwellung auflief. In weniger als funf Minuten hatte der Doktor — ich will ihn unter den gegebenen Umsta nden so nennen — seine Gerate wieder eingepackt und ging nun mit einer Injektionsnadel gegen den Unterarm seines Patienten vor. Die Ampulle mu? wohl ein Belebungsmittel enthalten haben, denn Bert offnete augenblicklich die Augen.

Nur wenige Sekunden, und er hatte sich orientiert.

Sein Blick blieb an mir hangen, und er errotete tatsachlich. Noch immer verwirrt, versuchte er zu sprechen. Der Schmerz in seiner Brust, als er seine flussigkeitsgefullten Lungen unter Druck setzte, brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zuruck. Er sah sich suchend um und vollfuhrte Schreibbewegungen. Der Arzt hatte sichtlich nichts dagegen, da? ich Bert das Schreibtafelchen gab, das Joey noch immer in der Hand hielt.

Das bedeutete keine Gesprachsunterbrechung.

Joey hatte nichts geschrieben und Marie nichts gesagt.

Wahrend der Krise im Operationsraum war kein Wort laut geworden — wir hatten Maries Stimme auch hier drinnen horen mussen, und Joeys Satz von vorhin stand noch immer auf der Tafel. Marie sah zum Fenster hinaus, sie sah Joey an, und er sah uberallhin, nur nicht zu ihr hin. Ich nahm ihm, ohne zu zogern das Tafelchen ab und schwamm zuruck zum Tisch.

Der Arzt lenkte Berts Aufmerksamkeit auf die Blutleitungen zwischen ihm und der Maschine hin, unternahm jedoch keinen Versuch, ihn vom Schreiben abzuhalten. Bert gab mit einem Nicken zu verstehen, da? er die Warnung verstanden hatte, und setzte den Griffel in Bewegung. Er fa?te sich kurz und reichte mir die Tafel.

„Tut mir leid, aber ich kann erkennen, wann ich schachmatt gesetzt bin. Hoffentlich hast du mehr Gluck, obwohl ich dir jetzt, da sie wei?, da? Joey am Leben ist, keine gro?en Chancen einraume. Sag ihr, da? sie mich nicht getotet hat, falls du glaubst, da? diese Moglichkeit ihr Kummer bereitet. Mir ist lieber, wenn ich ihr nicht mehr unter die Augen trete.“

Das waren Satze, die mir die Augen offneten.

Plotzlich begriff ich, warum Bert mit der Wahrheit gespielt hatte, warum er Joeys Anwesenheit vor Marie verheimlicht hatte, warum er sich so plotzlich zur Ruckkehr an die Oberflache entschlossen hatte, und warum er mir gegenuber unaufrichtig war — ja sogar, warum der hiesige Rat uns nicht gemeinsam nach oben lassen wollte.

Ich sah auch, da? ich nicht in der Lage war, ihn auch nur in einem Punkt zu kritisieren. Man konnte nicht ein Wort gegen ihn sagen, das nicht ebenso gut auch auf mich zugetroffen hatte. Der einzige Grund, warum ich nicht so gehandelt hatte wie er — und das unter demselben Motiv —, war die Tatsache, da? ich dazu nicht in der Lage war.

Ich konnte ihm weder die Schuld geben noch ihn kritisieren. Ich habe zwar Fehler, bin aber kein Heuchler. Er tat mir nur leid. Wie er eben gesagt hatte, waren seine Chancen vergeben.

Vielleicht wurde Marie zu der Einsicht gelangen, da? sie, was Joey betraf, ein hoffnungsloser Fall war, sogar nach der Entdeckung, da? er doch noch am Leben war. Vielleicht wurde sie sich dann fur mich entschlie?en. Doch nach den letzten Wochen und den Enthullungen der letzten Minuten wurde sie fur Bert nie wieder Verwendung haben.

Ich bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. Mir fiel nichts ein, was ich hatte schreiben konnen. Er antwortete mit einem verbitterten Grinsen und winkte mir zu, ich solle verschwinden. Ich trollte mich. Mit Ausnahme des Arztes folgten mir die anderen.

XXIV

Aber ich hatte fur den Tag noch nicht ausgelernt.

Als ich das gro?e Ventil durchschwamm und von au?en sichtbar wurde, horte ich Maries Stimme. Sie klang scharf, erinnerte im ubrigen aber an einen Keulenschlag.

„Wieso konntest du auf die Idee kommen, diese Menschen wurden nicht Sauerstoff durch die Lungen inhalieren? Falls ich Bert totete, tut es mir allzusehr leid, aber es ist deine Schuld.“

Sogar ich hatte genug Zeit gehabt, um vorauszusehen, da? diese Frage ko mmen wurde, doch hatte ich zum Ausarbeiten einer guten Antwort keine Moglichkeit gehabt. Wahrend der Arzt namlich Bert bearbeitet hatte, hatte ich mein Gedachtnis bearbeitet. Mir war klar, da? meine Theorie vom Sauerstoff-Essen im Eimer war, aber eine bessere hatte ich nicht zur Hand.

Mir fiel nichts ein, als meine Theorie und die dafur sprechenden Grunde zu wiederholen. Ich beruhigte Marie auch, da? sie Bert nicht getotet hatte.

Irgendwie machten meine Argumente in geschriebenem Zustand keinen so luftdichten Eindruck wie damals, als ich sie mir zurechtgelegt hatte — ganz abgesehen von der Tatsache, da? ich nun offe nsichtlich auf dem Holzweg war. Trotzdem schien Marie sich zu beruhigen, wahrend ich Seite auf Seite schrieb und sie ihr zu lesen gab. Vielleicht taten die erzwungenen Pausen das Ihre dazu.

„Ich gebe zu, da? du mich beim ersten Mal uberzeugt hast“, sagte sie, als ich endlich fertig war,

„und ich sehe selbst nicht, wo die Schwachstelle steckt. Joey, hast du in der hier verbrachten Zeit genugend erfahren, damit du uns sagen kannst, in welchem Punkt wir uns irren?“

„Ich glaube ja“, schrieb er. Er stellte sich so auf, da? Marie gleich wahrend des Schreibens mitlesen konnte. Ich nahm selbst eine Position ein, so da? ich alles mitbekam.

„Euer gro?er Irrtum war nur naturlich. Richtig ist, da? wir nicht atmen, was die Bewegungen des Brustkastens betrifft. Trotzdem beziehen wir Sauerstoff aus dieser Flussigkeit. Es ist ein Wunderelixier. Vom Molekularaufbau her ahnelt es annahernd dem Hamoglobin, weil es an der Oberflache Sauerstoffmolekule lose binden kann. Ich wei? nicht, wie viele, aber die Zahl ist hoch. Die Flussigkeit verfugt nicht uber die Porphyrin- Gruppen des Hamoglobins. Die gingen verloren, als man den Stoff fur sichtbares Licht durchlassig machte. Aus dem Gedachtnis kann ich euch die Aufbauformel nicht ableiten. Aber gesehen habe ich sie. Sie ist durch und durch verstandlich.

Und jetzt uberlegt einmal. Die Molekularkonze ntration des flussigen Sauerstoffes ist viertausendmal gro?er als die des gasformigen, den wir normalerweise einatmen. Der Grund fur unser Atmen ist der, da? wir durch blo?e Diffusion durch die Luftrohre zuwenig Sauerstoff bekamen. In flussigem Sauerstoff kann ma n naturlich wegen der Temperaturprobleme nicht leben. In dieser Flussigkeit hier aber ist die Konzentration fast freien Sauerstoffes viel viel hoher als in der Atmosphare — viel geringer zwar als in flussigem Sauerstoff, aber immer noch sehr hoch. Das stellt ein anderes Problem dar.

Man versah den Kern dieses Molekuls mit einer Struktur, die bei Temperaturen uber einigen hundert Graden endothermisch zusammenbrechen wurde. Daher wurde ein Feuer sich selbst ersticken.

Aber das ist ein Nebenproblem, soweit die Atmung betroffen ist.

Wenn die Molekule dieser Flussigkeit ihren Sauerstoff in die Lunge abgeben, geben benachbarte Molekule O2 an diejenigen ab, die es verloren haben. Andere ersetzen diese wieder und so fort. Eine Situation ahnlich der Wasserkette beim Feuerloschen. Sie wird von denselben Gleichungen erfa?t, die man bei Diffusionsproblemen

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