»Alphonse«, rief ich, wahrend ich die Mauer entlanglief, »Alphonse!«

»Oui Monsieur«, erklang hohl eine Stimme. »Hier bin ich.«

Ich blickte mich um, konnte aber nirgends eine Menschenseele erkennen. »Wo?« schrie ich.

»Isch bin 'ier, Monsieur, in dem Baum.«

Ich schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Und siehe da - aus einem Loch in dem Stamm des Feigenbaums, ungefahr funf Fu? uber dem Erdboden, lugte ein bleiches Gesicht hervor; dazu die beiden Enden eines Schnauzbartes, eines gekappt und das andere so bejammernswert herunterhangend wie der Schwanz eines geprugelten Hundes. Da wurde mir zum ersten Mal in aller Deutlichkeit klar, was ich schon die ganze Zeit uber vermutet hatte; namlich, da? Alphonse ein riesiger Feigling war. Ich ging zu ihm hin. »Kommen Sie aus dem Loch raus!« fuhr ich ihn an.

»Ist es vorbei, Monsieur?« fragte er angstlich. »Ganz vorbei? Ah, welsche Schrecken isch mu?te erdulden, und welsche Gebete isch ausgesto?en 'abe!«

»Kommen Sie raus, Sie armseliges Wurstchen!« rief ich wutend, denn ich hatte nicht gerade freundliche Gefuhle in seiner Gegenwart. »Es ist alles vorbei.«

»Dann 'aben also meine Gebete ge'olfen, Monsieur? Isch komme sofort 'eraus.« Und dann stand er vor mir.

Als wir zusammen zu den anderen gingen, die sich an dem breiten Vordereingang des Kraals, der nun einem Schlachthof ahnlich sah, versammelt hatten, sprang plotzlich ein Masai, der geflohen war und sich die ganze Zeit uber hinter einem Busch versteckt hatte, auf und startete einen wutenden Angriff gegen uns. Mit einem gellenden Angstschrei raste Alphonse los; der Masai hinter ihm her. Er schien wild entschlossen, noch einen von uns mit ins Grab zu nehmen, bevor wir ihm ein Ende machen wurden. Bald hatte er den armen kleinen Franzosen eingeholt; und sicherlich hatte er ihn auf der Stelle niedergestreckt, wenn ich nicht, gerade in dem Augenblick, als Alphonse einen letzten verzweifelten Haken schlug, in der irrigen Annahme, dem hinter ihm aufblitzenden Stahl dadurch entrinnen zu konnen, eine Kugel genau zwischen die breiten Schulterblatter des Elmoran gejagt hatte. Das brachte jedenfalls die Sache zu einem befriedigenden Abschlu?; zumindest, was den Franzosen betraf. Er stolperte und fiel der Lange nach hin, und der Masai fiel direkt uber ihn und zuckte noch einen Moment im Todeskampf. Darauf erhob sich ein derart markerschutterndes Geheul, da? ich befurchtete, der Masai habe Alphonse doch noch den Speer in den Rucken gesto?en, bevor meine Kugel ihn traf. Ich rannte so schnell ich konnte zu ihm hin und zerrte den Masai von ihm herunter. Und da lag Alphonse, uber und uber mit Blut besudelt, und zuckte krampfartig wie ein galvanisierter Frosch. Armer Kerl! dachte ich, nun hat es ihn doch noch erwischt. Ich kniete mich neben ihn und suchte, soweit seine Zuk-kungen und Verrenkungen das zulie?en, nach der Wunde.

»Oh, das furschterliche Loch in mein Rucken!« schrie er auf. »Isch bin gemordet! Isch bin tot! Oh, Annette!«

Ich suchte weiter, aber ich fand beim besten Willen keine Wunde. Plotzlich dammerte es mir - der Mann war gar nicht verwundet, er war blo? zu Tode erschrocken!

»Stehen Sie auf!« brullte ich ihn an. »Stehen Sie auf! Schamen Sie sich uberhaupt nicht? Ihnen ist kein Haar gekrummt worden.«

Er stand auf, vollig unversehrt. »Aber, Monsieur, isch dachte, isch ware tot«, sagte er mit Unschuldsmiene; »isch wu?te nischt, da? isch ihn besiegt 'abe.« Dann versetzte er dem toten Masai einen Tritt und rief triumphierend: »Ah, du 'und von einem Masai, du schwarze Wilde, du bist tot nun! Was fur ein Sieg!«

Angeekelt wendete ich mich von dem Kerl ab und ging zu den anderen zuruck. Alphonse folgte mir wie ein Schatten und beeilte sich, ebenfalls zu den anderen zu kommen. Das erste, was ich sah, war Mr. Mak-kenzie. Er sa? auf einem Stein. Um seinen Oberschenkel, aus dem er stark blutete, hatte er ein Taschentuch gebunden. Eine Speerspitze war ihm in den Oberschenkel gedrungen und hatte ihn durchbohrt. In der Hand hielt er noch immer sein geliebtes Schnitzmesser, dessen Klinge nun vollig verbogen war. Daraus schlo? ich, da? er aus seinem Handgemenge mit dem Masai als Sieger hervorgegangen war.

»Ah, Quatermain!« rief er mit zitternder, erregter Stimme, »so haben wir denn nun obsiegt! Aber es ist ein schrecklicher Anblick; furwahr, ein schrecklicher Anblick!« Und dann verfiel er in ein breites Schottisch und starrte auf die verbogene Klinge in seiner Hand: »Es argert mich nur, da? ich die Klinge meines besten Schnitzmessers verbogen habe!« Dann lachte er hysterisch. Der arme Kerl, was er alles hatte durchmachen mussen; und jetzt war er vollig mit den Nerven am Ende. Was Wunder! Es mu? entsetzlich sein fur einen Mann des Friedens, der noch dazu ein so gutes, weiches Herz hat, sich gezwungen zu sehen, an solch einem grauenhaften Gemetzel mitzuwirken. Aber manchmal treibt uns die Ironie des Schicksals in die seltsamsten Situationen.

Am Vordereingang des Kraals bot sich ein tragischer Anblick. Das Gemetzel war nun voruber, und die Verwundeten waren von ihren Qualen erlost worden; es hatte keine Gnade gegeben. Die Dornen-busche, die den Eingang versperrt hatten, waren plattgetrampelt, und an ihrer Stelle fullten nun die Leiber von Toten den Eingang. Tote, uberall Tote - sie lagen in Haufen herum; sie lagen einzeln und zu zweit in allen erdenklichen Positionen uber den ganzen Kraal verstreut. Vor diesem Eingang auf einem Fleck von Leichen und von den Schilden und Spee-ren, die uberall verstreut herumlagen, so wie ihre Trager sie fallengelassen hatten, standen und lagen die Uberlebenden des Gemetzels, und zu ihren Fu?en waren vier Verwundete. Wir waren drei?ig Mann stark in den Kampf gezogen, und von diesen drei?ig hatten blo? funfzehn uberlebt, und funf davon (einschlie?lich Mr. Mackenzie) waren verwundet, davon zwei todlich. Von denen, die den Eingang gehalten hatten, waren nur Curtis und der Zulu ubriggeblieben. Good hatte funf Mann verloren, ich zwei, und Mackenzie nicht weniger als funf von den sechsen, die in seiner Gruppe gewesen waren. Diejenigen, die uberlebt hatten, waren mit Ausnahme meiner Person

- ich selbst war nie im dichten Kampfgetummel gewesen - von Kopf bis Fu? mit Blut beschmiert - Sir Henrys Panzerhemd hatte glatt rot gefarbt sein konnen - und vollig erschopft; ausgenommen Umslopo-gaas, der, wie immer auf seine Axt gelehnt, mit grimmigem Gesicht auf einem kleinen Erdwall hinter einem Berg von Toten stand und wenig mitgenommen aussah, wenngleich die Haut uber dem Loch in seinem Kopf heftig pulsierte.

»Ah, Macumazahn!« rief er, als ich erschopft und mude zu ihm aufblickte. »Ich sagte dir doch, es wurde ein guter Kampf werden, und so ist es auch gekommen. Nie hatte ich einen besseren gesehen, nie einen, in dem tapferer gekampft wurde. Und dieses Eisenhemd - bestimmt ist es >tagati< (verzaubert); nichts vermochte es zu durchdringen. Ohne dieses Gewand lage ich jetzt dort«, und er deutete mit einer Kopfbewegung auf den riesigen Leichenhaufen.

»Ich schenke es dir; du bist ein tapferer Mann!« sagte Sir Henry knapp und treffend.

»Koos!« rief der Zulu aus, hocherfreut uber das Geschenk und uber das Kompliment. »Auch du, Incubu, hast gekampft wie ein wahrer Mann. Aber ich mu? dir einige Lehrstunden mit der Axt erteilen; du vergeudest deine Krafte.«

In diesem Moment fragte Mackenzie nach dem Verbleib Flossies, und zu unserer gro?en Erleichterung sagte einer der Manner, er habe sie zusammen mit dem Kindermadchen in die Richtung des Hauses laufen sehen. Dann beluden wir uns mit so vielen Verwundeten, wie wir auf einmal tragen konnten, und machten uns langsam auf den Weg zuruck zur Missionsstation. Wir waren ermattet von der furchterlichen Schlacht, die soviel Blut gefordert hatte, aber in unseren Herzen glomm das ruhmreiche Gefuhl des Sieges uber eine solch uberwaltigende Ubermacht von Feinden. Wir hatten das Leben des kleinen Madchens gerettet und den Masai jener Gegend eine Lektion erteilt, die sie wohl wahrend der folgenden zehn Jahre nicht vergessen wurden - aber zu welch einem Preis!

Muhsam schleppten wir uns den Hugel hinauf, den wir vor etwas mehr als einer Stunde noch unter so ganz anderen Umstanden heruntergekommen waren. An dem Tor der Mauer stand Mrs. Mackenzie und wartete auf uns. Als sie uns jedoch erblickte, schrie sie entsetzt auf und schlug die Hande vors Gesicht. »Wie schrecklich, wie schrecklich!« rief sie weinend. Ihre Angst verstarkte sich noch, als sie ihren geliebten Mann erblickte, der auf einer improvisierten Trage den Hugel heraufgetragen wurde. Doch ihre Befurchtungen uber die Natur seiner Verletzung legten sich schnell. Und als ich ihr mit wenigen Worten vom Ausgang des Kampfes berichtet hatte (uber den Flossie, die unversehrt oben angekommen war, schon einiges hatte erzahlen konnen), trat sie zu mir und gab mir feierlich einen Ku? auf die Stirn.

»Gott segne Sie alle, Mr. Quatermain; Sie haben meinem Kind das Leben gerettet«, sagte sie schlicht.

Вы читаете Allan Quatermain
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату