sagt es jedenfalls Sir Henry. Ob dies den Tatsachen entspricht, kann ich nicht beurteilen, da ich auf diesem Gebiete volliger Laie bin. Ich wei? nur, da? ihr Alphabet aus zweiundzwanzig Zeichen besteht; einige davon, insbesondere B, E und O, sind unseren entsprechenden Zeichen nicht unahnlich. Das Ganze wirkt auf mich jedoch sehr umstandlich und verworren[11]. Aber da die Zu-Vendi nicht veranlagt sind zum Schreiben von Romanen oder anderen Dingen, au?er Geschaftsdokumenten und kurzen Notizen, reicht ihre Schrift fur ihre Zwecke vollig aus.
14
Meine Uhr zeigte halb neun, als ich am Morgen nach unserer Ankunft in Milosis aufwachte. Ich hatte fast zwolf Stunden geschlafen, und ich fuhlte mich in der Tat besser. Ein gesunder, langer Schlaf kann schon einiges bewirken. Nur zwolf Stunden, und man fuhlt sich wie neugeboren, besonders, wenn man vorher tage- und nachtelange Strapazen durchgemacht hat.
Ich setzte mich aufrecht in mein seidenbezogenes Bett - noch nie hatte ich in einem derartigen Bett gelegen - und das erste, was ich sah, war Goods Monokel, das aus den Tiefen seines seidenbezogenen Bettes zu mir heruberstarrte. Sein Monokel war das einzige, was von ihm zu sehen war, aber ich wu?te sofort, da? er wach war und bereits darauf wartete, da? ich ebenfalls aufwachte.
»Hor mal, Quatermain«, legte er gleich wieder los, »hast du ihre Haut gesehen? Sie ist so glatt wie der Rucken einer elfenbeinernen Haarburste.«
»Nun hor mal gut zu, Good«, sagte ich protestierend, als sich mit einem Rauschen der Vorhang offnete. Im Rahmen stand ein Bediensteter, der uns durch Handzeichen zu verstehen gab, da? er uns ins Bad fuhren wollte. Hocherfreut stimmten wir zu, und dann geleitete er uns in einen prachtvollen Raum aus Marmor, in dessen Mitte sich ein eingelassenes Bek-ken mit flie?endem, kristallklarem Wasser befand. Voller Freude sprangen wir hinein und taten uns in dem klaren Wasser gutlich. Als wir gebadet hatten, gingen wir wieder in unser Gemach und kleideten uns an. Danach gingen wir wieder in den zentralen Saal, in dem wir am Abend zuvor schon gespeist hatte und fanden den Fruhstuckstisch bereits fertig gedeckt vor. Herrliche Kostlichkeiten hatte man da fur uns aufgetragen, und ich bin au?erstande, all die verschiedenen Gerichte zu beschreiben! Nach dem Fruhstuck bummelten wir ein wenig in den umliegenden Gemachern umher und bewunderten die kostbaren Wandbehange und Teppiche und mehrere herrliche Statuen, die uberall die Raume zierten, und fragten uns, was uns wohl als nachstes an Uberraschungen erwarten wurde. Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns bereits in einem solchen Zustand volliger Verbluffung, da? uns in der Tat kaum noch etwas hatte aus der Fassung bringen konnen. Wir waren wirklich auf so ziemlich alles gefa?t, nach all dem, was wir in dieser kurzen Zeit schon in Milosis erlebt, und gesehen hatten. Wahrend wir noch alle moglichen Mutma?ungen anstellten, erschien unser Freund, der Hauptmann der Leibgarde, auf dem Plan und machte uns unter zahlreichen Ehrfurchtsbezeugungen klar, da? wir ihm folgen sollten, was wir auch mit recht gemischten Gefuhlen und einigem Herzklopfen taten. Wir glaubten, da? nun die Stunde gekommen ware, in der wir mit unserem alten Freund Agon, dem Hohepriester, die Rechnung wegen der verdammten Flu?pferde begleichen mu?ten. Uns blieb jedenfalls keine Wahl; andern konnten wir ohnehin nichts daran, und ich personlich trostete mich vorerst mit dem Gedanken, da? die koniglichen Schwestern uns ihren Schutz zugesagt hatten, wu?te ich doch nur zu gut, da? Frauen, die ihren Willen durchsetzen wollen, im allgemeinen auch einen Weg dazu finden. Wir machten uns also schicksalsergeben auf den Weg. Nachdem wir etwa eine Minute durch einen Flur und einen Au?enhof gegangen waren, erreichten wir die gro?en zweiflugeligen Au?entore des Palastes, hinter denen die breite Allee beginnt, die bergan mitten durch das Herz von Milosis und schlie?lich zum Sonnentempel fuhrt, der etwa eine Meile vom Palast entfernt ist, von wo aus sie den Abhang auf der Ruckseite des Tempels nimmt und geradewegs zur Stadtmauer von Milosis verlauft.
Diese gewaltigen, massiven Torflugel stellen ein au?erordentlich kunstvolles Meisterwerk aus Metall dar. Zwischen den beiden Toren - eines befindet sich am Eingang der inneren Mauer, das andere an dem der au?eren - verlauft ein funfundvierzig Fu? breiter Graben. Dieser Graben ist mit Wasser gefullt und wird von einer Zugbrucke uberspannt. Wenn diese hochgezogen ist, dann ist der Palast so gut wie uneinnehmbar, es sei denn, man beschosse ihn mit Belagerungskanonen.
Als wir an das Tor traten, wurde jeweils ein Flugel der beiden gewaltigen Tore geoffnet, und als wir uber die Zugbrucke ins Freie gelangt waren, bot sich unseren Augen der eindrucksvolle Anblick einer der schonsten Stra?en der Welt - wenn nicht der schonsten uberhaupt. Sie mi?t in der Breite hundert Fu?. An beiden Seiten stehen in langen Reihen wunderschone einstockige Wohnhauser aus rotem Granit -nicht, wie es bei uns in Europa ublich ist, dicht an dicht aneinandergezwangt, sondern jeweils auf einem eigenen, abgegrenzten Grundstuck, mit jeweils gleichem Abstand zueinander. Diese Hauser, alle im glei-chen Stil gebaut, beherbergen die Stadtwohnungen der Adeligen des Hofes. Sie flankierten zu beiden Seiten in ununterbrochener Reihe die Prachtstra?e, bis das Auge angehalten wurde von dem uberwaltigenden Anblick des Sonnentempels, der wie eine Krone am Ende der Stra?e auf der Anhohe ruhte.
Wahrend wir noch geblendet von dem prachtigen Anblick in der Toreinfahrt standen, kamen mit einem Male vier Wagen herangebraust, jeder von zwei Schimmeln gezogen. Diese Wagen waren aus Holz und hatten zwei Rader. Das Gewicht der kraftigen Deichsel ruhte auf Ledergurten, die einen Teil des Geschirrs bildeten. Die Rader, die nur vier Speichen hatten, waren mit Eisen bereift und bar jeder Federung. Im Vorderteil des Wagens, direkt uber der Deichsel, befand sich ein kleiner Sitz fur den Fahrer. Der Sitz war mit einem niedrigen Gelander umgeben, damit der Fahrer in Kurven oder auf unwegsamer Strecke nicht heruntergeschleudert wurde. Im Innern des Wagens befanden sich drei flache Sitze, jeweils einer an den Seiten, und der dritte mit dem Rucken zu den Pferden. Diesem Sitz gegenuber befand sich die Tur. Das ganze Gefahrt war leicht, aber stabil gebaut und dank seiner anmutigen Form trotz seiner Primitivitat gar nicht einmal so unansehnlich, wie man meinen konnte.
Was jedoch diese Wagen zu wunschen ubriglie?en, das machten die Pferde mehr als wett. Es waren einfach herrliche Tiere, nicht sehr gro?, aber von starkem Wuchs und vollendeten Proportionen. Sie hatten einen kleinen Kopf, bemerkenswert gro?e, runde Hufe und machten den Eindruck hervorragender Zucht und gro?er Schnelligkeit und Ausdauer. Ich habe mir schon sehr haufig die Frage gestellt, woher diese Rasse, die eine ganze Reihe besonderer Eigenarten aufweist, wohl stammen mag, aber ihre Herkunft liegt wie die ihrer Besitzer im Dunkeln. Ebenso wie die Menschen waren auch die Pferde schon immer dagewesen.
Der vordere und der hintere Wagen waren mit Gardisten besetzt. Zu diesen beiden wurden wir nun gefuhrt. Alphonse und ich stiegen in den zweiten, Sir Henry, Good und Umslopogaas in den dritten. Kaum hatten wir Platz genommen, als sie auch schon losfuhren. Und ab ging die Post, da? sich mir die Nak-kenhaare straubten! Bei den Zu-Vendi ist es nicht ublich, Pferde traben zu lassen, weder als Kutschpferde noch als Reittiere; es sei denn, die Strecke, die man zurucklegen will, ist nur sehr kurz. Ansonsten prescht man in vollem Galopp dahin. Wie gesagt -wir sa?en also kaum, als der Fahrer auch schon die Zugel schie?en lie?, und die Pferde mit einem machtigen Satz nach vorne sprangen. Sogleich jagten wir mit einer solch irrsinnigen Geschwindigkeit dahin, da? es mir fast den Atem verschlug und ich einen Moment lang bevor ich mich an das Tempo gewohnt hatte, furchtete, der Wagen wurde umkippen. Alphonse sa? mit schreckensbleichem Gesicht auf seinem Sitz und klammerte sich verzweifelt am Rand fest, im sicheren Glauben, jede Minute sei seine letzte. Kurz darauf kam er auf die Idee, mich zu fragen, wohin die Fahrt ginge, und ich antwortete ihm, wir sollten, soweit ich wu?te, auf dem Flammenaltar geopfert werden. Sie hatten sein Gesicht sehen sollen, als er sich an den Rand des Gefahrtes krallte und in blankem Entsetzen losschrie, als steckte er schon am Spie?!
Aber der wilde Kutscher beugte sich nur weiter nach vorn uber seine dahinfliegenden Rosser und rief etwas; und der Wind, der an uns voruberpfiff, trug den Klang von Alphonses Jammergeschrei rasch davon.
Und dann lag er vor uns, in all seinem wunderbaren Glanz und seiner berauschenden Pracht und Anmut - der Tempel der Sonne, der Stolz von Zu-Vendis, der fur jenes Volk das ist, was fur die Juden der Tempel des Salomo, oder besser der des Herodes war. In den Bau dieses erhebenden Werkes waren der Reichtum, das Konnen und die Arbeitskraft ganzer Generationen geflossen; erst funfzig Jahre zuvor war der Tempel endgultig vollendet worden. Alles, was das Land zu bieten hatte, war in dieses Werk eingegangen, und das Ergebnis war in der Tat eine gro?e Entschadigung aller Muhen und Anstrengungen, nicht so sehr, was die Gro?e betraf - es gibt gro?ere Tempel auf der Welt -, sondern in erster Linie, was die perfekten Proportionen, die Kostbarkeit und die Schonheit der verbauten Materialien und die uberragende Ausfuhrung des Gebaudes betraf. Der Tempel (der fur