Er entdeckte Lomax nicht sofort und fragte sich, ob der Exdragoner bereits wieder gegangen war. Dann winkte ihm aus einer nur schwach beleuchteten Nische in der hintersten Ecke des Raums eine dunkel gekleidete Gestalt zu.

»Schon, Sie zu sehen«, sagte Lomax zur Begru?ung und setzte sich wieder, als Hawkwood an den Tisch trat. Vor ihm standen ein Krug mit Ale und eine Schale mit den fettigen Resten eines Eintopfs. Daneben lagen Brotstucke und Butterstuckchen auf einem Teller.

Lomax sah an Hawkwood vorbei und winkte einer Serviererin. »Was mochten Sie trinken?«

»Ich nehme auch ein Ale«, sagte Hawkwood.

Lomax achtete nicht darauf, wie das Madchen ihn anstarrte, und bestellte das Bier. Mit der linken Hand nahm er ein Stuck Brot, wischte damit die So?e aus der Schale, schob es in den Mund und kaute genie?erisch.

»Hammel kann ich empfehlen, falls Sie etwas essen wollen«, sagte Lomax und leckte sich das Fett von den Fingern, ehe er sie an seiner Kniehose abwischte.

Die Serviererin brachte Hawkwood das Bier. Er trank einen gro?en Schluck. Die Kerze auf dem Tisch war bis auf einem Stummel niedergebrannt und so konnte er Lomax’ Gesicht nur undeutlich sehen. Ihm fiel jedoch auf, dass er mit der verstummelten Seite zur Wand sa?. Nur wenn er den Kopf drehte, erkannte man die schrecklichen Narben.

Fett tropfelte uber Lomax’ Kinn. Als er merkte, dass Hawkwood schnell den Blick abwandte, hob er die Hand und wischte sich vollig unbefangen mit dem Armel das Fett ab.

»Beim Rasieren muss ich hollisch aufpassen«, sagte der Exdragoner und grinste. »Mein Kinn ist vollig taub. Ich konnte mir die Kehle durchschneiden und wurde es erst merken, wenn mir der Kopf runterfallt.«

Hawkwood konnte nicht anders, er musste lachen.

Lomax grinste schief, hob seinen Krug und prostete Hawkwood zu. »Tod, wo ist dein Stachel? Holle, wo ist dein Sieg?«

»Amen!«, sagte Hawkwood. Allmahlich gefiel ihm Lomax’ Sinn fur Humor.

Lomax stellte seinen Krug wieder ab und schob Schale und Teller beiseite. »Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen, weil ich eine Information fur Sie habe.«

Hawkwood trank einen Schluck Bier.

»Es betrifft unsere Stra?enrauber. Sie sind doch noch hinter ihnen her, oder?«

»Ja, naturlich. Schie?en Sie los.«

Lomax zogerte kurz. »Ehrlich gestanden, wei? ich nicht, ob es etwas zu bedeuten hat. Es ist mir auch erst nach unserem letzten Gesprach wieder eingefallen. Einer der Passagiere hat etwas erwahnt, woruber ich mir damals keine Gedanken gemacht habe. Aber jetzt, im Nachhinein, kommt es mir merkwurdig vor.«

»Und was war das?«

Wieder zogerte Lomax. »Haben Sie heute noch was Dringendes vor?«

Hawkwood dachte daran, dass er unbedingt mit Jago Kontakt aufnehmen musse, aber das konnte warten, sollte Lomax tatsachlich einen wichtigen Hinweis haben. Er schuttelte den Kopf. »Nein. Warum?«

Statt einer Antwort stand Lomax auf und warf eine Hand voll Munzen auf den Tisch. »Weil ich glaube, dass Sie und ich jemandem einen Besuch abstatten sollten.«

»Wem?«

»Dem Passagier, der diese Bemerkung fallen lie?, die mir wieder in den Sinn gekommen ist.«

Reverend Septimus Fludde erinnerte Hawkwood an die Geier Spaniens und Sudamerikas. Diese hasslichen, kreischenden Kreaturen mit kahlen Halsen und gekrummten scharfen Schnabeln. Reverend Fludde bewegte sich sogar wie ein langbeiniger Vogel. Er stakste steif umher und sah mit seinem Rundrucken aus, als wollte er jeden Augenblick die Arme ausbreiten und sich flatternd in die Lufte erheben. Und das Gefieder des Reverends – seine schwarze, geistliche Kutte – unterstrich diesen Eindruck.

»Er ist ein streitsuchtiger alter Kerl, aber der einzige zuverlassige Zeuge«, hatte Lomax ihm auf dem Weg durch das Bishopsgate zu der baufalligen Kirche St. Jude erzahlt.

»Was ist mit dem Kutscher und den anderen Passagieren?«, fragte Hawkwood.

Lomax schuttelte den Kopf. »Reine Zeitverschwendung. Der Kutscher hat sich nach dem Uberfall ins Bett gelegt und ist nicht wieder aufgestanden. Er schwatzt nur noch dummes Zeug. Immerhin hat der arme Kerl mit ansehen mussen, wie vor seinen Augen zwei Manner getotet wurden. Kein Wunder, dass er wirr im Kopf geworden ist.«

»Und die anderen Passagiere?«

Lomax schnaubte verachtlich. »Ach, Sie meinen Richter Coverley und seine Gattin?«

»Ein Richter?«, fragte Hawkwood erstaunt.

»Berufsrichter, um prazise zu sein. Er ist der Vorsitzende eines Gerichts irgendwo in Gloucester. Haben Sie das nicht gewusst?«, fragte Lomax ebenso erstaunt.

Warum hat mich James Read nicht daruber informiert, als er mir die Ermittlungen fur diesen Fall ubertragen hat?, wunderte sich Hawkwood. Es erklart allerdings, warum den Obersten Richter ausgerechnet dieser Uberfall auf eine Kutsche derart emport hat. Wahrscheinlich hat Richter Coverley kraft seines Amtes die Bow Street unter Druck gesetzt, damit die Diebe gefasst werden und er den gestohlenen Schmuck zuruckerhalt. Wie praktisch, einflussreiche Freunde zu haben!, dachte Hawkwood zynisch.

»Er ist ein richtiger Schei?kerl«, sagte Lomax. »Und seine Frau ist nicht besser. Viel Wind, aber nichts dahinter. Au?erdem hat sie ein Gesicht, bei dem die Milch sauer wird.« Lomax lachte glucksend. »Und das sage ausgerechnet ich. Jedenfalls waren die beiden auf der Ruckreise von einer Hochzeit. Der Richter hat mir erzahlt, er musse wegen anstehender Gerichtstermine unverzuglich in seine Grafschaft zuruckkehren. Mir tut der arme Kerl Leid, der als Nachster vor ihm steht. Seine Ehren hatte eine derartige Stinklaune, dass er ihn bestimmt zum Tod durch Erhangen verurteilt und ihm noch eigenhandig den Strick um den Hals legt.«

»Womit uns nur noch Reverend Fludde bleibt …«

»Ja«, stimmte Lomax zu. »Der spuckt zwar Feuer und Schwefel, aber wenn Sie mich fragen, so bellt er nur und bei?t nicht.«

Letztendlich hatte der Reverend jedoch nur lautstark protestiert, weil ihn die beiden unerwunschten Besucher bei der Ausarbeitung seiner Sonntagspredigt storten. Die Haushalterin hatte Hawkwood und Lomax in das dustere Arbeitszimmer gefuhrt.

Fludde sa? an seinem mit Papieren ubersaten Schreibtisch und betrachtete die beiden Gesetzeshuter spottisch uber den Rand seiner Brille hinweg. »Sieh da, Officer Lomax! Haben Sie die Halunken geschnappt?«

»Leider noch nicht«, sagte Lomax.

Der strafende Blick des Geistlichen lie? keinen Zweifel, dass er eine andere Antwort erwartet hatte. Als wurde er erst jetzt Hawkwoods Anwesenheit bemerken, drehte er ruckartig den Kopf. Hawkwood hatte schworen konnen, dass er die Halswirbel knirschen horte.

»Und wer, bitte, ist das?«

»Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Kollegen, Officer Hawkwood, tatig als Constable fur Sonderermittlungen fur die Bow Street, vorzustellen.«

Fludde zeigte sich wenig beeindruckt. »Ach, tatsachlich? Und warum sind Sie hier, anstatt die Stra?en nach den Raubern abzuklappern?«

Lomax rausperte sich. »Wenn Sie gestatten, Reverend, mochte ich mit Ihnen noch einmal uber jene Nacht sprechen, in der Ihre Kutsche uberfallen wurde. Als einer der Passagiere getotet wurde, sagte der Mann, der geschossen hat, etwas. Konnen Sie sich daran noch erinnern?«

Reverend Fludde reckte das Kinn vor. »Selbstverstandlich kann ich mich daran erinnern! Ich bin zwar schon ein Mann fortgeschrittenen Alters, aber noch nicht senil, Officer Lomax!«

»Naturlich nicht, Reverend. Entschuldigen Sie bitte«, lenkte Lomax schnell ein. »So habe ich das nicht gemeint. Aber ich ware Ihnen dankbar, wenn Sie auch Officer Hawkwood erzahlen wurden, was der Morder bei dem Uberfall gesagt hat.«

»Ware das bei der Fahndung nach den Verbrechern hilfreich?«

»Davon bin ich uberzeugt, Sir.«

»Also gut«, seufzte Reverend Fludde ungehalten. »Lassen Sie mich nachdenken. Soweit ich mich entsinne …« Er warf dem Exdragoner einen vernichtenden Blick zu. »… hatte er seine Pistole auf den Kopf des Mannes

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