Der Junge machte gro?e Augen und nickte heftig.
Warlock hat also nicht bis zum nachsten Morgen gewartet, dachte Hawkwood, sondern ist nach der Befragung der Hobbs noch am selben Abend in die Werkstatt gegangen.
»1st schon gut, Jacob«, sagte Isadore Knibbs. »Du hast das Richtige getan.«
Der Junge war so erleichtert, dass es plotzlich wie ein Wasserfall aus ihm heraussprudelte: »Er wollte wissen, ob ich den Master gesehen habe. Er hat mir gesagt, dass der Master nicht nach Hause gekommen sei und sich alle Sorgen um ihn machen. Ich hab ihm gesagt, ich hatte den Master gesehen, und niemand musse sich Sorgen machen.«
»Na, naturlich hast du den Master gesehen, Jacob. Er war doch den ganzen Tag hier bei uns.«
»Das wei? ich, Onkel Izzi. Aber ich hab ihn nachher noch einmal ge … gesehen.«
Isadore Knibbs seufzte. »Ich glaube nicht, dass er versteht, worum es geht, Mr. Hawkwood. Wie gesagt, manchmal bringt er alles durcheinander.«
Hawkwood fixierte den Jungen. »Wo hast du denn den Master gesehen, Jacob?«
»In einer Kutsche ist er gefahren. Wie ein richtiger, feiner Herr.«
»In einer Kutsche?« Hawkwood runzelte die Stirn. Luther Hobb, der Diener, hatte ihm erzahlt, dass der Uhrmachermeister lieber zu Fu? gehe und nur bei schlechtem Wetter eine Kutsche nehme. An jenem Abend war es jedoch trocken und mild gewesen.
»Sa? der Master allein in der Kutsche, oder war jemand bei ihm?«
»Hab niemanden gesehen.«
Was nicht unbedingt hie?, dass der alte Mann allein gewesen war, sondern nur, dass der Junge au?er ihm niemanden gesehen hatte. »Beschreib mir die Kutsche Jacob. Wie hat sie ausgesehen?«
Da leuchteten die Augen des Jungen auf. »Eine elegante Kutsche war es. Von zwei gro?en schwarzen Pferden gezogen. Schon waren die. Ihr Fell hat geglanzt und so.«
Damit kann ich wenig anfangen, dachte Hawkwood verzweifelt. Diese Beschreibung passt auf die meisten Kaleschen in London.
»Da war auch noch ein Drache«, fugte Jacob Quigley leise, beinahe ehrfurchtig hinzu.
Hawkwood glaubte, sich verhort zu haben. »Ein Drache?«, wiederholte er und sah Isadore Knibbs um Unterstutzung heischend an. Er erntete jedoch nur einen verstandnislosen Blick.
»Was fur ein Drache, Jacob?«
»So einer, wie ich ihn dem anderen Gentleman gezeigt habe.«
Damit meint er wohl Warlock, dachte Hawkwood. »Was hast du ihm gezeigt, Jacob?«
»Den Drachen.«
»Was fur einen Drachen?«, wiederholte Hawkwood die Frage moglichst ruhig, obwohl er den Jungen am liebsten an den Schultern gepackt und heftig geschuttelt hatte.
»Es war derselbe wie der andere.«
»Der andere?«
»Der andere Drache, naturlich!«
Hawkwood wollte am liebsten frustriert aufschreien. Es kam ihm vor, als musste er dem Jungen die Zahne einzeln ziehen.
Er war vollig unvorbereitet auf das, was als Nachstes geschah. Jacob Quigley warf den Besen beiseite, sturzte auf Hawkwood zu und packte ihn am Handgelenk.
»Jacob!«, rief der alte Mann vor Schreck so laut, dass die Arbeiter aufblickten und mit offenem Mund das Geschehen verfolgten.
Normalerweise hatte Hawkwood diesen Angriff sofort mit einem Abwehrschlag gekontert, doch ein sechster Sinn versicherte ihm, dass Jacob Quigley nicht in boser Absicht handelte, sondern nur Aufmerksamkeit erregen wollte. Der Junge ist ebenso frustriert wie ich, wurde Hawkwood klar. Er will mir etwas Wichtiges mitteilen, aber was?
Hawkwood war erstaunt, wie viel Kraft der Junge hatte. Es hatte ihn einige Muhe gekostet, sich aus diesem Griff zu befreien. Vollig perplex lie? er sich durch die Werkstatt ziehen. Isadore Knibbs fasste sich schnell und folgte den beiden.
Schwer atmend zog Jakob den deformierten Fu? hinter sich her und zerrte Hawkwood durch einen Turbogen in ein Lager. In Regalen und auf dem Boden lagen und standen Zeitmesser in jeder nur erdenklichen Gestalt und Gro?e: Laternen-Uhren, Standuhren, Wirtshaus-Uhren, Wasseruhren, Wanduhren und Barometer.
Dann blieb Jacob Quigley abrupt stehen, drehte sich um und deutete aufgeregt zu den Wanduhren.
»Was willst du mir damit sagen, Jacob?«, fragte Hawkwood ratlos. Und auch Isadore Knibbs schuttelte nur den Kopf und warf die Hande hilflos nach oben.
Jacob Quigley zerrte Hawkwood vor eine der Uhren und deutete wieder darauf.
Die Standuhr war etwa zweieinhalb Meter hoch, das Eichengehause mit Mahagoni- und Muschelintarsien verziert. Arabische Ziffern und zwei kunstvoll geschmiedete Messingzeiger schmuckten das drei?ig Zentimeter breite, wei?e Ziffernblatt. Ein Exemplar vollendeter Handwerkskunst.
»Ist es die Zeit, die du mir zeigen willst, Jacob?«
Die Zeiger standen auf Viertel vor sechs.
»Hast du Master Woodburn um Viertel vor sechs gesehen?«
Der Junge schuttelte den Kopf, lie? Hawkwoods Handgelenk los und humpelte zur Uhr. Dort streckte er den Arm hoch, deutete auf das Gehause und sagte: »Drachen! Sehen Sie den Drachen?«
Da fiel es Hawkwood wie Schuppen von den Augen. Er fluchte stumm uber seine Dummheit, weil er so begriffsstutzig gewesen war. Nicht die Zeit hatte Jacob ihm zeigen wollen, sondern die Gravur auf dem Gehause. Ein Wappen, an einer Seite von einem Bar und an der anderen von einem Drachen umrahmt. Auf dem Familienwappen waren noch ein Schiff, zwei gekreuzte Schwerter und ein kunstvolles Blattmotiv dargestellt. Irgendwie kam Hawkwood dieses Wappen bekannt vor.
Jacob Quigley beobachtete grinsend, wie Hawkwood allmahlich ein Licht aufging.
»Jetzt verstehe ich, Jacob«, sagte Hawkwood. »Und dieses Wappen hast du auch dem anderen Gentleman gezeigt?«
Der Junge nickte. »Das war an der Tur.«
»An der Tur der Kutsche?«
Wieder nickte Jacob heftig.
Halleluja!, dachte Hawkwood und sagte: »Gut gemacht, Jacob. Du hast dir deinen Penny verdient.« Er druckte ihm die Munze in die Hand. »Mr. Knibbs, erzahlen Sie mir etwas uber diese Uhr.«
»Die da? Ahm … das ist ein acht Tage …«
»Das verdammte Uhrwerk interessiert mich nicht! Ich will wissen, fur wen sie angefertigt wurde. Das ist doch ein Auftragswerk, nicht wahr?«
»Ja.«
»Fur wen?«
Isadore Knibbs zuckte bei Hawkwoods aggressivem Ton zusammen.
»Na los, Mann. Raus damit!«
Doch da kannte Hawkwood bereits die Antwort auf seine Frage.
Am Abend des Balls hatte er dieses Wappen an den Turen und auf den Livreen der Lakaien gesehen. Wie hatte er das nur vergessen konnen?
Das Familienwappen der Mandrakes zierte die Standuhr.
11
Es war beinahe sechs Uhr, als Hawkwood beim Wirtshaus