»Vergessen Sie eins nicht, Sir«, fuhr James Read fort und durchbohrte Hawkwood formlich mit seinem Blick, »und denken Sie stets daran: Ich verfuge zwar uber einen gewissen Einfluss auf bestimmte Kreise der Regierung, aber nur, solange ich mein Amt ausube. Der Tag wird kommen, an dem ich meine Autoritat nicht mehr einsetzen kann, um meine schutzende Hand uber Sie zu halten!
Ihr unkluges Verhalten hat mich in eine prekare Lage versetzt, Hawkwood. Derartige Situationen missbillige ich. Sie konnen sich glucklich schatzen, dass ich John Rutherfords Vater davon uberzeugen konnte, die fur seinen Sohn demutigende Angelegenheit im Interesse der Familie auf sich beruhen zu lassen. Aber Vorsicht, Hawkwood. Sie bewegen sich auf sehr dunnem Eis. Ich habe Ihnen bisher eine Menge Freiheiten zugestanden, aber es ware unklug von Ihnen, meine Nachsicht zu missbrauchen. Ich werde nicht zulassen, dass einer meiner Beamten durch sein eitles Fehlverhalten dem exzellenten Ruf dieser Behorde schadet. Sollten Sie jemals wieder einen personlichen Rachefeldzug planen, rate ich Ihnen, sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen.« Die Hande hinter dem Rucken verschrankt und die Beine gespreizt, stand der Oberste Richter mitten im Raum. »Ich behalte mir vor, Sie zu entlassen, Hawkwood. Habe ich mich klar genug ausgedruckt?«
»Ja, Sir«, sagte Hawkwood und atmete erleichtert auf. Denn der Richter hatte ihm noch eine Chance gegeben – ihm sozusagen eine Gnadenfrist eingeraumt.
James Read sah seinen Runner noch einmal durchdringend an und nickte dann. »Gut, dann belassen wir es einstweilen dabei. Wir sprechen noch einmal daruber, sobald dieser Fall aufgeklart ist. Sie konnen jetzt gehen. Sprechen Sie mit Mr. Twigg uber die Falle, die Runner Warlock zuletzt bearbeitet hat.«
»Ja, Sir.«
»Ach, ubrigens, Officer Hawkwood …«
Hawkwood drehte sich noch einmal um. »Ja, Sir?«
»Sie sehen erschopft aus. Ich rate Ihnen, und sei es nur aus gesundheitlichen Grunden, Ihre nachtlichen Eskapaden auf ein Minimum zu beschranken«, ermahnte ihn der Richter spottisch.
»Warum, zum Teufel, gibt es daruber keinen Bericht?«, fuhr Hawkwood Ezra Twigg an.
Der kleine Mann blinzelte hinter seiner Brille und rutschte nervos auf seinem Stuhl hin und her. »Es tut mir Leid, Mr. Hawkwood. Officer Warlock konnte keinen vorlaufigen Bericht schreiben, weil er nicht mehr ins Amt gekommen ist.«
»Gibt es daruber uberhaupt irgendwelche Informationen? Wer hat diesen verdammten Uhrmacher als vermisst gemeldet?«
»Sein Diener.«
Hawkwood wartete, wahrend Ezra Twigg in dem Bemuhen, doch noch hilfreich zu sein, einen Stapel Akten auf seinem Schreibtisch durchblatterte, daraus schlie?lich mit einem zufriedenen Brummen ein einzelnes Blatt hervorzog und es unter die Lampe hielt. »Ja, hier haben wir’s … Luther Hobb, Diener. Das Hauspersonal hat sich Sorgen gemacht, als Master Woodburn nicht zum Abendessen nach Hause kam. Der Diener ist ins Amt gekommen und hat Anzeige erstattet. Officer Warlock wurde damit beauftragt, der Sache nachzugehen.«
»Und das war das letzte Mal, dass ihn jemand in diesem Buro lebend gesehen hat?«
Der Sekretar nickte betrubt.
Die Tatsache, dass niemand im Amt Henry Warlock ein paar Tage vermisst hatte, mochte fur einen Au?enseiter zwar nicht nachvollziehbar sein, aber eine langere Abwesenheit der Runner war im Verlauf einer Ermittlung oft unumganglich und stellte keinen Grund zur Sorge dar – viel eher das Verschwinden des Uhrmachers Josiah Woodburn.
Wo soll ich nur ohne prazise Hinweise mit den Ermittlungen beginnen?, fragte sich Hawkwood verzweifelt.
»Also gut«, sagte er schlie?lich. »Was wissen wir uber diesen Uhrmacher? Gibt es irgendwelche dunklen Punkte in seinem Leben, au?er der Tatsache, dass er Mitglied der presbyterianischen Kirche ist?«
Ezra Twigg hatte zwar Erkundigungen eingezogen, aber nichts Ungewohnliches entdecken konnen. Londons Uhrmacher genossen hochstes Ansehen und innerhalb dieser ehrenhaften Zunft war der Name Woodburn hoch geschatzt. Seit beinahe zweihundert Jahren hatte die Familie Uhren fur Konige, Prinzen, Kaufleute und Maharadschas entworfen und angefertigt. Der Name Woodburn garantierte hochste Qualitat. Uber Josiah Woodburn war wenig bekannt, au?er dass er achtundsechzig Jahre alt, seit zehn Jahren Witwer war und mit seiner Enkelin, die er nach dem Tod ihrer Eltern zu sich genommen hatte, in seinem Haus lebte. Er war ein ehrenwerter Mann und zahlte zu den Saulen der Gesellschaft.
Da diese Informationen fur Hawkwood wenig aufschlussreich waren, blieb ihm nur eins ubrig: Er musste ganz von vorne beginnen und Warlocks Ermittlungen zuruckverfolgen. Eine zeitaufwendige aber unumgangliche Prozedur.
»Darf ich annehmen, dass wir zumindest Woodburns Adresse haben?«, fragte Hawkwood. »Oder ist das zu viel verlangt?«
Der Sekretar tat beleidigt, seufzte resigniert und fragte: »Ist Sarkasmus nicht die unterste Stufe des Witzes, Mr. Hawkwood?«
»Ach, tatsachlich?«, entgegnete Hawkwood ungeruhrt.
Ezra Twigg kritzelte die Adresse auf einen Zettel, gab ihn Hawkwood und fugte hinzu: »Fur Sie wurde eine Nachricht abgegeben.«
»Eine Nachricht?«, sagte Hawkwood erwartungsvoll, denn er hoffte auf ein Zeichen von Jago. Aber er wurde enttauscht, denn Lomax, der Exmajor der Dragoner und jetzige Officer der Reiterpatrouille, bat ihn um ein Treffen im
Er steckte den Zettel mit der Adresse des Uhrmachers in seine Westentasche und griff nach seinem Rock. Da horte er ein Murmeln hinter sich und drehte sich um. »Haben Sie etwas gesagt, Mr.Twigg?«, fragte er.
Der Sekretar kauerte mit gesenktem Kopf an seinem Schreibtisch. Erst als Hawkwood zur Tur ging, blickte Twigg auf. »Ich habe nur gesagt, Sie sollten vorsichtig sein, Mr. Hawkwood.«
Hawkwood blieb in der offenen Tur stehen und grinste.
»Aber, Ezra, Sie machen sich ja Sorgen um mein Wohlbefinden. Ich bin geruhrt.«
Twigg verzog keine Miene, spahte uber den Rand seiner Brille und sagte: »Wenn das so ist, darf ich Ihnen dann noch einen guten Rat mit auf den Weg geben, Mr. Hawkwood?«
»Naturlich, Mr.Twigg.«
Ezra Twigg Mundwinkel zuckten, als er sagte: »Ich an Ihrer Stelle, Mr. Hawkwood, wurde keine fremden Frauen ansprechen.«
10
Josiah Woodburns Werkstatt befand sich in Clerkenwell, einem armen Viertel, in dem nach der Gemeinde St. Luke’s die meisten Uhrmacher Londons angesiedelt waren. Dort ubten auf engstem Raum, in niedrigen Dachkammern und dusteren Kellern Goldschmiede, Graveure, Emaillierer und Gehausehersteller ihr Handwerk aus. Das Wohnhaus des Uhrmachers am Strand wirkte trotz der feinen Umgebung eher bescheiden. Auf einem kleinen, unauffalligen Schild war JOSIAH WOOD-BURN, UHRMACHER und das Wappen der Ehrenwerten Zunft der Uhrmacher eingraviert. Hier empfing Josiah Woodburn seine anspruchvollsten und reichsten Kunden.
Allein das Fehlen jeglichen Luxus im Gegensatz zu seinen Nachbarn zeugte von Woodburns Ansehen. Als Meister seines Handwerks hatte er es nicht notig, seine Artefakte in kunstvoll dekorierten Schaufenstern auszustellen oder in protzigen Anzeigen anzupreisen. Allein der Name Woodburn garantierte ihm einen Kreis erlesener Stammkunden, die er jedoch nur nach einem vorher vereinbarten Termin empfing.
Das erklarte auch das unentschlossene Verhalten des Dienstmadchens, als sie Hawkwood die Tur offnete. Als Polizist zahlte er offenkundig nicht zum Kreis illustrer Kunden, und das Dienstmadchen war sich unsicher, ob sie ihn nicht zum Lieferanteneingang schicken sollte. Hawkwood half ihr aus diesem Dilemma, indem er vorschlug, sie solle den Diener holen. Nach kurzem Zogern fuhrte das Madchen ihn doch in den Salon und machte sich beinahe fluchtartig auf die Suche nach Verstarkung.
Hobb, der Diener, war ein adretter Mann in mittleren Jahren mit sparlichem, grau meliertem Haar und