»Er ist ein aufgeblasener Dummkopf.«
»Aufgeblasen mag er wohl sein. Und er hat eine beneidenswerte Art, jeden auf die Palme zu bringen. Aber ein Dummkopf? Nein, Dr. McGregor ist ein ausgezeichneter Arzt. Ich darf Sie daran erinnern, Hawkwood, dass wir wohl mehr auf seine Kenntnisse angewiesen sind als er auf unsere.«
»Das hei?t noch lange nicht, dass ich ihn mogen muss«, sagte Hawkwood.
»Stimmt«, bestatigte James Read mude. »Obwohl ich Ihre Gefuhle wegen des gewaltsamen Todes Ihres Kollegen achte, ware ich Ihnen dankbar, wenn Sie es unterlassen wurden, den Arzt zu beleidigen. Vor allem in meiner Gegenwart.«
Das warnende Glitzern in den Augen des Obersten Richters war so eindeutig, dass Hawkwood einlenkte. »Ja, Sir.«
James Read nickte zufrieden. »Kommen wir zur Sache. Haben Sie sich Gedanken uber die Ursache von Warlocks Mord gemacht?«
»Meiner Meinung nach war er entweder Opfer eines Raububerfalls oder eines Racheakts. Ein anderes Motiv halte ich nicht fur wahrscheinlich«, antwortete Hawkwood.
»Die Gegend ist als Schlupfwinkel fur Stra?enrauber bekannt«, sagte der Richter. »Allerdings …«
Hawkwood nickte. »Ich wei?. Je mehr ich mich damit befasse, umso unwahrscheinlicher halte ich einen Raububerfall. Warlock war ein zu erfahrener Polizist, um sich von einem Taschendieb uberrumpeln zu lassen. Und dass seine Taschen leer waren, hat nichts zu bedeuten. Hatte er noch eine Stunde langer dagelegen, ware nichts mehr von seiner Kleidung ubrig geblieben. Nur wenige lassen sich die Chance entgehen, umsonst zu einem Rock und einem Paar Stiefel zu kommen. Nein, ich schatze, es war ein Racheakt. Warlock war ein guter Runner und hat viele Verbrecher festgenommen. Dabei hat er sich eine Menge Feinde gemacht. Viele mogen ihm den Tod gewunscht haben.«
James Read wirkte niedergeschlagen und fugte nachdenklich hinzu: »Falls es ein Racheakt war, kann es lange dauern, bis wir den Morder fassen. Als wurden wir eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen.«
»Das kommt auf die Gro?e der Nadel an«, sagte Hawkwood. »Am besten sehen wir uns zuerst die Falle an, bei denen Warlock zuletzt ermittelt hat.«
Hawkwood ging durch den Kopf, dass Warlock den Auftrag bekommen hatte, einer ziemlich harmlosen Geschichte nachzugehen. Bestimmt kein Fall, bei dem es zu Gewalttatigkeiten hatte kommen konnen. Was war es nur gewesen? Dann fiel ihm sein Gesprach mit James Read ein. Der Richter hatte ihm aufgelistet, welche Falle die einzelnen Runner bearbeiteten. Und plotzlich erinnerte er sich: Es handelte sich um einen vermissten Uhrmacher. Oberflachlich betrachtet nichts Aufregendes.
Als er den Richter darauf ansprach, erntete er nur einen skeptischen Blick.
»Wir konnen genauso gut damit anfangen«, schlug Hawkwood vor.
James Read schwieg eine Weile und nickte dann widerstrebend. »Meinetwegen«, sagte er. »Wie mir scheint, haben wir ja sonst keine Anhaltspunkte.« Stirnrunzelnd fugte er hinzu: »Und die Kinder haben wirklich nichts beobachtet?«
»Das haben sie mir zumindest versichert.«
»Glauben Sie ihnen?«
»Ja.«
Wieder musterte der Oberste Richter Hawkwood skeptisch. »Ich wunschte, ich konnte Ihr Vertrauen in diese kleinen Streuner teilen. Naturlich zweifle ich nicht daran, dass Sie Ihre Informanten gut kennen. Gerade deshalb verlasse ich mich auf Ihr Urteilsvermogen. Und weil Sie der einzige mir zur Verfugung stehende Runner sind, beauftrage ich Sie mit den Ermittlungen. Ich hatte gehofft, Lightfoot von seiner Aufgabe, Begleitschutz zu leisten, abziehen zu konnen, aber die Bank braucht ihn noch mindestens einen Tag. Ich habe auch mit Laceys Arzt gesprochen und erfahren, dass Officer Lacey in fruhesten zwei Tagen in den Innendienst zuruckkehren kann. Bis dahin sind Sie leider auf sich allein gestellt. Ich habe bereits dafur gesorgt, dass Belohnungen ausgeschrieben und ein paar zusatzliche Constables eingesetzt werden, die sich in der Gegend umsehen und umhoren. Obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht mit irgendwelchen aufschlussreichen Erkenntnissen rechne. Ich kann Ihnen auch einen der Constables als personlichen Assistenten zur Verfugung stellen, sollten Sie das fur notig halten.«
»Nein«, sagte Hawkwood schnell, denn er wusste aus Erfahrung, dass bis auf wenige Ausnahmen Constables bei Ermittlungen ebenso wenig nutzlich waren wie Wachmanner, was bedeutete, uberhaupt nicht. Er behielt diese Meinung jedoch fur sich und war erleichtert, als sich der Oberste Richter uber seine Entscheidung nicht erstaunt zeigte.
»Wie Sie wunschen«, sagte James Read und rieb sich die Schlafe. »Ach, ubrigens, da mir noch kein Bericht uber den Uberfall auf die Kutsche vorliegt, gehe ich davon aus, dass Sie mit Ihren Ermittlungen noch nicht vorangekommen sind.«
»Bisher nicht.«
»Ich verstehe«, sagte der Oberste Richter etwas geistesabwesend. »Das ist sehr bedauerlich.«
»Ich brauche detaillierte Informationen uber alle Falle, an denen Warlock gearbeitet hat«, entgegnete Hawkwood unverzuglich.
»Wie bitte?« Der Richter schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. »Ach, ja, naturlich. Reden Sie mit Mr. Twigg. Er ist bestens unterrichtet.« Dann schnitt James Read eine Grimasse und fugte hinzu: »Wenigstens wissen wir jetzt, warum Warlock neulich abends nicht zum Rapport erschienen ist.«
Hawkwood war schon auf dem Weg zur Tur, als ihn der Richter zuruckrief. »Einen Augenblick, bitte. Da ist noch eine Sache, die mich beunruhigt.«
Der kalte Unterton in der Stimme des Richters lie? Hawkwood innerlich erstarren. Er wusste sofort, was jetzt kommen wurde. Er straffte die Schultern, drehte sich um und sah, dass James Read wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, die Hande flach auf die Platte legte und sichtlich bemuht war, gelassen zu wirken. »Sagen Sie, Hawkwood, haben Sie sich eigentlich uberlegt, mit welchen Konsequenzen Sie hatten rechnen mussen, wenn Sie den jungen Rutherford erschossen hatten?«
Das Ticken der Standuhr in der Ecke klang plotzlich unnaturlich laut. Aus Sekunden wurden Minuten.
Hawkwood fuhlte, wie sich seine Bauchmuskeln verkrampften und seine Wunde zu schmerzen begann.
Der Oberste Richter schuttelte verzweifelt den Kopf. »Ihr Verhalten hat mich – gelinde gesagt – erstaunt. Als ich erfahren habe, was heute Morgen geschehen ist, habe ich versucht, eine Erklarung dafur zu finden – vergeblich. Waren Sie bitte so nett, mir zu verraten, was Sie sich in Gottes Namen dabei gedacht haben?« James Reads Stimme bebte vor Zorn.
Hawkwood hielt es fur das Beste, die Wut des Richters vorerst schweigend uber sich ergehen zu lassen, und fixierte einen Punkt oben an der Wand hinter dem Schreibtisch.
James Read stand auf und machte mit weit ausgebreiteten Armen eine den Raum umfassende Geste. »Haben Sie sich etwa eingebildet, dass Ihre Zugehorigkeit zu dieser Behorde Ihnen strafrechtliche Immunitat verleiht? War es das? Dann lassen Sie sich von mir gesagt sein, dass dem nicht so ist, Sir!«
Der Richter schwieg kurz, ehe er fortfuhr: »Zu den Grundregeln dieser Behorde gehort die absolute Wahrung eines einwandfreien Rufs. Gegen diese Regel haben Sie versto?en. Ich wei? nicht, was mich mehr bekummert: die Tatsache, dass Sie sich in eine derartige Situation haben drangen lassen, oder Ihre absurde Vorstellung, ich konnte nichts davon erfahren?«
Der Oberste Richter schloss wie vom Schmerz uberwaltigt die Augen und kniff sich in den Nasenrucken. Dann ging er, Hawkwood ignorierend, zum Fenster und starrte hinaus.
»Eigentlich musste ich Sie vom Dienst suspendieren«, sprach er schlie?lich weiter, »und ein Ermittlungsverfahren gegen Sie einleiten. Unter den gegebenen Umstanden bleibt mir jedoch keine andere Wahl, als davon abzusehen.« Jetzt drehte James Read sich um und sah Hawkwood finster an. »Im Augenblick kann ich namlich nicht auf Ihre Mitarbeit verzichten.«
Dann herrschte eisiges Schweigen. Hawkwood spurte, dass James Read noch nicht mit ihm fertig war. Wie hat er nur von dem Duell erfahren?, wunderte er sich. Major Lawrence hatte ihm versichert, dass John Rutherford und seine Freunde uber die peinliche Affare Stillschweigen bewahren wurden. Der Arzt und der Lakai waren bestochen worden und wurden wohlweislich den Mund halten. Hatte Catherine de Varesne daruber gesprochen? Unwahrscheinlich. Blieb nur noch Lord Mandrake, der jedoch Hawkwood gegenuber den Vorfall im Park mit keinem Wort erwahnt hatte, weil er wahrscheinlich keine Kenntnis davon besa?. Und die schattenhafte Gestalt unter den Baumen?, uberlegte Hawkwood. Vielleicht habe ich mir die doch nicht eingebildet. Aber es ist sinnlos, weiter zu spekulieren. Die Katze ist aus dem Sack, und ich muss die Konsequenzen tragen.