Hawkwood blickte hinunter. Ein dreckverschmiertes Gesicht auf einem spindeldurren Korper sah zu ihm hoch. Unter einer schmutzigen Wollmutze schauten rotliche Haarstrahnen hervor.

Hawkwood lie? den Jungen los. »O Mann, Davey! Du solltest dich nicht so an mich ranschleichen … Und nenn mich nicht Hawkey. Wie oft habe ich dir das schon erklart?«

»Ich habe mich nicht angeschlichen«, sagte der Junge schmollend. »Und hatte ich’s getan, hatten Sie’s nie gemerkt! Niemals nie!« Dann grinste er breit, entblo?te seine Zahnlucken und fugte hinzu: »Mr. ’Awkwood.«

Hawkwood lie? sich von diesem entwaffnenden Grinsen anstecken. Er hatte es tatsachlich nicht gemerkt, wenn Davey es darauf angelegt hatte, ihn zu bestehlen. Der kleine Kerl ware mit der Beute langst auf und davon.

Diebereien waren jedoch nicht Daveys einzige Einkommensquelle.

Wie viele der heimatlosen Kinder watete er bei Ebbe durch den stinkenden schwarzen Schlamm der Themse und sammelte alles Mogliche, das ans Ufer geschwemmt oder von einem Schiff, einem Boot oder einem Lastkahn ins Wasser gefallen war. Dinge, die die Streuner verkaufen konnten. Einzeln oder in Banden trieben sie sich wie Ratten im Dunkeln herum.

Davey hatte aber noch andere Talente. Er sperrte Augen und Ohren auf und war einer von Hawkwoods besten Informanten. Trotz der Bemuhungen der Wachmann-Patrouillen und der in Wapping stationierten Fluss- Polizei bluhte das Verbrechen an der Themse. Deshalb waren die Behorden auf jede mogliche Hilfe angewiesen.

Davey und seine Kumpane waren gewiss keine Engel, aber im Vergleich zu anderen Kriminellen nur ganz kleine Fische. Hawkwood und seine Kollegen druckten bei belanglosen Diebereien gern die Augen zu, wenn ihnen dadurch die gro?en Fische ins Netz gingen. Wie Mitglieder organisierter Banden von Dieben und Handlern, die im Auftrag Schiffsladungen stahlen oder Lagerhauser entlang des Flussufers ausraubten.

»Na, was gibt’s, Davey? Hast du was fur mich?«

Der Junge blickte sich vorsichtig um, so als furchtete er, belauscht zu werden. Von seiner vorherigen Keckheit war nichts ubrig geblieben, als er flusterte: »Wir haben einen Toten gefunden, Mr. ’Awkwood.«

Der erste unbarmherzige Gedanke, der Hawkwood durch den Kopf schoss, war: Na, wenn der Junge heute Morgen nur einen Toten gesichtet hat, dann hat er wohl nicht richtig hingesehen.

Die Stra?en der Hauptstadt waren zwar nicht mit Leichen ubersat, aber Tote waren uberall zu finden. Das Alter, Krankheiten und Gewalttaten forderten unter den Armen und Obdachlosen ihren Preis. In den dunklen Gassen der Elendsviertel war es nicht ungewohnlich, dass taglich Leichen entdeckt wurden. Deshalb wunderte es Hawkwood, dass der Gassenjunge es fur notig hielt, ihm einen Toten zu melden. Denn er war ja an derartige Anblicke gewohnt. Er wollte gerade etwas sagen, als ihn der Ausdruck in den Augen des Jungen daran hinderte.

»Aber, Mr. ’Awkwood, das ist kein gewohnlicher Steifer. Der ist anders. Er ist einer von euch. Er ist ein Runner!«

9

Der Tote lag im Schlamm, den Kopf zur Seite gewandt. Ein Arm war ausgestreckt, als hatte er nach etwas greifen wollen. Der andere lag verdreht unter seinem Korper.

Am Fluss herrschte ein noch widerlicherer Gestank als in manchen Stadtvierteln. Ein Gebrau aus ekelerregenden Geruchen – Teer, feuchtem Tauwerk, fauligem Brackwasser, vermodernder Vegetation und Kloaken – wetteiferte mit tausend anderen schadlichen, in Augen und Hals brennenden Dunsten aus den angrenzenden Gerbereien, Farbereien und Sagemuhlen.

Vorsichtig stieg Hawkwood, den Boden abtastend, die holprige Steintreppe hinunter und fluchte, als seine Stiefel im stinkenden Schlick versanken. Der Junge hingegen lief flink wie eine Krabbe uber die glitschigen Stufen. Uber ihren Kopfen wolbte sich die Blackfriars Bridge von Ufer zu Ufer und warf einen scharfen Schatten auf Fluss und Boschung.

Zwei Kinder – Mitglieder von Daveys Bande – hockten auf der untersten Stufe und schnellten fluchtbereit hoch, als der Runner auftauchte. Auf den ersten Blick hatte er die beiden fur Jungen gehalten, doch dann sah er, dass eins der Kleinen ein etwa neun- oder zehnjahriges Madchen war. Nachdem Davey den beiden sagte, sie hatten von Hawkwood nichts zu befurchten, hob das Madchen einen Stein auf und warf ihn in den Morast. Erst als sie zwischen den Wurfen anfing hin und her zu hupfen, begriff Hawkwood, dass die Kleine wohl eine Art Himmel- und-Holle spielte. Der Junge hingegen setzte sich wieder auf die Treppe, bohrte in der Nase und schmierte die Popel an seine Kniehose. Trotz der dreckverschmierten Gesichter glaubte Hawkwood zwischen den beiden eine Ahnlichkeit zu entdecken. Vielleicht waren sie Geschwister.

Als sich Hawkwood uber die von Fliegen umschwirrte Leiche beugte, stieg ihm ein widerwartig su?licher Faulnisgeruch in die Nase. Er schluckte, um seinen aufsteigenden Brechreiz zu unterdrucken.

Es gelang Hawkwood nur mit Daveys Hilfe, den Mann umzudrehen. Beide zerrten und zogen, bis der schwarze Schlamm mit einem schmatzenden Gerausch die Leiche freigab. Aus den verschiedenen Korperoffnungen entwichen furzend Gase. Der sauerliche Geschmack in seiner Kehle lie? Hawkwood wurgen. Er wischte Modder und matschige Halme von den Wangen des Mannes. Als er das aufgeblahte Gesicht erkannte, packte ihn das blanke Entsetzen.

Runner Henry Warlock war klein und drahtig, ein stets auf ordentliches Aussehen und gute Manieren bedachter Mann gewesen. Doch unter seiner Schuchternheit hatten sich ein scharfer Verstand und die Zahigkeit eines Terriers auf Verbrecherjagd verborgen. Auch er war, wie die meisten Runner aufgrund ihres Berufs, ein Einzelganger und ein sehr fahiger und erfahrener Polizist gewesen.

Im Tod bot Runner Warlock keinen schonen Anblick. Sein Korper war aufgedunsen, und seine Haut hatte die fahle Farbe eines Fischbauchs angenommen.

An der scheinbar tiefen Wunde unter dem verfilzten Haar hinter dem linken Ohr erkannte Hawkwood sofort, dass Warlock eines gewaltsamen Todes gestorben war. Er uberlegte, womit dieser todliche Schlag ausgefuhrt worden war. Vielleicht mit einem Hammer.

»Sieht aus, als hatten sich die Ratten schon uber ihn hergemacht«, stellte Davey nuchtern fest und deutete auf die ausgestreckte rechte Hand. Der Junge schien weder den Gestank wahrzunehmen, noch erschutterte ihn der abscheuliche Anblick der aufgeblahten Leiche.

Als Hawkwood das angefressene Fleisch sah, wischte er sich angewidert die Hande an dem Saum seines Rocks ab. »Woher wei?t du, dass er ein Runner war, Davey?«, fragte er.

Beinahe mitleidig entgegnete der Junge: »Tun Sie uns bitte einen Gefallen, Mr. ’Awkwood. Wir erkennen euch doch schon von weitem. Und au?erdem haben wir den da gekannt, weil er Pen vor ein paar Wochen beim Klauen erwischt hat.«

Davey deutete mit dem Kopf auf das Madchen, ging dann neben der Leiche in die Hocke und sagte schniefend: »Der war in Ordnung. Nicht wie die anderen Greifer. Er hat sie nur verwarnt und laufen lassen. Sonst hatte man sie wohl aufs Gefangnisschiff geschickt.«

Hawkwood wusste, dass viele seiner Kollegen Warlocks Mitleid fur die Stra?enkinder fur eine Schwache gehalten hatten, die sie ausnutzten. Normalerweise machten Polizeibeamte kaum oder gar keine Zugestandnisse bei der Festnahme von Verbrechern, ganz gleich, ob es sich dabei um Erwachsene oder Kinder handelte. Warlock hingegen hatte Ausnahmen gemacht. Den Grund fur diese Nachsicht – manche nannten sie Torheit – kannten nur wenige, und die, die wie Hawkwood Bescheid wussten, sprachen nicht daruber. Warlocks junge Frau war bei der Geburt seines Sohnes gestorben und der Saugling eine Woche spater vom Fieber dahingerafft worden. Dieses tragische Schicksal hatte Warlock wahrscheinlich zu einem Menschen werden lassen, der es nicht ubers Herz brachte, ein neunjahriges Madchen ins Gefangnis zu stecken. Denn eine achtjahrige Strafe war fur den Diebstahl eines Spitzentaschentuchs durchaus ublich. Auf dem Deck eines Gefangenenschiffs gabe es kaum Platz fur Spiele wie Himmel-und-Holle, dachte Hawkwood bedruckt.

Wie viele Menschen haben die Leiche hier liegen sehen?, fragte er sich und lie? den Blick ubers Ufer schweifen. Auf der Blackfriars Bridge herrschte tagsuber ein reges Kommen und Gehen, und auf dem breiten Strom verkehrten standig Boote und Schiffe aller Kategorien und Gro?en. Blackfriars war ein beliebter Liegeplatz

Вы читаете Der Rattenfanger
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату