fur Bumboote, die dort verankerte Schiffe mit Proviant versorgten, und Anlegeplatz fur Fahren, die Passagiere vom einen Ufer zum anderen beforderten.

Weil die Leiche teilweise im Schlamm gelegen hat, hatte sie auch tagelang unentdeckt bleiben konnen, uberlegte Hawkwood. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Passanten einfach weggeschaut und den Toten fur das Opfer einer Schlagerei von Betrunkenen gehalten und den Gang zu den Behorden gescheut hatten, um Scherereien aus dem Weg zu gehen. Ein Tod, der keine Aufmerksamkeit erregt.

Doch in diesem Fall wurde es ein Nachspiel geben. Denn Henry Warlock war Beamter gewesen und brutal ermordet worden.

Hawkwood war dem Tod auf mannigfaltige Weise begegnet. Im Krieg hatte er von Sabeln zerhackte und von Kanonenkugeln zerfetzte Korper gesehen. Und in seiner verhaltnisma?ig kurzen Laufbahn als Runner hatte er fast taglich mit Mord und Totschlag zu tun. Tote lassen einen Menschen nie unberuhrt. Bei einem Fremden kann man noch eine gewisse Distanz aufrechterhalten, doch der Tod eines bekannten Menschen ist immer ein Schock. Hawkwood hatte diese Erfahrung bei Gefallenen aus seiner eigenen Kompanie gemacht und erlebte jetzt, beim Anblick des aufgeblahten Leichnams von Henry Warlock, denselben inneren Aufruhr: ein Gefuhl personlichen Verlustes, eine Ohnmacht uber die sinnlose Vergeudung eines Lebens und vor allem eine ungeheure Wut.

Obwohl sich sein Korper vor Ekel schuttelte, machte sich Hawkwood daran, die Taschen seines toten Kollegen zu durchsuchen. Er fand nichts: kein Notizbuch, keine Munzen, keine personlichen Dinge.

Hawkwood nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. So unfassbar es ihm auch schien, Runner Warlock war anscheinend trotz seiner Erfahrung im Umgang mit Ubeltatern aller Art einem der gewohnlichsten Verbrechen Londons zum Opfer gefallen. Er war von demselben Abschaum ermordet und ausgeraubt worden, den er zu Lebzeiten gejagt hatte.

Plotzlich kam ihm ein Gedanke. Er betrachtete den Jungen und fragte: »Habt ihr ihn etwa gefleddert, Davey?«

Davey zuckte zusammen und entgegnete dann entrustet: »Nein, wir haben ihn nicht angeruhrt, Mr. ’Awkwood. Bestimmt nicht.«

Hawkwood packte den Jungen am Arm. »Sag mir die Wahrheit, Davey. Das ist sehr wichtig.«

Davey schuttelte heftig den Kopf. »Bei Gott, ich schwor’s, Mr. ’Awkwood.«

Hawkwood sah dem Jungen an, dass er die Wahrheit sprach. »Und habt ihr vielleicht etwas gesehen?«

Wieder schuttelte Davey den Kopf. »Tut mir Leid, Mr. ’Awkwood. Wir haben ihn nur gefunden. Ned hat ihn entdeckt«, sagte er und deutete auf seinen Freund.

»Hast du sonst noch jemandem von der Leiche erzahlt?«

»Noo. Wir machen doch nur mit Ihnen Geschafte.«

Hawkwood runzelte die Stirn. »Woher hast du gewusst, wo du mich finden kannst?«

»Hab’s nicht gewusst«, beteuerte Davey und zuckte mit den Schultern. »Ich hab Dandy zum Black Lion und Teaser in die Bow Street geschickt, weil ich mir dachte, fruher oder spater werden Sie schon auftauchen.«

Eine logische Schlussfolgerung, dachte Hawkwood. Dandy und Teaser gehoren wohl zu Daveys Bande. Er fischte eine Munze aus seiner Rocktasche und gab sie dem Jungen. »Du hast das Richtige getan, Davey. Dafur bin ich dir dankbar.«

Wahrend Davey mit den Zahnen die Echtheit der Munze prufte, warf Hawkwood einen letzten Blick auf den toten Runner. Ich muss zwar dringend mit Jago Kontakt aufnehmen, dachte er, aber dies hier hat jetzt Vorrang. Der Exsergeant muss noch eine Weile auf meinen Besuch warten.

Der Oberste Richter sah den stammigen Mann, der vor ihm stand, erwartungsvoll an. »Nun?«

In einer pathetischen Geste spreizte der Angesprochene die Hande und verkundete: »Sir, die Bestimmung des genauen Todeszeitpunkts kann bisher unter dem Gesichtspunkt exakter wissenschaftlicher Kriterien nicht vorgenommen werden.«

James Read stie? einen verzweifelten Seufzer aus. »Schon gut, Doktor. Dann mochte ich Ihre gelehrte Meinung dazu horen …«

»Ein halber Tag, vielleicht. Hochstens vierundzwanzig Stunden«, antwortete der kraftige Mann, zog ein seidenes Taschentuch aus seinem Armel und wischte sich damit uber die Stirn.

Der Oberste Richter presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ehe er fragte: »Und die Todesursache?«

Das Taschentuch verschwand wieder im Armel. »Ah, daran besteht kein Zweifel. Fraktur des Craniums. Der Okzipitalknochen …«

James Read wedelte ungeduldig mit der Hand. »In einer mir verstandlichen Ausdrucksweise, bitte, Dr. McGregor.«

»Das hei?t«, mischte sich Hawkwood ein, »der arme Kerl wurde erschlagen.«

Dr. McGregor zuckte zusammen. Der beleibte Arzt, der vom Coroner mit der Untersuchung des toten Runners beauftragt worden war, nahm seine eigene Person derart wichtig und war es deshalb nicht gewohnt, bei seinen Ausfuhrungen weder vom Obersten Richter noch von dessen Untergebenen unterbrochen zu werden. Ein Netz roter Aderchen auf Nase und Wangen deutete darauf hin, dass sein Dunkel wahrscheinlich nur von seiner Vorliebe fur Portwein ubertroffen wurde.

»Prazise ausgedruckt«, wies er Hawkwood zurecht und starrte ihn bose an, »hat meine Untersuchung ergeben, dass der Schadel durchbohrt und nicht durch einen Schlag zertrummert wurde.«

»Jedenfalls ist er daran gestorben«, konstatierte Hawkwood, der keinen Sinn fur Spitzfindigkeiten hatte.

»Nun, ja«, bestatigte McGregor und rumpfte verachtlich die Nase, ehe er hinzufugte: »Letztendlich tat er das.«

Der Oberste Richter hob abrupt den Kopf. »Was meinen Sie damit?«

Der Arzt richtete sich zu voller Gro?e auf. »Der Zustand der Leiche und der Kleidung lasst keinen Zweifel daran, dass der Mann langere Zeit im Wasser gelegen hat. Eine Untersuchung der Lungen hat jedoch ergeben, dass er nicht ertrunken ist, sondern, wie ich bereits erklart habe, durch einen Schlag auf den Kopf getotet wurde. Und die Tatsache, dass die Leiche oberhalb der Hochwassermarkierung gefunden wurde, verleiht meiner personlichen Theorie gro?te Glaubwurdigkeit.«

»Und wie lautet diese Theorie?«, erkundigte sich James Read stirnrunzelnd.

»Ich glaube, der Doktor will uns sagen«, mischte sich Hawkwood wieder ein, »dass der Schlag wahrscheinlich nicht sofort todlich war. Mit anderen Worten, nach dem Schlag auf den Kopf ist Warlock in den Fluss gefallen, oder er wurde hineingeworfen. Die Anstrengung, wieder ans Ufer zu gelangen, hat ihn dann umgebracht.«

»Sind Sie zu derselben Schlussfolgerung gekommen?«, fragte James Read den Arzt.

McGregor, sichtlich verargert, weil Hawkwood ihm die Pointe gestohlen hatte, nickte. »Ja.«

Dann herrschte Schweigen, bis Hawkwood schlie?lich fragte: »Konnen Sie uns zur Tatwaffe Auskunft geben?«

Der Arzt, noch immer uber Hawkwoods Anwesenheit und dessen mangelndes Taktgefuhl gekrankt, atmete tief ein, ehe er dozierte: »Der Schlag wurde mit exzessiver Wucht ausgefuhrt. Die Tatwaffe muss spitz und schwer gewesen sein. Vielleicht war es ein Pickel oder ein Mei?el gewesen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Herrgott noch mal!«, platzte Hawkwood heraus. »Gibt es uberhaupt irgendetwas, dessen Sie sich sicher sind? Au?er Ihrem verdammten Honorar!«

McGregors Kopf zuckte zuruck, als ware er geohrfeigt worden. »Wie konnen Sie es wagen, Sir! Ich …«

»Jetzt reicht’s!«, explodierte der Oberste Richter. Seine Stimme klang wie ein Peitschenknall.

Der Arzt sah aus, als wollte er gleich wieder lospoltern, doch ein Blick in James Reads Gesicht hielt ihn davon ab. Hawkwood merkte, dass er die Hande zu Fausten geballt hatte.

James Read erhob sich. »Ich danke Ihnen, Doktor. Wie immer waren Sie uns eine gro?e Hilfe. Mein Sekretar wird Sie hinausbegleiten.«

Wie auf ein Stichwort hin wurde die Tur geoffnet, und Ezra Twigg tauchte im Rahmen auf. »Hier entlang, Herr Doktor, bitte«, sagte er hoflich.

Der Oberste Richter wartete, bis die Tur wieder geschlossen war. Dann fixierte er Hawkwood mit einem strengen Blick und wies ihn zurecht: »Das war unnotig.«

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