unteren Ende der Water Lane, einer der vielen verschlungenen Gassen, die von der Sudseite der Fleet Street zum Fluss fuhrte. Versteckt in einem Labyrinth von Hofen und Durchgangen, weniger als einen Steinwurf vom Kings Bench Walk und dem Inner Tempel entfernt, war es unvermeidlich, dass zu den Stammgasten des Wirtshauses hauptsachlich Vertreter der Jurisprudenz gehorten. Die Nahe zur Temple Church und St. Dunstan’s lockte auch regelma?ig geistliche Wurdentrager an, wie auch Schriftsteller, Schauspieler und Politiker, die gern durch die niedrige Tur auf der Suche nach einem spaten Abendessen und einem entspannenden Drink traten.

Fur Hawkwood war das Blackbird allerdings mehr als nur ein Gasthaus. Hier war er zu Hause. Er bewohnte zwei Zimmer unter dem schragen Dach, die ihm Ruhe und Zuflucht boten, wenn er sich von dem hektischen Treiben auf den Stra?en, einem wesentlichen Bestandteil seines Lebens, zuruckzog.

Mehrere Nischen in der Schankstube waren besetzt. Der eine oder andere Stammgast blickte auf und nickte Hawkwood zu. An den Tischen wurde gegessen, getrunken, geredet, Schach und Whist gespielt, wahrend andere Gaste das Alleinsein vorzogen, Kaffee tranken, Pfeife rauchten und die Morgenzeitung lasen.

»Na, so was. Sind Sie’s tatsachlich, Officer Hawkwood? Und wahrscheinlich wollen Sie fruhstucken?«, sagte eine Frau mit melodischer Stimme hinter seinem Rucken.

Hawkwood drehte sich um und begru?te sie lachelnd: »Guten Morgen, Maddie.«

Maddie Teague, gro? und schlank, das Gesicht von kastanienbraunem Haar eingerahmt, war sich ihrer Schonheit bewusst, ohne dabei eitel zu sein. Vor allem ihre smaragdgrunen Augen hatten so manchen Mann in ihren Bann gezogen. Viele Gaste kamen allein wegen der bemerkenswert schonen Wirtin und nicht nur wegen der guten Kuche in das gemutlich eingerichtete Gasthaus. Maddie Teague fuhrte ihre Wirtschaft mit einer Mischung aus Strenge, Tuchtigkeit und Anmut. Nur sie hatte das Blackbird zu einem der angesehensten Gasthauser des Viertels gemacht.

Beim Anblick der dampfenden duftenden Speisen, die Maddie und ihre Madchen auftrugen, fiel Hawkwood ein, dass er schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen hatte. Ein spates Fruhstuck kame sehr gelegen. Er bestellte Eier mit Schinken und Kase.

»Und Kaffee dazu, Maddie, wenn’s nicht zu viel Muhe macht.«

Maddie wischte sich die Hande an ihrer Schurze ab. »Fur Sie doch gern, Officer Hawkwood. Nehmen Sie schon mal Platz.« Dann musterte sie Hawkwood von Kopf bis Fu? und sagte: »Sie sehen mir ganz so aus, als konnten Sie eine anstandige Mahlzeit vertragen. War’s eine anstrengende Nacht?«

Hawkwood lachelte gezwungen. »Wie hei?t es so schon, Maddie? Das Bose schlaft nie.«

»Ach, tatsachlich?«, meinte Maddie ironisch. »Und deswegen soll ich Ihr Hemd wohl zur Naherin bringen lassen, wie? Nachdem das Blut herausgewaschen wurde, versteht sich«, setzte sie hinzu, machte auf dem Absatz kehrt und trat in die Kuche.

Wohlgesattigt trank Hawkwood eine Stunde spater seine zweite Tasse Kaffee und nahm den Chronicle vom Nebentisch. Berichte uber den Krieg waren auf die zweite Seite verbannt worden, wahrend das Titelblatt von zwei Schlagzeilen beherrscht wurde. Ein Artikel war der Revolte franzosischer Gefangener auf einem Schiff gewidmet, das in Woolwich vor Anker lag. In dem anderen Artikel ging es um den bevorstehenden Boxkampf im Five Courts, ein um Klassen besserer Kampf als die Prugelei im Hof des Blind Fiddler. Einer der Kampfer stammte aus der Schule von Bill Richmond, einem Exsklaven und spateren Faustkampfer. Im Dezember hatte er gegen Tom Cribb verloren, doch es hie?, Richmond trainiere einen neuen Boxer, der uber das Potenzial verfuge, Cribb schlagen zu konnen. Der Kampf im Five Courts solle ein Test fur die Qualitaten seines Schutzlings sein. Hawkwood uberflog den Artikel nur, denn er konnte sich nicht richtig konzentrieren. Ungeachtet des Stimmengewirrs um ihn herum kreisten seine Gedanken immer wieder um die ziemlich au?ergewohnlichen Ereignisse am fruhen Morgen.

Er hatte nicht nur das Duell uberlebt, sondern die letzten drei Stunden mit einer der schonsten und verfuhrerischsten Frauen verbracht, die er je kennen gelernt hatte. Ware da nicht der bohrende Schmerz in seiner Wunde unterhalb der Rippen und das Brennen ihrer Kratzspuren auf seinen Schultern gewesen, hatte er fast geglaubt, sich die ganze Episode nur eingebildet zu haben.

Wieder kehrten seine Gedanken zu den Stunden zuruck, nachdem sie ihr Verlangen gestillt hatten. Catherine de Varesne hatte mit gekreuzten Beinen, einen seidenen Morgenrock uber den Schultern, auf dem Bett gesessen und ihm ihre Lebensgeschichte erzahlt. »Ich war sechs, als mein Vater unter der Guillotine starb.«

Der Marquis de Varesne hatte geahnt, welches Schicksal ihn erwartete, und seiner Frau und seiner Tochter die Flucht aus Frankreich ermoglicht. Der Marquis war zunachst in der Absicht zuruckgeblieben, keinen Verdacht zu wecken, und wollte spater das Land verlassen. Das Komitee fur Offentliche Sicherheit hatte seinen Plan jedoch vereitelt und den Marquis verhaften und hinrichten lassen.

»Wir wurden uber die Pyrenaen nach Spanien und dann nach Portugal zur Familie meiner Mutter gebracht«, hatte Catherine, die Fauste geballt und mit Tranen in den Augen, erzahlt. »Meine Mutter hat den Tod meines Vaters nie uberwunden und ist ein Jahr spater gestorben. Mir wurde gesagt, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben. Was ich mir gut vorstellen kann, denn sie liebte meinen Vater uber alles. Er war ein gutiger, sanfter Mann, der sein Land liebte. Ich bin zusammen mit meinen Cousins bei meiner Tante aufgewachsen. Eine englische Gouvernante hat sich um uns gekummert, so habe ich Englisch gelernt. Ich hatte eine gluckliche Kindheit«, hatte Catherine hinzugefugt, ehe die Erinnerung wie ein Schatten der Trauer uber ihr Gesicht glitt. »Doch nicht einmal dort waren wir in Sicherheit.«

Weil Bonaparte auch die Pyrenaenhalbinsel besetzte, war die Familie wieder auseinander gerissen worden. Hawkwood erinnerte sich, dass beim ersten Donner franzosischer Kanonen das portugiesische Konigspaar mit seiner aristokratischen Entourage nach Brasilien geflohen war. Dies hatte eine Reihe von Ereignissen ausgelost, die schlie?lich zu Englands Beteiligung am Krieg in Spanien fuhrten.

Trotzdem sei Catherine in England geblieben und lebe nun in standiger Lebensgefahr. Warum?

Mit einem wehmutigen Seufzer hatte sie ihm erklart: »Hier in England bin ich in der Nahe Frankreichs und bei Freunden, die meine Gefuhle teilen und nicht ruhen werden, bis Napoleon besiegt ist und wir wieder in unser Heimatland zuruckkehren konnen.«

Ihr Blick war zu dem Stilett auf dem Nachttisch gewandert. Ihr Vater habe es ihr vor der Flucht aus Frankreich gegeben und sie ermahnt, es standig bei sich zu tragen. Tagsuber verborgen unter ihrem Kleid und nachts unter ihrem Kopfkissen. Denn die Gegner Napoleons seien nirgends in Sicherheit, und der Armelkanal biete keinen Schutz vor den Geheimagenten des Kaisers, deren einzige Aufgabe es sei, die Dynastie der Bourbonen und deren Anhanger zu ermorden.

»Meinen Vater haben sie getotet«, hatte Catherine Hawkwood erzahlt. »Mich toten sie nicht!«

Das Schlagen der Wanduhr riss Hawkwood aus seinen Traumen und erinnerte ihn daran, dass seit seinem Treffen mit Jago inzwischen anderthalb Tage vergangen waren. Er hatte gehofft, von dem Exsergeanten irgendeinen Hinweis zu bekommen, der zur Identifizierung der Stra?enrauber fuhren konnte. Doch bisher hatte sich Nathaniel nicht gemeldet. Aus Erfahrung wusste Hawkwood, dass Richter Read kein sehr geduldiger Mann war und bald einen Bericht von ihm uber den Stand der Ermittlungen erwartete. Und es war nicht ratsam, den Obersten Richter zu enttauschen.

Fairerweise muss ich jedoch einraumen, dachte Hawkwood, dass es wegen der teilweise nicht unangenehmen Umstande ziemlich schwierig fur Jago gewesen sein muss, mich ausfindig zu machen. Jetzt muss ich Kontakt mit ihm aufnehmen. Zwar habe ich keine Lust, mich dort im Elendsviertel erneut Gefahren auszusetzen, aber mir bleibt nichts anderes ubrig. Deshalb muss ich vorher noch einmal ein Wortchen mit Billy Mipps, dem Blinden, reden.

Er schob seine leere Kaffeetasse beiseite und fragte sich, wann er Catherine de Varesne wiedersehen wurde. Dann muss ich gut in Form sein, dachte er und musste lacheln, als er an ihre verlockenden Augen, ihre samtene Haut und ihren verfuhrerischen Korper dachte.

Ein Blick auf die Wanduhr zeigte ihm, wie schnell die Stunden verstrichen waren. Der halbe Tag war schon vorbei. Es wird hochste Zeit, dass ich mit dem Blinden Billy Kontakt aufnehme, dachte er, legte ein paar Munzen fur sein spates Fruhstuck auf den Tisch und verlie? das Gasthaus.

Als er eine Beruhrung an seinem Armel spurte, war sein erster Gedanke: Pech fur den Jungen, dass er sich einen Bow Street Runner als Opfer ausgesucht hat. Blitzschnell packte er das schmale Handgelenk.

»Hab ich dich, du Bengel!«

Doch statt eines Protestgeschreis und Unschuldsbeteuerungen horte er nur ein atemloses: »Lassen Sie mich los, Hawkey! Ich bin’s, Davey!«

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