»Etwa eine halbe Stunde spater.«
»War noch jemand in der Werkstatt?«
»Nur Mr. Knibbs. Ach ja, und der junge Quigley.«
»Wer sind die beiden?«
»Mr. Knibbs ist Master Woodburns Geselle und vertritt ihn wahrend seiner Abwesenheit. Manchmal wird in der Werkstatt langer gearbeitet, dann schlie?t Mr. Knibbs ab.«
»Und dieser Quigley? Was macht er?«
»Alles Mogliche, wie Nachrichten uberbringen, aufraumen, kehren und andere Handlangerdienste. Nachts bewacht er auch die Werkstatt und schlaft auf einer Matratze in einem der Lagerraume.«
»Ist er ein Lehrling?«
Hobb schien diese Frage zu uberraschen. »Du meine Gute, nein, Sir. Er ist Mr. Knibbs’ Neffe«, und fugte dann mit einem bedauernden Lacheln hinzu: »Wissen Sie … na ja, der Junge ist ein bisschen langsam. Es ist nur der Gute des Masters zu verdanken, dass er sich nicht auf der Stra?e rumtreiben muss. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, Mr. Hawkwood«, erlauterte Hobb hastig. »Er hat nie etwas angestellt, er ist ein braver Junge. Aber zum Lehrling taugt er leider nicht.«
Hawkwood dachte kurz uber diese Information nach, ehe er weiterfragte: »Ich nehme an, Sie haben sich bei Mr. Knibbs erkundigt, wo Master Woodburn stecken konnte?«
»Ja, naturlich. Er hat mir gesagt, der Master habe zur gewohnten Stunde die Werkstatt verlassen. Kurz nach halb sechs, wie immer.«
»Ist er allein weggegangen?«
»Mr. Knibbs hat mir versichert, er sei nicht in Begleitung gewesen.«
»Und wie kommt er gewohnlich nach Hause? Mit der Kutsche?«
»Nein. Wenn es das Wetter zulasst, geht er zu Fu?. Der Master war … ist … sehr rustig fur sein Alter«, sagte der Diener und errotete wegen seines verbalen Ausrutschers.
Hawkwood ging nicht darauf ein, sondern fragte weiter: »Als Master Woodburn an jenem Morgen das Haus verlie?, hat er da Ihnen gegenuber angedeutet, dass er sich mit jemandem treffen wolle?«
Der Diener versteifte sich. »Es gehort nicht zu den Gewohnheiten des Masters, mit den Mitgliedern des Haushalts uber seine Verabredungen zu sprechen, Sir.«
Die gereizte Reaktion des Dieners erinnerte Hawkwood daran, dass trotz der Sorge um ihren Arbeitgeber und die offensichtliche Zuneigung fur dessen Enkelin die Hobbs letztendlich nicht zur Familie gehorten, sondern nur Diener waren. Und Dienstboten kannten mehr als andere ihren Platz.
»Trotzdem konnten Sie zufallig etwas gehort haben.«
Mr. Hobbs Gesichtsausdruck machte Hawkwood klar, dass ihm nochmals ein unverzeihlicher Fehler unterlaufen war. Genauso gut hatte er einen Priester bitten konnen, das Beichtgeheimnis zu verletzen. Aber Hawkwood wusste, dass Dienstboten kaum etwas verborgen blieb, was im Umfeld ihrer Herrschaft vor sich ging, und sie Gesprachsfetzen und Geruchte aufschnappten, die wertvolle Hinweise enthalten konnten. Von den Hobbs hingegen waren offensichtlich keine Enthullungen zu erwarten. Sie zeigten sich nur zutiefst besorgt uber das Verschwinden ihres Dienstherrn.
Von der Werkstatt aus war Luther Hobb direkt nach Hause gegangen und hatte gehofft, seinen Herrn dort anzutreffen. Da dies nicht der Fall gewesen war, hatte er sich sofort auf den Weg zur Bow Street gemacht und Woodburn bei Officer Warlock als vermisst gemeldet. Der Runner hatte den Diener in das Wohnhaus am Strand begleitet. Mittlerweile war es acht Uhr abends geworden, und der gesamte Haushalt war wegen der verstandlichen Besorgnis um den Verbleib des Hausherrn ziemlich in Aufruhr gewesen.
»Als Officer Warlock wieder gegangen ist, hat er Ihnen da mitgeteilt, welche Schritte er zu unternehmen gedachte?«
»Er hat uns nur gesagt, dass er selbst in der Werkstatt nachfragen werde.«
»Aber da war es doch schon spat und die Werkstatt geschlossen.«
»Ich dachte, er wurde am nachsten Morgen hingehen.«
»Und da haben Sie Officer Warlock das letzte Mal gesehen?«
Der Diener nickte nur.
»Kam es Ihnen nicht merkwurdig vor, dass Sie seitdem von Officer Warlock nichts mehr gehort haben?«
»Um ehrlich zu sein, Mr. Hawkwood, wir haben uns schon gewundert«, murmelte Luther Hobb sichtlich verlegen.
»Und Sie haben nichts unternommen?«
»Wir dachten, das stehe uns nicht zu.«
Hawkwood fluchte zwar stumm, konnte aber die Zuruckhaltung der Hobbs verstehen. Es gehorte sich fur Dienstboten einfach nicht, die Arbeit der Polizei in Frage zu stellen. Ihre Aufgabe bestand darin, ihren Pflichten nachzukommen, ohne das Verhalten ihrer Herrschaft infrage zu stellen.
Hawkwood nagte an seiner Unterlippe. Mit jeder Minute wurde die Spur kalter. Die Zeiger der Uhr auf dem Kaminsims deuteten auf halb funf. Und er musste sich mit Lomax in den
Aber in die Red Lion Street in Clerkenwell war es nicht weit. Vielleicht konnte er auf seinem Weg dorthin zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Hawkwood grubelte, wie alt Isadore Knibbs wohl war. Seine Gesichtshaut ahnelte Pergament, aber er hatte die funkelnden wachen Augen einer Krahe. Er war sehr klein, und seine Hande waren schmal und zierlich wie die eines Kindes. Nur die unter der Haut sichtbaren Adern verrieten sein Alter. Fur einen Mann in fortgeschrittenen Jahren waren seine Finger erstaunlich geschmeidig. Au?er schwindender Sehkraft muss Arthritis fur einen Uhrmacher die schlimmste Krankheit sein, uberlegte Hawkwood.
Josiah Woodburn beschaftigte funf Gesellen, von denen Isadore Knibbs der alteste war. Hinzu kamen zwei Lehrlinge, mehr waren laut Reglement der Uhrmacher-Zunft nicht erlaubt. Es gebe Wege, diese Regel zu umgehen, vertraute Mr. Knibbs Hawkwood an, wahrend er ihn durch die funf Raume der Werkstatt mit Blick auf einen Hof an der Ecke Red Lion Street und George Court fuhrte. Aber dies sei fur einen Josiah Woodburn, Uhrmachermeister von untadeligem Ruf, undenkbar.
»Vierzig Jahre arbeite ich jetzt schon fur Master Woodburn«, erzahlte der Geselle stolz, »und fur mich gibt es keinen besseren Menschen. Er lasst mich sogar meine eigenen Werke signieren. Das erlauben nicht viele Uhrmacher.«
Eine seltene Ehre, tatsachlich. Uhrmachergesellen durften gewohnlich weder selbststandig arbeiten noch ihre Stucke signieren, auch wenn der Meister bei der Fertigstellung des Instruments nie Hand angelegt hatte. In dieser Hinsicht war Josiah Woodburn wirklich ein au?ergewohnlich gro?zugiger Arbeitgeber, fur dessen Abwesenheit auch Mr. Knibbs keine logische Erklarung hatte. Der Geselle tappte wie die Hobbs im Dunkeln und war ebenso besorgt. Er bestatigte, dass Master Woodburn die Werkstatt zur gewohnten Zeit verlassen habe und seitdem von niemandem mehr gesehen worden sei. Ohne zu zogern willigte er ein, als Hawkwood ihn bat, die Werkstatt besichtigen und die Angestellten befragen zu durfen.
Das Haus sei in funf Werkraume unterteilt, in denen die verschiedenen Arbeiten ausgefuhrt werden, erklarte Mr. Knibbs, als er Hawkwood durch die Tischlerei fuhrte. Er wies auf eine Reihe leerer Gehause, die wie aufgestellte Sarge an der Wand lehnten. Nur das beste Holz werde verwendet: Kiefer und honduranisches Mahagoni fur das Gehause, Eiche fur Vorderseite und Sockel, englisches Walnussholz fur das Furnier. An einem Sagebock stand ein Schreiner knocheltief in Sagemehl und Hobelspanen. In der Luft hing der Geruch von Leim und frisch gehobeltem Holz.
Durch einen Bogen gelangten die beiden in den angrenzenden Werkraum. Auf mehreren Arbeitsbanken verstreut lagen die Innereien von Uhren, als ware ein mechanisches Objekt ausgeweidet worden. An den Wanden hing ein kunterbunter Wirrwarr von grafischen Darstellungen und detailgetreuen Zeichnungen von Zahnradern, Scheiben, Ringen und Perpendikeln.
Nicht alle Uhrenteile wurden in der eigenen Werkstatt hergestellt, vertraute Mr. Knibbs Hawkwood an. Fertigteile, wie Federn, Spandrillen, Scheiben und Uhrendeckel, wurden gekauft. Obwohl Uhrmacher auch Messing gie?en und bearbeiten konnten, sei es bequemer, diese Artikel von einem Messinggie?er zu kaufen. Naturlich konne man auch vorgefertigte Gehwerke einsetzen, erklarte Mr. Knibbs verachtlich, doch Master Woodburn gehore