zum Gluck der alten Schule an. Er lege Wert darauf, dass alle Uhrenteile in seiner Werkstatt zusammengesetzt wurden, um die Qualitatskontrolle des fertigen Werks zu garantieren.
Bis auf die Tischlerei herrschte in allen Raumen Ruhe. Voll konzentriert sa?en die Gesellen mit gesenkten Kopfen an ihren Werkstucken. Zwei Manner blickten kurz auf, als Hawkwood den Raum durchquerte. Die beiden Lehrlinge waren etwa dreizehn und vierzehn Jahre alt und erst seit ein paar Monaten in der Ausbildung.
In der hintersten Ecke eines Raums kehrte ein pickeliger Junge Metallspane auf ein Holzblech. Er war spindeldurr und sein teerfarbener Haarschopf sah aus, als hatte jemand mit einer stumpfen Gartenschere daran herumgeschnipselt. Hawkwood fiel auf, dass der Junge beim Gehen das linke Bein nachzog. Als hatte der junge Mann gespurt, dass er beobachtet wurde, hob er den Kopf, sah Hawkwood kurz mit leerem Ausdruck an und kehrte dann weiter. Die untere Gesichtshalfte war deformiert, als ware der Kiefer ausgerenkt und wieder schief eingesetzt worden. Das ist wohl Mr. Knibbs’ Neffe, dachte Hawkwood.
Beim Anblick der in die Arbeit vertieften Manner kam Hawkwood ein Gedanke und er fragte Isadore Knibbs, ob in letzter Zeit jemand entlassen worden sei. Es bestand immerhin die Moglichkeit, dass ein rachsuchtiger ehemaliger Angestellter etwas mit Woodburns Verschwinden zu tun haben konnte. Doch Isadore Knibbs verwarf diesen Gedanken sofort. Jeder Mitarbeiter – mit Ausnahme der Lehrlinge – arbeite seit mindestens zehn Jahren fur Master Woodburn. Ihre Loyalitat stehe au?er Frage.
Und keiner der Manner konnte sich Master Woodburns Verschwinden erklaren.
Dann fragte Hawkwood Mr. Knibbs, ob ihm eine Veranderung im Verhalten des Uhrmachermeisters aufgefallen sei.
»Wollen Sie damit andeuten, der Master habe … habe sich etwas angetan?«, fragte der Geselle entsetzt.
»Nein, Mr. Knibbs. Ich muss nur alle Eventualitaten in Betracht ziehen.«
Als der Geselle ihn verstandnislos ansah, seufzte Hawkwood. »Mr. Knibbs, ich wei? aus Erfahrung, dass es fur das Verschwinden von Menschen eine Vielzahl von Grunden gibt. Es kommt vor, dass jemand sein bisheriges Leben einfach hinter sich lassen will, einen Unfall hat oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer fallt. Was ich bisher uber Mr.Woodburn von Ihnen und seinen Dienstboten erfahren habe, schlie?t wohl die erste Moglichkeit aus. Nichts deutet darauf hin, dass Ihr Master freiwillig verschwunden ist. Deshalb schlie?e ich einen Selbstmord aus. Ich will Sie nicht schockieren, Mr. Knibbs, aber es passiert ziemlich haufig, dass selbst vornehme Gentlemen wegen zehn Pfund Schulden oder einer billigen Hure den Freitod wahlen.«
Isadore Knibbs sah aus, als hatte er gerade saure Milch getrunken.
»Damit waren wir bei einer ziemlich unangenehmen Vorstellung, Mr. Knibbs.«
»Aber irgendjemand muss doch was gesehen haben!«, platzte der Geselle heraus. »Der Master hat sich doch nicht einfach in Luft aufgelost!«
Hawkwood wollte Isadore Knibbs gerade daruber unterrichten, dass standig Menschen verschwanden und irgendwann mit einem Messer im Rucken in einer dunklen Gasse oder mit aufgeblahtem Leib im Uferschlamm wieder auftauchten, als er von einer nervos stotternden Stimme in seinem Rucken daran gehindert wurde. »Ich … ha … habe den Master ge … gesehen.«
Hawkwood und Isadore Knibbs drehten sich gleichzeitig um. Sichtlich ungehalten sagte der Geselle: »Jacob, was Officer Hawkwood und ich zu besprechen haben, geht dich nichts an.« Entschuldigend fugte der alte Mann hinzu: »Er ist der Sohn meiner Schwester. Er hat es nicht bose gemeint.« Dann klatschte Mr. Knibbs in die Hande. »Na los Junge. Fort mit dir! Es gibt Arbeit fur dich.«
Aus der Nahe betrachtet, ahnelte Quigley mit seinem eckigen Korper, dem widerspenstigen Haarschopf und seinem deformierten Fu? einer Gespenstheuschrecke. Sein Kinn war schief, weil die unteren Schneidezahne wie krumme gelbe Hauer aus seinem Kiefer ragten. Es war schwierig, Quigleys Alter zu schatzen, irgendwo zwischen funfzehn und zwanzig. Was darauf schlie?en lie?, dass Isadore Knibbs mindestens zwanzig Jahre alter als seine Schwester war.
»Na los, Jacob!«, wiederholte Knibbs und drohte mit dem Zeigefinger. »Ich sag’s nicht noch einmal. Mach dich wieder an die Arbeit. Sei ein braver Junge.«
»Aber ich ha … habe ihn gesehen, Onkel Izzi. Ich ha … habe Master Woodburn gesehen«, stammelte der Junge und umklammerte den Besenstiel fester. Er hatte vollig abgekaute Fingernagel.
Isadore Knibbs tatschelte den Arm seines Neffen. »Stimmt, Jacob. Du hast den Master gesehen. Aber belastige jetzt Mr. Hawkwood nicht weiter. Er hat Wichtigeres zu tun. Bitte, entschuldigen Sie, Mr. Hawkwood. Achten Sie einfach nicht auf ihn. Er ist ein guter Junge, nur manchmal etwas verwirrt. Meine Schwester hat ihn erst spat bekommen«, fugte er hinzu, als ware das eine ausreichende Erklarung fur Quigleys Behinderung.
»Ich ha … hab’s dem anderen Gentleman gesagt und dafur einen P … Penny bekommen.« Die leeren Augen des Jungen leuchteten kurz vor Aufregung.
Jetzt war Isadore Knibbs sichtlich verwirrt und betrachtete seinen Neffen erstaunt. »Mit welchem anderen Gentleman hast du gesprochen, Jacob?«
In Hawkwood stieg ein Hoffnungsschimmer auf.
»Er hat mich gefragt, ob ich Master Woodburn gesehen habe. Und ich habe gesagt, ja, ich hab ihn gesehen. Da hat er mir einen Penny geschenkt.«
Hawkwood und Isadore Knibbs schauten zu, wie Jacob Quigley mit heraushangender Zunge in seine Hosentasche griff und dann mit einem triumphierenden Grinsen eine Munze hochhielt. »S … siehst du! Ich hab den Penny noch nicht ausgegeben. Den heb ich mir auf«, flusterte er verschworerisch.
»Hor mal Jacob«, sagte Hawkwood und griff in seine Rocktasche. »Ich gebe dir noch einen Penny, wenn du mir verratst, wer dieser Gentleman war.«
Der Junge starrte die Munze mit gierigem Blick an.
»Wer war der Mann, Jacob?«, drangte Hawkwood sanft. »Wer hat dir den Penny gegeben?«
Plotzlich anderte sich die Miene des Jungen, er starrte mit leerem Blick zu Boden und weigerte sich, Hawkwood anzusehen.
»Was ist denn, Jacob?«, wollte Isadore Knibbs wissen. »Was hast du?«
Quigley schuttelte heftig den Kopf, als wollte er seine wirren Gedanken ordnen. »Ich soll doch niemanden reinlassen«, platzte er dann heraus.
Hawkwood begriff, dass damit die Werkstatt gemeint war.
»Jacob, wann war das?«, fragte er.
Jacob wich angstlich zuruck.
»Ist schon gut, mein Junge«, beruhigte ihn Isadore Knibbs.
»Niemand wird dich bestrafen.«
»Es war schon dunkel«, stammelte Jacob Quigley. Seine Unterlippe zitterte.
»Wann, Jacob? Wann war das?«, hakte Hawkwood mit muhsam unterdruckter Ungeduld nach. Er wollte den Jungen nicht noch mehr einschuchtern.
»Das war, als M … Mr. Hobb zu Onkel Izzi gekommen ist.«
Hawkwoods Puls schlug schneller. Er sah Isadore Knibbs an und fragte: »Wann sind Sie an jenem Abend gegangen?«
»Um Viertel vor neun. Daran kann ich mich genau erinnern, weil ich meine Taschenuhr mit der Uhr eines Kunden verglichen habe. Eine gewolbte Laternen-Uhr war es, die am nachsten Morgen abgeholt werden sollte. Ich wollte uberprufen, ob sie genau geht.«
»Dieser Gentleman, Jacob«, wandte sich Hawkwood wieder dem Jungen zu. »Wie hat er ausgesehen?«
Als Jacob ihn nur verwirrt ansah, versuchte Hawkwood es noch einmal. »War es ein gro?er Mann? Oder ein kleiner? War er dunn oder dick?«
Jacob nagte an seiner Unterlippe. »Er wollte, dass i … ich ihn reinlasse. Ich hab ihm gesagt, dass ich niemandem aufmachen darf. M … Master Woodburns und Onkel Izzis Anweisung. Ich hab ihm gesagt, er soll weggehen. Ja, das hab ich. Aber er hat gesagt, ich musse ihn reinlassen, weil er Polizist ist.«
Es fiel Hawkwood schwer, seine Aufregung zu verbergen.
»Er hat mir s … seinen Stock ge … gezeigt«, stammelte der Junge und sah seinen Onkel unglucklich an.
»Seinen Stock?«, fragte Isadore Knibbs sichtlich verwirrt.
Hawkwood griff unter seinen Rock und zog seinen schwarzen Schlagstock heraus. »War es ein Stock wie dieser, Jacob?«