entgangen, wie verstort der Major reagierte, als er den Verlust seiner Taschenuhr bemerkt hatte. Es ware eine Schande gewesen, hatte er Constable Rafferty nicht daran gehindert, dieses Beutestuck verschwinden zu lassen. Hawkwood fragte sich nicht zum ersten Mal, wie viele gestohlene Gegenstande wohl den rechtma?igen Besitzern zuruckgegeben wurden. Herzlich wenige, vermutete er. Leider kam es bei Mannern wie Rafferty, diesen angeblichen Hutern des Gesetzes, zu haufig vor, dass sie in die eigenen Taschen arbeiteten.

Dann kehrten Hawkwoods Gedanken zu dem Major zuruck. Instinktiv hatte er sofort beschlossen, dem Offizier seine Uhr zuruckzugeben. Ob er dies aus Pflichtgefuhl getan hatte oder weil er glaubte, einem ehemaligen Waffenbruder diesen Dienst schuldig zu sein, wollte er nicht ergrunden. Immerhin war ihre Kameradschaft von au?erst fluchtiger Dauer gewesen. Aber er hatte ohne zu zogern gehandelt.

Warum habe ich also die Bekanntschaft geleugnet?, fragte sich Hawkwood. Diese Frage ist leicht zu beantworten. Es hat keinen Sinn, alte Wunden wieder aufzurei?en, dachte er und schuttelte den Kopf. Diese zufallige Begegnung hat plotzlich das Rad der Zeit zuruckgedreht. Und bose Erinnerungen hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack. Nein, was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe jemandem einen Dienst erwiesen, wie es die Pflicht eines Beamten erfordert. Alles spielt keine Rolle. Damit ist die Sache fur mich erledigt.

Hawkwood wollte gerade weitergehen, als ihn ein diskretes Rauspern aus seinen Tagtraumen riss. Neben ihm stand ein kleiner, o-beiniger Mann mit spitzer Nase. Er trug einen schwarzen Rock mit Kniehosen und unter seinem ebenfalls schwarzen Dreispitz eine altmodische gepuderte Perucke. Die blinzelnden Augen hinter der halbmondformigen Brille verliehen ihm das Aussehen einer Eule.

»So, so, Mr. Twigg«, gru?te ihn Hawkwood mit einem frostigen Lacheln. »Und wem verdanken wir diese unerwartete Freude?« Als ob ich das nicht wusste!, dachte er resigniert.

Der kleine Mann uberhorte den bei?enden Spott und stie? einen kummervollen Seufzer aus, ehe er ihm seine Nachricht uberbrachte: »Richter Read lasst gru?en und bittet Sie, sofort zu ihm zu kommen.«

»Er ›bittet‹, Mr.Twigg?«, entgegnete Hawkwood mit hochgezogenen Brauen. »Das bezweifle ich. Und wo erwartet er mich sofort?«

»In seinem Amtszimmer in der Bow Street.«

Wahrend Ezra Twigg sprach, lie? er seinen Blick uber den Hof schweifen. Mittlerweile hatte sich die Menschenmenge zerstreut, und auch der Gottesprediger hatte seine provisorische Kanzel abgebaut und steuerte zielstrebig auf die Taverne zu. Nur ein paar Handler boten noch ihre Waren feil. Neben dem Ring sa? Reuben Benbow inmitten seiner Getreuen. Er lie? sich seine gebrochenen Rippen bandagieren und feierte seinen hart erkampften Sieg.

Mit einem berechnenden Funkeln in den Augen nahm der Sekretar des Obersten Richters jetzt seine Brille ab, hauchte die Glaser an und rieb sie an seinem Rockarmel blank.

»Sie hatten Recht, Ezra«, sagte Hawkwood und grinste. »Der Mann aus Cornwall war der bessere Kampfer.«

Ezra Twigg setzte seine Brille wieder auf, blinzelte kurzsichtig zu Hawkwood hoch, zuckte mit den Mundwinkeln und blickte vielsagend zu der offenen Tavernentur.

Hawkwood klopfte dem kleinen Mann auf die Schulter. »Ist schon gut, Ezra. Wir sehen uns dann in der Bow Street.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sich Hawkwood um und ging davon. Hatte er einen Blick uber die Schulter geworfen, hatte er Ezra Twigg gebeugte Gestalt federnden Schritts zur Taverne eilen sehen.

Wahrend sich Hawkwood auf den Weg durch das Gewirr der Hofe und Gassen machte, wurden die Schatten langer.

Die paar Gaslaternen hier im West End schreckten keine Stra?enrauber ab, in den dunklen Durchgangen ungestraft ihr verbrecherisches Wesen zu treiben. Sogar bei helllichtem Tag wurde man hier von Huren angesprochen oder von Dieben bestohlen. Bei Nacht drohten unvorsichtigen Fu?gangern in diesen finsteren Vierteln von London zusatzliche Gefahren. Sogar Polizisten und Wachmanner hatten Angst, durch diese Gassen zu patrouillieren.

Hawkwood jedoch schritt, sich seiner Autoritat bewusst, unbehelligt voran. Seine bedrohlich wirkende Haltung und die Narbe in seinem Gesicht lie? andere Manner hastig beiseite treten.

Hawkwood kannte diese zwielichtige Gegend, aber er hatte sich an die lauernden Gefahren gewohnt. London war eine Brutstatte fur jedes nur erdenkliche Verbrechen, und als Bow Street Runner kannte er die dunkle Seite der Stadt besser, als ihm lieb war. Die schattigen, mit Abfall ubersaten Gassen bargen fur ihn keine Uberraschungen. Trotzdem lie? er in seiner Wachsamkeit nie nach und war standig auf der Hut.

3

Also, Sir«, sagte Leutnant Fitzhugh, »wer war dieser Samariter?«

Die beiden Offiziere sa?en bei Kerzenlicht in einer Nische des Blind Fiddler und tranken spanischen Brandy. Der Faustkampf hatte zusatzliche Gaste angelockt, und deshalb herrschte in der Schankstube reges Treiben.

Major Lawrence schurzte die Lippen. »Der Hausierer hatte vollig Recht, Fitz. Unser Freund Hawkwood ist gewiss kein Mann, der mit sich spa?en lasst.« Dann blickte er, in Erinnerungen versunken, in sein Glas. »Es war vor vier Jahren … in Sudamerika. Damals gehorten wir der Expedition Sam Auchmutys an und sollten Beresfords Truppen im Kampf gegen die Spanier verstarken.« Mit grimmigem Lacheln fugte er hinzu: »Und heute sind sie unsere Verbundeten. Wer hatte das gedacht!«

Englands Versuch, die sudamerikanischen Kolonien von der Herrschaft Spaniens zu befreien, war wegen schlechter Planung und Koordination jammerlich gescheitert. Die ersten Truppen unter Fuhrung des Brigadegenerals William Carr Beresford hatten zwar Buenos Aires erobert, doch danach hatte das Unheil seinen Lauf genommen.

Fitzhugh konnte sehen, wie schmerzlich diese Erinnerung noch heute fur den Major war, als dieser weitersprach: »Wie sich herausstellte, haben wir den Feldzug Beresfords nicht unterstutzt, sondern den verdammten Narren nur gerettet! Denn als wir eintrafen, hatten sich die Spanier neu gruppiert, die Stadt zuruckerobert und Beresford gefangen genommen!«

Major Lawrence beugte sich jetzt vor, ganz in seiner Erinnerung gefangen. »Der gute alte Sam hat naturlich gewusst, dass unsere einzige Chance, Beresford zu retten, darin bestand, Montevideo einzunehmen, um die Stadt spater als Druckmittel zu benutzen. Was uns auch gelungen ist, aber um welchen Preis! Diese Bastarde haben uns bereits am Strand erwartet und erbittert Widerstand geleistet. Wir haben sie naturlich zuruckgedrangt, standen dann jedoch vor einer zur Festung ausgebauten Stadt, die wir nur belagern konnten. Wir haben sie von unseren Fregatten aus mit Vierundzwanzigpfundern beschossen, aber es hat vier Tage gedauert, bis wir eine Bresche schlagen und durchbrechen konnten.«

Mittlerweile hielt der Major seine Taschenuhr in der Hand, klappte den Deckel auf und strich in Gedanken versunken uber die Gravur. Dann blickte er auf, fasste sich wieder und steckte die Uhr unter die Scharpe zuruck, ehe er fortfuhr:

»Viele gute Manner haben bei der Einnahme der Festung ihr Leben verloren, aber wir haben auch eine Menge Leute gefangen genommen, einschlie?lich des Kommandanten, Gouverneur Don Pasquil. Nur der General, der fur die Verteidigung der Zitadelle zustandig war, lehnte Auchmutys Angebot auf freien Abzug ab und ergab sich nicht. Also lie? Sam die Scharfschutzen antreten.«

»Die Scharfschutzen?«, wiederholte Leutnant Fitzhugh mit gro?en Augen.

»Zu unserer Einheit gehorte ein Trupp des 95. Rifles Regiments. Zwei Schutzen erhielten den Befehl, den General von einem Turm aus ins Visier zu nehmen und zu erschie?en. Ich wurde diesem Sonderkommando zugeteilt und habe die beiden Scharfschutzen begleitet. Einer von ihnen, der Leutnant, war unser Freund, dessen Namen ich jedoch nicht kannte. Ich fand es allerdings seltsam, dass ein Offizier mit dieser Aufgabe betraut wurde.«

»Wie konnen Sie sicher sein, dass es sich um denselben Mann handelt?«, fragte Fitzhugh stirnrunzelnd.

»Weil ich damals etwas erlebt habe, was ich nie vergessen werde. Wir – die beiden Schutzen, zwei

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