einmal.

»Herein!«, rief jemand in barschem Ton.

In dem quadratischen, mit Eiche getafelten Raum hingen mehrere Portrats: murrische, wachsfarbene Gesichter von Amtsvorgangern in dunklen Anzugen. Vor den Vorhangen der hohen Fenster stand ein Schreibtisch und links von Hawkwood befand sich der hohe Kamin, der von zwei hochlehnigen Polstersesseln eingerahmt wurde und in dem Holzscheite loderten. Das hypnotische Ticken einer Standuhr in der Ecke betonte die feierliche Atmosphare des Amtszimmers.

Der silberhaarige Mann am Schreibtisch nahm von Hawkwoods Eintreten keine Notiz, sondern schrieb weiter. Allein das Kratzen seiner Feder uber das Papier unterbrach die Stille.

Hawkwood wartete.

Schlie?lich blickte der Mann auf, stellte die Feder in das Tintenfass, ordnete seine Papiere und betrachtete Hawkwood kurz, ehe er fragte: »Die Operation gegen dieses Gant-Weib ist gut verlaufen, nehme ich an?«

»Besser, als ich erwartet hatte«, sagte Hawkwood und erntete dafur nur ein Stirnrunzeln. »Ich hatte befurchtet, wir wurden nicht nahe genug an sie herankommen, um ihrer habhaft zu werden. Vielleicht wird die Witwe auf ihre alten Tage nachlassig, denn sie hatte keine Aufpasser postiert.«

Der silberhaarige Mann dachte kurz uber diese Information nach, ehe er weiterfragte: »Ist sie in Gewahrsam?«

»Ja. Zusammen mit ihrem schwachsinnigen Sohn. Die beiden sitzen in den Zellen gegenuber.«

Seltsamerweise standen dem Bow-Street-Amt keine Haftlingszellen zur Verfugung. Deshalb gab es seit langem eine Vereinbarung mit dem Wirt des Pubs Brown Bear auf der anderen Stra?enseite, der gegen eine geringe Gebuhr als Zellen benutzbare Zimmer an die Behorde vermietete.

»Ausgezeichnet«, lobte der Silberhaarige und nickte zufrieden. »Morgen werden wir uns um die beiden kummern. Gab’s bei der Festnahme Probleme?«

Hawkwood dachte an den Riss im Armel seines Mantels, antwortete jedoch: »Keine, mit denen ich nicht fertig geworden bin.«

»Und was ist mit den Kindern?«

»Ich habe dem Constable Anweisung gegeben, sie nach Bridewell zu bringen.«

»Ins Arbeitshaus? Es wird den Kindern leicht fallen, von dort zu fliehen«, uberlegte der silberhaarige Mann und seufzte. Dann stutzte er sich mit den Handflachen auf die Schreibtischplatte und stand langsam auf.

James Read hatte seit funf Jahren das Amt des Obersten Richters inne. Er war mittleren Alters und sein adlerartiges Gesicht wurde durch das nach hinten gekammte Haar noch betont. Seiner Position entsprechend kleidete er sich konservativ. Doch sein korrektes Erscheinungsbild war trugerisch, denn er besa? einen ziemlich trockenen, sogar sarkastischen Humor. In einem unterschied er sich jedoch von seinen vornehmen Vorgangern, die wie er mit Leib und Seele Richter gewesen waren: Er hatte die Erhebung in den Ritterstand, die mit diesem Amt verbunden war, abgelehnt. Ob aus Gleichgultigkeit dieser Ehre gegenuber oder wegen seiner Abstammung aus einer bescheidenen methodistischen Familie, sei dahingestellt.

James Read durchquerte den Raum, stellte sich mit dem Rucken zum Kamin vor das lodernde Feuer und hob seine Rockscho?e. »In diesem verdammten Haus zieht es wie in einer Scheune. Selbst jetzt, im Mittsommer, bin ich bis auf die Knochen durchgefroren.«

Wortlos musterte er im flackernden Schein der Flammen Hawkwood, sein unmodisch langes Haar und sein kraftiges, beinahe arrogantes narbiges Gesicht. Es ist ein grausames Gesicht, mit diesen dunklen, grublerischen Augen, dachte er. Manche Frauen aber finden es wahrscheinlich unwiderstehlich.

»Ich habe einen neuen Auftrag fur Sie«, sagte Read, jetzt mit ernster Miene, glattete seinen Rock und trat vom Feuer zuruck. »Gestern Abend wurden bei einem Uberfall auf eine Kutsche zwei Menschen getotet: der Wachmann und ein Passagier.«

»Wo ist das passiert?«

»Nordlich von Camberwell auf der Stra?e nach Kent.«

Hawkwood kannte die Gegend. Das bewaldete Heide- und Weideland war ein beliebter Zufluchtsort fur Stra?enrauber und anderes Gesindel. In letzter Zeit waren jedoch wegen der wieder eingefuhrten schwer bewaffneten Reiterpatrouillen, ehemalige Kavalleristen zur Bewachung der Reiserouten von und in die Hauptstadt, Uberfalle selten geworden.

»Was haben die Kerle erbeutet?«

»Geld und Schmuck im Wert von etwa funfzig Guineen. Die Rauber waren sehr grundlich.«

»Die Rauber?!«, fragte Hawkwood.

»Nach Aussage der Zeugen waren es ein Mann und ein Junge«, sagte Read. Er lachte kurz und verbittert, ehe er hinzufugte: »Der Meister und sein Lehrling.«

Dann holte der Richter eine kleine, ovale Schnupftabakdose aus seiner Rocktasche, offnete geschickt den Perlmuttdeckel und legte eine Prise Tabak auf die Wolbung zwischen dem Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. Er inhalierte das feine Pulver in sein linkes Nasenloch, wiederholte die Prozedur mit dem rechten, klappte die Dose zu und steckte sie wieder weg.

»Konnten die Zeugen die Rauber beschreiben?«, wollte Hawkwood wissen, obwohl er die Antwort bereits kannte. Das Kopfschutteln des Richters bestatigte nur seine Vermutung.

Jetzt krauselte der Richter die Nase und zog ein Taschentuch aus seinem Armel.

»Sie waren maskiert. Nur der Altere hat geredet. Vielleicht ist der Junge stumm. Aber beide sind Morder. Der Altere hat den Kurier getotet, und der …«

»Den Kurier?«, warf Hawkwood ein.

»Ja, einen Kurier der Admiralitat. Der Mann ist in Dover zugestiegen. Der Wachmann wurde von dem Komplizen erschossen. Die beiden sind skrupellose Schurken, Hawkwood, damit wir uns recht verstehen.«

»Gibt’s sonst noch Hinweise?«, erkundigte sich Hawkwood und erschrak, als der Richter laut nieste, sich dann die Nase putzte und den Kopf schuttelte.

»Nein, nichts von Bedeutung, obwohl den Passagieren etwas Merkwurdiges aufgefallen ist. Sie hatten den Eindruck, dass der altere Mann kein guter Reiter sei.«

»Wie das?«

»Die Rauber wurden von einer berittenen Patrouille gestort. Beim Sprung auf sein Pferd verfehlte er den Steigbugel und ware beinahe gesturzt. Er hatte Muhe, in den Sattel zu kommen.«

»Ein Stra?enrauber, der nicht reiten kann«, uberlegte Hawkwood laut. »Das ist ungewohnlich.«

»Richtig«, stimmte Read zu und schniefte. »Obwohl es vielleicht nichts zu bedeuten hat. Wie schade, dass Officer Lomax mit seiner Patrouille nicht ein paar Minuten fruher dort angekommen ist. Dann hatten sie die Schurken bestimmt noch erwischt. Trotz des sturmischen Wetters. Der Regen hat alle Spuren verwischt.«

»Ein Mann und ein Junge«, dachte Hawkwood nach. »Damit lasst sich nicht viel anfangen.«

»Der Meinung bin ich auch«, stimmte Read zu und stopfte das Taschentuch wieder in seinen Armel. »Deshalb habe ich Sie kommen lassen. Wahrend sich Lomax weiter um die Passagiere kummert, sollten Sie sich auf die gestohlenen Gegenstande konzentrieren. Wie es aussieht, konnen wir die Rauber nur aufspuren, wenn Sie den Verbleib der Beute ausfindig machen. Sie haben doch gute Kontakte zur Unterwelt. Horen Sie sich dort um. Mord und Verstummelung auf des Konigs Stra?en dulde ich nicht! Schon gar nicht, wenn ein Kurier davon betroffen ist. Und wie mir mitgeteilt wurde, hinterlasst der Wachmann, dieser arme Kerl, eine Frau und vier Kinder. Bei Gott, Hawkwood, ich will, dass diese Manner gefasst und bestraft werden. Ich …« Der Oberste Richter verstummte, als er Hawkwoods Gesichtsausdruck sah.

»Jemand wurde verstummelt?«, fragte Hawkwood.

Als der Oberste Richter auf seine Schuhe hinuntersah, folgte Hawkwood seinem Blick und stellte nicht zum ersten Mal fest, dass James Read sehr kleine Fu?e hatte, so zierlich wie die eines Tanzers.

»Dem Kurier wurde die Hand abgetrennt.«

Hawkwood spurte, wie sich ihm der Magen schmerzhaft zusammenzog, ehe er entsetzt fragte: »Sie haben ihm die Hand abgehackt?«

»Die Kuriertasche war mit einer Kette am Handgelenk des Offiziers befestigt. Die Rauber glaubten wohl, die Tasche enthalte etwas Wertvolles. Und da der Kurier keinen Schlussel fur das Vorhangeschloss besa? – wie die Passagiere ausgesagt haben –, hat der Schurke ihn erschossen, ihm die Hand abgehackt und die Tasche mitgenommen. Er muss wohl in Panik geraten sein, als sich die Patrouille naherte.«

»Hat die Tasche denn etwas Wertvolles enthalten?«

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