»Gewiss nichts, was fur gewohnliche Diebe interessant ware«, sagte der Oberste Richter mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wahrscheinlich haben die Kerle die Tasche bei ihrer ersten Rast einfach weggeworfen. Ihnen ging es nur um Geld und Schmuck, Beute, die sie leicht verhokern konnen. Und die uns auf ihre Spur fuhren konnte.«

»Ich brauche eine Beschreibung der geraubten Gegenstande.«

»Da kann Ihnen Mr.Twigg weiterhelfen. Er hat die Details notiert«, informierte ihn der Oberste Richter, ging zu seinem Schreibtisch zuruck, setzte sich und fugte mit ernster Miene hinzu: »Ich will, dass diese Verbrecher zur Strecke gebracht werden, Hawkwood!«

Hawkwood nahm stirnrunzelnd die fur den Obersten Richter untypische Vehemenz zur Kenntnis. Es klang so, als ware James Read hochstpersonlich einer der ausgeraubten Passagiere gewesen. Denn gewohnlich zeigte der Richter kein derart ausgepragtes Interesse an einem Verbrechen.

»Das war’s«, sagte James Read und griff wieder nach seiner Feder. »Sie konnen jetzt gehen.«

Schon auf dem Weg zur Tur drehte sich Hawkwood noch einmal um, als der Richter, uber ein Dokument gebeugt und ohne den Blick zu heben, hinzufugte: »Es ist mir durchaus bewusst, Hawkwood, dass es bei der Verfolgung krimineller Elemente manchmal notig ist, uber gewisse andere … weniger schwerwiegende Missetaten hinwegzusehen. Dass man die kleinen Fische in Ruhe lasst, um den Hecht zu fangen. Praziser ausgedruckt, dass es heute Nachmittag durchaus gerechtfertigt war, den Faustkampf vor dem Wirtshaus Blind Fiddler nicht zu unterbrechen, damit sich die Witwe Gant und ihre Brut in Sicherheit wiegen konnte.

Ich bin jedoch strikt dagegen, dass sich Mitarbeiter der Behorde diese Nachsicht zunutze machen und sogar einen Teil ihres Gehalts bei diesen – ich darf Sie daran erinnern – noch immer ungesetzlichen Veranstaltungen verwetten.«

Jetzt hob der Richter den Kopf und betrachtete Hawkwood mit einem milden, fast muden Ausdruck in den Augen. »Und ersparen Sie mir Ihre Unschuldsmiene, Hawkwood, sowie jede Beteuerung, Ihnen seien derlei Vorkommnisse nicht bekannt, denn ich bin uberzeugt, dass mein Sekretar in Wetten verwickelt ist, obwohl er das naturlich nie zugeben wurde.

Zu dieser Schlussfolgerung bin ich ubrigens gekommen, als Mr.Twigg mit ungewohnter Bereitwilligkeit meinem Auftrag, Sie im Blind Fiddler zu treffen, nachgekommen ist. Mir ist dieses gewisse Funkeln in seinen Augen nicht entgangen. Und da er Sie nicht hierher zuruckbegleitet hat, nehme ich an, dass er eine Brandyfahne hat, wenn ich ihm das nachste Mal begegne.«

Hawkwood bemuhte sich vergebens, ein Grinsen zu unterdrucken.

»Aha, mir scheint, ich habe da einen Nerv getroffen«, fugte Richter Read sarkastisch hinzu. »Na gut. Damit ist die Angelegenheit fur mich im Augenblick erledigt. Ich gehe jedoch davon aus, dass Sie beide in Zukunft mehr Umsicht walten lassen. Als Vertreter des Gesetzes sind wir alle dazu verpflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen.«

»Ja, Sir«, sagte Hawkwood, ohne eine Miene zu verziehen. »War’s das dann?«

»Momentan ja«, nickte der Oberste Richter. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

James Read wartete, bis Hawkwood die Tur hinter sich geschlossen hatte, ehe er seine Feder auf den Schreibtisch legte und sich zurucklehnte. Das Kinn auf die Fingerspitzen gestutzt, blickte er nachdenklich vor sich hin.

Es bedruckte ihn mehr als erwartet, dass er Hawkwood nicht in den ganzen Sachverhalt dieses Falls eingeweiht hatte. Hawkwood arbeitete zwar noch nicht lange fur die Bow Street, hatte sich jedoch in dieser Zeit als der beste Runner des Teams erwiesen. Er war intelligent, findig und, wenn notig, absolut skrupellos. Hawkwood hatte es verdient, mehr uber die Hintergrunde des Falls zu erfahren, aber da es sich dabei um eine au?erst delikate Angelegenheit handelte, hatte der Richter strengste Anweisung erhalten, nur die fur die Ermittlungen unbedingt notwendigen Details preiszugeben. Wie in einem Schachspiel hatte er Hawkwood auf das Brett gestellt und konnte nur hoffen, dass sein Mann nun die richtigen Zuge machte.

Wahrenddessen gelang es Hawkwood im Vorzimmer nur mit Muhe, sein Erstaunen zu unterdrucken, denn der Sekretar Ezra Twigg sa? an seinem Schreibtisch, hielt eine Liste der gestohlenen Gegenstande in der Hand und schien trotz seiner wohl hastigen Ruckkehr aus der Taverne Blind Fiddler nicht einmal au?er Atem zu sein. Als Hawkwood nach der Liste griff, stieg ihm nur ein leichter Duft von Brandy in die Nase und der Sekretar sah ihn an, als konnte er kein Wasserchen truben.

Wegen seines Rundruckens, des schlecht sitzenden Huts und der tintenverschmierten Manschetten wirkte Ezra Twigg zwar wie ein serviler Schreiber, doch Eingeweihte wussten, dass sich hinter dieser harmlosen Fassade ein scharfer, listiger Verstand verbarg, der ihn befahigte, mit Hartnackigkeit und Gerissenheit Nachforschungen anzustellen.

In seiner Position als Sekretar diente Twigg schon seit langen Jahren den Obersten Richtern der Bow Street und war auch James Reads Vorgangern im Amt, Richard Ford und William Addington, ein loyaler Gefolgsmann gewesen. Unter der Hand wurde oft gemunkelt, Twigg konne sich wegen seiner vielfaltigen Verbindungen ebenso viele Informationen beschaffen wie der Geheimdienst. Der Oberste Richter stand zwar im Rampenlicht, doch es waren Untergebene wie Ezra Twigg, die das komplizierte Gefuge zwischen Polizei- und Justizbehorden zusammenhielten.

Die Liste der geraubten und kurz beschriebenen Gegenstande war nicht besonders beeindruckend: drei Ringe, eine Schnupftabakdose, ein Armband und ein silbernes Kreuz. Richter Read hatte den Gesamtwert der Beute auf etwa funfzig Guineen geschatzt. Bei einem Hehler wurden die Rauber dafur mit etwas Gluck zehn Guineen bekommen. Kein gro?er, aber doch recht ansehnlicher Profit fur eine Nachtarbeit.

Wahrscheinlich hatten die Rauber bereits versucht, ihre Beute gegen Geld einzutauschen. Uberall in den Seitenstra?en der Hauptstadt waren Hehler anzutreffen, die alles, angefangen vom seidenen Taschentuch bis zu Bleiplatten von Kirchendachern, verhokerten. Ein paar hatten sich auf besondere Beutestucke spezialisiert, wie Ma Jennings vom Red Lion Market, die nur mit Huten und Kleidern handelte; Joshua Roberts, ein Taubenzuchter in der Duck Lane mit lebendem Geflugel; und Edward Memmery, ein ehemaliger Safeknacker hauptsachlich mit Lebensmitteln. Fur alles gab es einen Preis und zahlungswillige Kaufer.

Und innerhalb dieser eingeschworenen, beruchtigten Gemeinschaft gab es etwa ein halbes Dutzend Hehler, die nur mit Gegenstanden von hochster Qualitat handelten: Manner wie Jacob Low in der Field Lane und Isaiah Trask aus der Karibik oder Sarah Logan, von ihren Komplizen die Witwe genannt, in der Rosemary Lane. Jeder Hehler oder jede Hehlerin verfugte uber genugend Mittel, um die auf der Liste aufgefuhrten Gegenstande zu kaufen. Hawkwood wusste, dass James Read ihn mit einer Aufgabe betraut hatte, die der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleichkam.

Deshalb brauchte er bei dieser Suche Unterstutzung.

Es gab mehrere Informanten, an die er sich wenden konnte, von denen er etwa ein Dutzend bezahlte, damit sie ihn uber kriminelle Machenschaften auf dem Laufenden hielten. Dazu zahlten Handler, Hausierer, Huren und Stra?enbengel, deren Identitat er streng geheim hielt. Ohne deren intime Kenntnisse der Unterwelt hatten Hawkwood und seine Kollegen langst nicht so effizient arbeiten konnen. Spitzel waren die Augen und Ohren der Runner in diesem Milieu.

In diesem Fall jedoch gab es nur einen, an den er sich wenden konnte. Und um mit diesem Individuum Kontakt aufzunehmen, musste er sich in ein gefahrliches Viertel begeben, eine Welt, in der sogar ein Huter des Gesetzes um sein Leben furchten musste. Um das Risiko zu minimieren, war er gezwungen, gewisse Vorkehrungen zu treffen.

Der blinde Billy Mipps sa? an seinem gewohnten Platz vor dem billigen Wirtshaus Black Lion in der Little Russell Street. Der Blinde Billy war dunn wie eine Bohnenstange und hatte langes mit Dreck verklebtes Haar. Schabige, verlauste Lumpen umschlotterten seinen mageren Korper. An einer ausgefransten Schnur um den Hals trug er einen Bauchladen mit Wachs- und Talgkerzen, die er verkaufte, und ein Pappschild, auf dem in kaum entzifferbarer Schrift stand: Kriegsveteran muss Frau und drei Kinder ernahren. Was nur zum Teil stimmte, denn Billy Mipps war nie Soldat gewesen, hatte keine Frau, aber vielleicht ein paar Kinder mehr gezeugt.

Eine um seinen Kopf gewickelte, blutverkrustete Binde bedeckte seine Augen. Vom Handgelenk hing ein wei?er Stock an einem Lederriemen. Der Kerzenhandler war nur eine von vielen Jammergestalten, die in den Stra?en der Hauptstadt ihre kummerlichen Waren feilboten.

Ebenso wie andere Bettler hatte auch der Blinde Billy eine eigene Masche, um Passanten auf sich

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