aufmerksam zu machen. Wann immer sich ein scheinbar potenzieller Kunde naherte, klopfte Billy mit dem Stock auf den Boden, schepperte mit seiner Blechbuchse und bettelte winselnd: »Kauft eine Kerze, Euer Ehren. Eine Kerze fur einen Penny. Spendiert einem alten Soldaten eine Munze!« Oder so ahnliche Spruche.
Heute Abend war das Ergebnis eher mager. Sogar die sonst recht gro?zugigen Theaterbesucher hatten sich wenig spendabel gezeigt, sodass nur ein paar Munzen und eine nicht geringe Anzahl Knopfe und Nagel in seinem Blechbecher lagen. Billy uberlegte gerade, ob er sich auf den Weg machen und einen anderen Standort suchen sollte, als er Schritte naher kommen horte. »Erubrigt einen Penny, Sir. Den Kindern zuliebe. Kauft eine Ker …«
»Erspar mir deine Bettelspruche, Billy«, sagte eine Stimme barsch. »Die kenne ich auswendig.«
Billy stellte sich sofort taub, neigte den Kopf zur Seite, klapperte erwartungsvoll mit seinem Blechbecher und greinte: »Was habt Ihr gesagt? Erubrigt einen Pen …«
Billy blieb das Wort im Hals stecken, als er den eisernen Griff um sein Handgelenk spurte und die Stimme ihm ins Ohr flusterte: »Bist du schwerhorig, Billy? Pass auf, wenn ich mit dir rede.«
Der Druck um Billys Handgelenk verstarkte sich derart, dass er kurz befurchtete, seine Knochen wurden brechen.
»Ich will, dass du fur mich eine Nachricht uberbringst. Fur Jago. Sag ihm, der Captain mochte ihn treffen.«
»Jago?«, krachzte Billy. »Ich kenne keinen Jago. Ich …«
Wieder durchzuckte ein stechender Schmerz Billys Arm.
»Keine Widerrede, Billy! Leg dich nicht mit mir an. Tu einfach, was ich dir sage. Uberbringe die Nachricht. Hast du das kapiert?«
Als Billy heftig nickte, lockerte sich der Griff um sein Handgelenk, und der Schmerz in seinem Arm verebbte zu einem dumpfen Pochen.
»Gut. Das war doch gar nicht so schwierig, oder?«
Dann fiel klappernd eine Munze in den Blechbecher, und die Schritte entfernten sich wieder.
Der Blinde Billy wartete volle zwanzig Sekunden, ehe er den Rand seiner Augenbinde hochklappte und angstlich die Stra?e rauf und runter spahte. Trotz der vielen Passanten schien niemand bemerkt zu haben, dass der Bettler bedroht worden war, oder vermeintliche Zeugen hatten es vorgezogen, wegzuschauen. Billy sah in den Becher, kippte den Inhalt in seine Handflache, fischte die Nagel, Knopfe und die zerbrochene Gurtelschnalle heraus und steckte die Munzen in den Beutel unter seiner zerschlissenen Weste. Dann nahm er das Pappschild ab und schlurfte fur einen Blinden erstaunlich schnellfu?ig die Stra?e entlang.
Hawkwood sa? an einem Fenstertisch im
4
Auf den Stra?en von Whitehall machten die klappernden Hufe und polternden Rader einen ziemlichen Larm auf dem Pflaster, als Richter Read vor dem imposanten Eingang zum Sitz der Admiralitat aus der Kutsche stieg.
»Warte auf mich, Caleb«, teilte er dem Mann auf dem Bock mit. »Es durfte nicht allzu lange dauern.«
»Wie schon, Euer Ehren«, erwiderte der Kutscher und tippte sich an den Hut.
Der Oberste Richter schwang seinen Spazierstock, durchschritt das Tor und uberquerte den Vorplatz. Erst als die Gestalt im schwarzen Mantel au?er Sicht war, stieg der Kutscher vom Bock, holte den Futtersack aus dem Kasten und hangte ihn der Stute um den Hals. Dann sprang er wieder auf den Bock, nahm seine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie gemachlich. Er richtete sich auf eine langere Wartezeit ein, weil der Zeitbegriff des Obersten Richters in London selten mit dem anderer Menschen ubereinstimmte. Doch das Warten lohnte sich allemal, denn der Richter gab gro?zugige Trinkgelder.
Read stieg forschen Schrittes zwischen den hohen wei?en Saulen die Treppe empor und betrat das Hauptgebaude. Trotz der fruhen Stunde herrschte in der Eingangshalle bereits reges Treiben. Manner in blauen Marineumformen warteten auf Korridoren und Treppen in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Adjutanten der Admiralitat zu erregen, um ihr Anliegen vortragen zu konnen.
James Read jedoch wurde sofort von einem schwermutig aussehenden Leutnant unter den neugierigen Blicken der Wartenden zum Sitzungssaal geleitet, wo er vom Adjutanten des Admiralstabs empfangen wurde. Erst dort brach der Leutnant sein Schweigen, salutierte, wunschte dem Obersten Richter einen guten Tag und entfernte sich rasch.
Beim Betreten des Saals registrierte Read nicht zum ersten Mal, wie raumlich beschrankt das Zentrum der britischen Admiralitat im Verhaltnis zu seiner weltweiten Bedeutung war.
An den Wanden hingen Seekarten, und an einem Ende des Raums stand zwischen hohen, schmalen, mit Glas verkleideten Bucherregalen ein riesiger Globus. Daruber zeigte ein Kompass, der mit der Wetterfahne auf dem Dach verbunden war, stets die augenblicklich herrschende Windrichtung an. Momentan stand der Zeiger auf NNO.
Deswegen ist mir wohl so verdammt kalt, dachte Read.
Ein schwerer rechteckiger Eichentisch, umgeben von acht Stuhlen, dominierte den Raum. Zwei Quasten, die an den beiden Kopfenden von der Decke hingen, dienten als Klingelzug.
Drei Manner waren anwesend; zwei sa?en am Tisch, wahrend der dritte, ein Mann in mittleren Jahren im zweireihigen Frack, am Fenster stand und hinausschaute. Jetzt drehte er sich abrupt um.
»Ah, Read! Da sind Sie ja endlich. Wird aber auch Zeit! Gibt es Fortschritte bei Ihren Nachforschungen?«
Der Erste Seelord Charles Yorke war Chef des britischen Admiralitatsstabs, au?erdem Barrister und Mitglied der Koniglichen Akademie der Naturwissenschaften. Seine politische Karriere hatte er als Abgeordneter des Unterhauses begonnen.
Read ignorierte die in herrischem Ton vorgebrachte Begru?ung und trat gelassen an den Tisch. »Guten Morgen, Gentlemen«, sagte er hoflich, worauf die beiden ernst aussehenden Manner nur stumm nickten.
»Nun, Sir?« Charles Yorke platzte vor Ungeduld. Seine Stirn warf finstere Falten und seine Unterlippe zitterte vor Wut. »Haben Sie etwas zu berichten oder nicht?«
Richter Read drehte sich um und antwortete ruhig: »Nur, dass die Ermittlungen eingeleitet wurden und ich meinen besten Mann damit beauftragt habe.«
»Und was haben Sie ihm mitgeteilt?«
»Nur das Notigste, damit er mit den Nachforschungen beginnen kann.«
»Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist?«
»Naturlich«, entgegnete Read, ohne sich von dem arroganten Auftreten Yorkes einschuchtern zu lassen. Ein leicht verargerter Ausdruck huschte uber das Gesicht des Ersten Seelords, als der Richter seinen eleganten Spazierstock auf den Tisch legte und seine Handschuhe auszog. Der Chef des Admiralitatsstabs hielt den Stock offensichtlich fur ein etwas geckenhaftes Accessoire, doch bei einer naheren Inspektion des Stocks hatte er seine Meinung revidieren mussen, denn in dem Schaft steckte eine sechzig Zentimeter lange Klinge aus feinstem Toledo-Stahl. Diese Waffe war von William Parker aus Holborn speziell fur James Read angefertigt worden, und der Richter wusste geschickt damit umzugehen.
Als Oberster Richter war James Read im Laufe der Jahre unzahlige Male von Verbrechern, die er hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, bedroht worden. Oder Komplizen hatten ihm Rache fur Bekannte und Verwandte geschworen, die gehangt, eingesperrt oder deportiert worden waren. Die meisten, im Eifer des Gefechts ausgesprochenen Drohungen wurden jedoch nie in die Tat umgesetzt, denn die Rachegeluste lie?en mit der Zeit nach. Aber Read hielt es fur angebracht, stets vorsichtig zu sein. Zweimal schon hatte er sich gegen Angreifer verteidigen mussen. Der erste war mit einer Fleischwunde im Bein davongehumpelt, wahrend der zweite an einem Stich in die Lunge gestorben war. Und beide Male war Read unverletzt geblieben.
»Ist Ihr Beamter vertrauenswurdig?«, fragte der Erste Seelord unverblumt.
Erst nach einer kurzen Pause gab Read ziemlich schroff zuruck: »