Soldaten und ich – standen also auf diesem Turm und warteten darauf, dass sich der General zeigte. Und dann erschien er tatsachlich und spazierte stolz wie ein Gockel in seiner prachtigen Uniform uber den Schutzwall.«
Der Major griff in seinen Rock und holte eine kurzstielige Tonpfeife und einen Tabakbeutel heraus. Mit einer fur Fitzhugh beinahe unertraglichen Langsamkeit stopfte er seine Pfeife und steckte den Beutel in seinen Rock zuruck. Frustriert musste Fitzhugh mit ansehen, wie der Major eine Kerze nahm, die Flamme an den Pfeifenkopf hielt und paffte, bis der Tabak ordentlich gluhte. Dann druckte er die Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger aus und steckte die Kerze in den Behalter neben seinem Ellbogen zuruck. Fitzhugh glaubte zunachst, der Major spanne ihn absichtlich auf die Folter, merkte dann jedoch, dass Lawrence dieses Ritual brauchte, um seine Gedanken zu sammeln.
Der Major zog ein paar Mal gerauschvoll an seiner Pfeife, ehe er mit seiner Geschichte fortfuhr: »So etwas hatte ich noch nie erlebt, Fitz. Unser Freund steht da und schaut uber die Dacher zu dem General hin. Er sagt kein Wort, starrt nur diesen Gockel an. Dann ladt er seelenruhig sein Gewehr, legt den Lauf auf die Brust, zielt und druckt ab.
Er hat den General mit einem einzigen Schuss erledigt, Fitz. Ich habe durch mein Fernglas gesehen, wie er dem Schei?kerl die Kugel in den Kopf gejagt hat.«
»Aus welcher Entfernung?«
»Es waren etwa zweihundert Meter.«
»Du lieber Himmel!«, rief Fitzhugh und klappte den Mund auf.
»Es war der verdammt beste Schuss, den ich je gesehen habe.«
»Ich kann’s nicht glauben«, staunte Fitzhugh noch immer.
»Das hat die Spanier naturlich vollig demoralisiert. Gleich darauf haben sie sich ergeben.«
»Und was wurde aus dem Schutzen?«
»Er ist zu seiner Einheit zuruckgekehrt. Ich habe ihn nie wieder gesehen. An diesen Schuss kann ich mich jedoch gut erinnern. Einfach hervorragend.«
Lawrence schwieg wieder und hing seinen Gedanken nach. Er zog an seiner Pfeife, hob seinen Becher und leerte ihn.
»Noch einen Drink?«, fragte Fitzhugh.
Lawrence starrte in den Becher, so als wurde ihm erst jetzt auffallen, dass er leer war, und erwiderte: »Warum nicht?«
Fitzhugh hob die Hand und winkte eine der Serviererinnen herbei. Nur zu bereitwillig folgte sie der Aufforderung eines so gut aussehenden jungen Mannes in Uniform und trat lachelnd an den Tisch der beiden. Als sie sich vorbeugte und nach den Bechern griff, wolbte sich ihr uppiger Busen uber dem tief ausgeschnittenen Mieder. Fitzhugh bestellte die Getranke und spurte dabei den Druck ihrer linken Brust an seinem Arm. Das erinnerte den Leutnant daran, dass er und der Major fur den Abend einen Besuch in einem kleinen und sehr diskreten Etablissement am Covent Garden geplant hatten, wo schone, handverlesene, charmante und junge Damen zu Amusements einluden, die eine Offiziersmesse nicht zu bieten hatte.
Fitzhugh fiel auf, dass die Serviererin auf dem Weg zum Schanktisch von lusternen Mannern betatscht und mit obszonen Bemerkungen belastigt wurde. Dann kam ihm plotzlich ein Gedanke, und er sagte zu Lawrence. »Warum, glauben Sie, hat Hawkwood geleugnet. Sie zu kennen?«
Lawrence zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Aber er hat wohl weniger Grund, sich an mich zu erinnern als ich mich an ihn.«
Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn Fitzhugh wusste, dass der Major einen erheblichen Beitrag zur Eroberung Montevideos geleistet hatte. Davon zeugte allein die vom Major so hoch geschatzte Taschenuhr, die die Regimentsleitung jungeren Offizieren als Anerkennung hervorragender Dienste verlieh.
Die Briten hatten die spanischen Befestigungsanlagen mit bewahrten, wenn auch mittelalterlichen Methoden belagert. Mit Sturmbocken und Brustwehren, Schanzkorben und Faschinen hatten sie fur die Geschutze, die mit Kriegsschiffen von Rio de Janeiro herbeigeschafft wurden, Barrikaden errichtet. Es hatte vier Tage gedauert, bis die Tore und die sechs Meter dicken Mauern der Stadt den Kanonenkugeln nicht mehr standgehalten hatten und zusammengebrochen waren. Kurz vor Tagesanbruch, noch im Schutz der Dunkelheit, hatte ein Himmelfahrtskommando der britischen Truppen unter dem Befehl von Captain Renny die Stadt gesturmt. Da der Captain von einer Musketenkugel getroffen worden war, hatte der junge Leutnant Lawrence buchstablich in die Bresche springen mussen und die Soldaten uber die Mauern in die Stadt gefuhrt.
Sir Samuel Auchmuty hatte die Tapferkeit seines jungen Offiziers mit einem Geschenk – seiner eigenen Taschenuhr – geehrt und ihn im Gedenken an den gefallenen Renny zum Captain befordert.
Jetzt kam die Serviererin mit den Getranken zuruck. Sie schenkte Fitzhugh wieder ein Lacheln und entfernte sich mit einem besonders provozierenden Schwung ihrer breiten Huften.
»Ein verdammt merkwurdiger Berufswechsel«, uberlegte Leutnant Fitzhugh laut und nippte an seinem Becher. »Vom Scharfschutzen zum Runner.«
»Und wie ich ihn einschatze, ist er ein verdammt tuchtiger Polizist«, entgegnete Lawrence und fugte nachdenklich hinzu:
»Obwohl ich bezweifle, dass er dadurch viele Freunde gewonnen hat.«
Ehe sich der Leutnant zu dieser Bemerkung au?ern konnte, stand der Major auf, leerte sein Glas, klopfte seinen Pfeifenkopf am Tischbein aus und musste beim Anblick des Gesichtsausdrucks des Leutnants grinsen. »Na los, Fitz. Trinken Sie aus. Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Die Serviererin hat derart mit Ihnen geschakert, dass mir unsere Verabredung bei Mistress Flanagha wieder eingefallen ist. Die drallen Mopse dieser kleinen Hure sind eine Augenweide und haben meinen Appetit geweckt.« Ohne auf eine Antwort zu warten, steckte der Major seine Pfeife ein, griff nach seinem Tschako und ging zur Tur.
Als Fitzhugh merkte, dass er einfach sitzen gelassen wurde, kippte er seinen Brandy hinunter und folgte dem Major nach drau?en.
Wahrend die beiden Offiziere durch die dunkle Stra?e ihrem Ziel entgegenstrebten, kehrten Major Lawrences Gedanken zu der Begegnung im Hof der Taverne zuruck. Naturlich hatte er Fitzhugh mehr uber den wortkargen Exscharfschutzen erzahlen konnen, aber ein gewisser Ausdruck in Hawkwoods Augen hatte ihm Zuruckhaltung geboten. Ganz offensichtlich wollte Hawkwood seine Vergangenheit – aus welchen Grunden auch immer – im Dunkeln lassen. Geistesabwesend tastete der Major nach der Uhrenkette, vergewisserte sich, dass die Taschenuhr noch unter seiner Scharpe steckte, und atmete erleichtert auf. Die Vergangenheit war eine rein personliche Angelegenheit, und Hawkwood zog es eindeutig vor, anonym zu bleiben. Und Fitzhugh musste sich damit abfinden, nur einen Teil der Geschichte zu kennen.
Lawrence strich mit dem Daumen uber den Uhrendeckel und dachte: Das zumindest bin ich Hawkwood schuldig.
Langsam fullten sich die Stra?en mit abendlichen Flaneuren, als sich Hawkwood auf den Weg zur Bow Street machte. Theaterbesucher versammelten sich unter dem Portikus des Richmond Theatre, wahrend andere zum Lyceum und dem Aldwych unterwegs waren. Imbissstuben, auffallig dekorierte Wirtshauser, Bordelle und Tavernen im und um den Covent Garden waren bereits berstend voll. Dandys, Zuhalter und Prostituierte mischten sich unter die Mu?igganger. Pferdekutschen bahnten sich larmend ihren Weg durch das Gedrange, und von irgendwoher tonte die jaulende Melodie eines Leierkastens.
Bow Street Nr. 4 war ein schmales, funfstockiges Gebaude mit unauffalliger Fassade. Bis auf das zusatzliche Stockwerk unterschied es sich kaum von den angrenzenden Gebauden. Dem Raum im ruckwartigen Teil des Erdgeschosses verdankte dieses Gebaude jedoch seinen Namen. Fur die Beschaftigten war es schlicht »der Laden«, wahrend es bei den Stadtbewohnern als das »Amt« bekannt war.
Hawkwood drangte sich durch die Hand voll Mu?igganger auf der Eingangstreppe, trat durch die offene Tur und folgte dem schmalen Korridor zur Ruckseite des Hauses. Seine Schritte hallten hohl auf den Holzdielen wider.
Die Buros waren noch nicht geschlossen. Mit Akten und Papieren beladene Boten eilten im Licht der Kerzen durch die Korridore. In dem uberfullten Raum des Amts fand noch eine Gerichtsverhandlung statt, und der Vorsitzende folgte der Verhandlung mit einem Ausdruck au?erster Langeweile auf seinem asketischen Gesicht.
Hawkwood zog seinen Reitmantel aus und ging die Treppe in den ersten Stock zum privaten Amtszimmer des Obersten Richters hoch. Vor der Tur legte er seinen Mantel uber die Lehne eines Stuhls und klopfte dann