In mancher Hinsicht leben auch Palaontologen so; ihr physisches Leben folgt dem geradlinigen Trend der Zeit, aber ihre Gedanken bewegen sich vorwarts und ruckwarts durch die Aonen und springen von Pfad zu Pfad, auf denen die Zeit manchmal ratselhafte Schritte tut.

Peter Douglas Ward, Der lange Atem des Nautilus

»Eine unma?ige Vorliebe fur Kafer«, antwortete der beruhmte britische Populationsgenetiker J.B. S. Haldane auf die Frage eines Kirchenmannes, welche Eigenschaften des Schopfers sich ihm durch das Studium der Natur offenbart hatten.

Die Zahl der heute bekannten Kaferarten liegt bei etwa 400 000. Sie sind damit die mit gro?em Abstand artenreichste Tiergruppe der Erde.

1

Messel

Lustlos stocherte Max Behringer mit seinem Spaten in dem lockeren Schiefer. Dann stutzte er sich mit einem Seufzer auf den abgewetzten Holzstiel und blinzelte in die Sonne, deren letzte Strahlen gerade noch auf den Boden der Grube fielen. Der schwarze Schiefer schien das Licht wie ein Schwamm in sich aufzusaugen. Es wurde fruh dunkel hier unten, und mit dem Licht verschwand auch die Warme, sogar an einem hei?en Sommertag wie diesem. Sobald sich Schatten uber den Grubenboden senkte, kroch durch dicke Schichten feuchten Gesteins die Kalte empor.

Das Gelande lag wie ausgestorben. Kein Mensch, selbst dort hinten in der Nahe des schon im Schatten liegenden steilen Grubenrandes, wo die Belgier im Augenblick ihre Ausgrabungen durchfuhrten, uberall nur zersplitterter Schiefer und drek-kige Plastikplanen. Ganz in der Nahe standen die verlassenen Geratschaften der Geologen herum. Sie hatten hier in den letzten Wochen alles auf den Kopf gestellt, zahllose meterlange Bohrer in den Schieferboden getrieben und waren Max mit ihren Sonderwunschen und einem unsaglichen Kommandoton auf den Wecker gegangen. Das zuruckgelassene Bohrgestange sah in der kargen Umgebung der Grube aus wie eine zerschellte Weltraumsonde.

Seltsam, dachte Max, sonst wuhlten diese Gastforschergruppen doch bei Wind und Wetter so lange in dem Schiefer herum, wie es nur irgendwie ging, bis es so dunkel geworden war, da? man nichts mehr erkennen konnte und sich mit dem Spaten womoglich in den eigenen Fu? hackte. Die hofften naturlich bis zur letzten Minute, doch noch ihr Urpferdchen zu finden, ihren Ameisenbaren, ihre Beutelratte oder irgend etwas anderes, Spektakulares, das den ganzen Aufwand lohnte und ihnen eine triumphale Heimkehr garantierte.

Aber so ging das naturlich nicht. Mit Gewalt war da nichts zu machen. Niemand wu?te das besser als Max. Schlie?lich arbeitete er nicht erst seit gestern hier.

Max hatte immer wieder seinen Spa?, wenn er den auswartigen Gasten bei der Arbeit zuschauen konnte. Brachte wenigstens mal etwas Abwechslung in den Laden, andere Stimmen, neue Gesichter, nicht immer nur diese Langweiler oben aus der Station. Einige, die das erste Mal in die Grube kamen, liefen anfangs wie auf Eiern, weil sie furchteten, mit ihren klobigen Gummistiefeln kostbare Fossilien zu zertreten.

Na ja, irgendwie konnte er sie schon verstehen. Messel war etwas Besonderes. Sie mu?ten sich erst daran gewohnen. Stieg ihnen dann der Geruch des beruhmten Schiefers in die Nase, waren sie nicht mehr zu halten. Sie sturzten sich in die Arbeit, ackerten und schufteten, als hinge ihr Leben davon ab. Sie waren ja nur ein paar Tage hier, und vielleicht war der Sensationsfund genau in dem Stuck Schiefer, das sie noch nicht aufgebrochen hatten. Viele Museen uberall auf der Welt hatten sich gerne mit einem echten Messeler Urpferdchen geschmuckt.

Am Anfang freuten sie sich uber die alltaglichsten Fundstuk-ke wie Kinder. Mit vor Aufregung geroteten Gesichtern rannten sie umher, stie?en in ihren seltsamen Sprachen unverstandliche Triumphschreie aus, und wenn Max dann hinzutrat und sich anschaute, was sie gefunden hatten, gab es selten mehr als winzige Fische oder ein Farnblatt zu bestaunen. Davon hatte er schon Hunderte zu Tage befordert. Man mu?te sich schon ziemlich damlich anstellen, wenn man es fertigbrachte, hier keine Fossilien zu finden.

Die Belgier waren sowieso in Ordnung, auf die lie? er nichts kommen. Sie gruben hier regelma?ig und hatten immer einen Kasten Bier neben der Ausgrabungsstelle stehen, aus dem auch er sich bedienen durfte. Jetzt hockten sie wahrscheinlich in irgendeinem Gasthof und soffen sich die Hucke voll. Ganz schon trinkfest, diese Belgier.

Typisch! Es war Freitag nachmittag, und alle waren ausgeflogen, nur er mu?te hier noch seine Zeit totschlagen, er und Rudi, der ein paar Meter links von ihm auf dem Boden hockte und eine Zigarette rauchte.

Vielleicht waren die Belgier schon abgereist. Ihm erzahlte man ja nichts. Er war ja hier nur fur die Dreckarbeit zustandig. Diese studierten Wei?kittel wollten sich die Hande nicht schmutzig machen. Teufel noch mal, wie er diesen Job manchmal ha?te. Wenn er sich zu Hause die vollig verdreckten Gummistiefel auszog, schwor er sich immer wieder, da? das nicht mehr so weitergehen konne. Bei Regen wurde das Zeug so glatt, da? man alle naselang ausrutschte und sich von oben bis unten einsaute. Eine Mullkippe wollten sie aus der Grube machen. Ha, wenn das kein Witz war! Eine Mullkippe, das war dieses Loch doch schon lange.

Er seufzte, stie? den Spaten wieder in den schwarzlichen Grund und brach ein neues Stuck Schiefer heraus, das aussah wie dunkelgrauer, an manchen Stellen grunlich schimmernder Blatterteig.

Er blickte auf die Uhr. In einer knappen Stunde war Feierabend, und dann konnten die ihn hier alle mal kreuzweise.

»Biste eingeschlafen oder was?« rief er Rudi mi?mutig zu, der immer noch unbeweglich im Schiefer hockte, obwohl seine Zigarette schon lange vergluht war. Jetzt brummte der unwillig, schnappte sich seinen Spaten und schlurfte auf die andere Seite der Ausgrabungsstelle.

Fauler Hund, dachte Max, aber im Grunde mochte er den Rudi ganz gern. Rudi redete nicht viel, er war sogar ziemlich maulfaul. Aber das storte Max nicht. Besser, als plappern wie ein Wasserfall. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Das schone an dem Job war, da? ab und zu und unvorhersehbar, etwas richtig Aufregendes passieren konnte. Das Ganze erinnerte ihn manchmal an die Wundertuten, die man fruher fur ein paar Groschen beim Zeitungshandler kaufen konnte. Man wu?te nie, was einen erwartete. Entweder derselbe Schei? wie immer oder etwas Neues, das man noch nie zuvor gesehen hatte.

Meistens fanden sie naturlich nur diese kleinen Fische, Hunderte, die nahmen sie kaum noch zur Kenntnis. Riesige Schwarme mu?te es davon gegeben haben, damals, als das hier alles noch ein See war. Aber letztes Jahr, als er das Urpferd-chen gefunden hatte, da war was los. Donnerwetter! Die Wissenschaftler oben aus der Senckenberg-Station waren vollig aus dem Hauschen, wie wild gewordene Bienen. Spater kamen dann auch noch die Leute von der Presse und knipsten, was das Zeug hielt.

Und er hatte es gefunden, er, Max Behringer. Einer der Pressefritzen bestand sogar darauf, ihn zu interviewen. So etwas passierte einem auf dem Bau naturlich nicht. Bisher gab es nur ganz wenige von diesen Skeletten und das, was er entdeckt hatte, war vollstandig gewesen, ein Urpferdchen mit allem Drum und Dran. Sogar was das Biest gefressen hatte, konnten sie spater feststellen. Das mu? man sich mal vorstellen, funfzig Millionen Jahre alt, und die konnen dir sagen, was es zum Fruhstuck gefuttert hat.

Vor einigen Wochen hatte er eine Fledermaus gefunden. Die waren zwar ziemlich haufig hier, aber sie stellte sich als eine bisher unbekannte Art heraus, schon die sechste in Messel. Max war das egal, und er konnte die Aufregung kaum nachvollziehen, aber da oben in der Station gab es die Schafer, und die war ganz hei? auf die Dinger. Schon komisch, womit sich die Leute ihr ganzes Leben beschaftigen. Fledermause, na ja, ihm sollte es recht sein.

Sogar fur fossile Krokodilschei?e gab es begeisterte Abnehmer. Uberhaupt schien diese versteinerte Tierkacke besonders wichtig zu sein. Sie waren ganz versessen darauf. Die Sen-ckenberg-Stiftung hatte ein Sonderforschungsprogramm uber diese Koprolithen aufgelegt. Bei Rudi und Max hie?en sie einfach Schei?fossilien.

Tatsachlich schien die Grube voll davon zu sein, die reinste Kloake. Wenn man erst einmal wu?te, wonach

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