Was dann folgte, war der unvermeidliche Austausch ihrer Kurzlebenslaufe. Tobias war hoch erfreut zu horen, da? Micha Biologie studierte und sich mit Begeisterung der Entomologie, insbesondere der Kaferkunde, widmete. Er selbst erzahlte, da? er nach einer Lehre als Steinmetz auf der Abendschule das Abitur nachgemacht und dann in derselben Firma wie sein Vater gearbeitet hatte. Nach dem plotzlichen Tod seiner Eltern sei er vor einem guten halben Jahr nach Berlin gekommen, um Geologie zu studieren. Sie hatten sich beide den Naturwissenschaften zugewandt und stellten mit einem Lacheln ubereinstimmend fest, da? sie damit gut auf Kurs geblieben waren. Ein Forscherdasein war ihnen schon damals als das Gro?te erschienen.

Nun war eine so angeregte Unterhaltung im Gange, da? Micha seine Kopfschmerzen bald vergessen hatte. In den kurzen Gesprachspausen, die nichts Peinliches mehr hatten, betrachteten sie sich gegenseitig, suchten nach vertrauten Zugen in ihren Gesichtern, und Michas murrische Zuruckhaltung war regem Interesse und einem eigentumlich vertrauten Gefuhl gewichen.

»Ich habe jetzt endlich eine Wohnung in Kreuzberg gefunden. Du mu?t mich unbedingt mal besuchen kommen«, sagte Tobias voller Begeisterung und die Erregung brachte Farbe in sein kantiges Gesicht. Micha mu?te unwillkurlich grinsen, sosehr glich Tobias jetzt dem Bild, das in irgendeinem bisher verschlossenen Hinterstubchen seines Gehirns die Jahre uberdauert hatte.

»Ich bin nur noch eine Woche in Berlin«, sagte Micha. »Dann fahre ich in den Urlaub.«

»Na, dann treffen wir uns eben, wenn du wieder zuruck bist. Wo soll’s denn hingehen?« fragte Tobias.

»Agais, ‘n paar griechische Inseln abklappern.«

»Oh, toll, Kreta und so, ja? Na, ich mu? erst mal renovieren, aber in drei, vier Wochen will ich auch wegfahren. Bin ein bi?chen knapp bei Kasse, wei?t du.«

»Und wo willst du hin?«

Wieder eroberte dieses charakteristische Grinsen das schmale Gesicht seines alten Schulfreundes. Ein Backpfeifengesicht, dachte Micha. In dieser Beziehung hatte Tobias sich wenig verandert. Er war nur noch kantiger geworden. Au?erdem war da jetzt dieses seltsame Ding in seinem schiefen Schneidezahn.

Schon damals sprossen seine Zahne unbandig in alle Richtungen. Braune Haare hingen ihm ungekammt und fettig um den Kopf. Seine Lippen waren meist trocken und aufgesprungen gewesen, und da er andauernd an den trockenen Hautstuckchen herumknabberte, oft auch blutig und verschorft, nicht gerade ein hubsches Kind. Heute konnte er ohne weiteres als Bosewicht in einem James Bond-Streifen durchgehen.

»Ich wollte mich mal ein bi?chen in der Slowakei umsehen«, antwortete Tobias nach kurzem Zogern, so als ob daran irgend etwas Geheimnisvolles ware.

»Ungewohnlich!«

»Ja, ich wei?. Aber preiswert und nicht so weit weg. Die Hohe Tatra soll sehr schon sein.«

»Klar, warum nicht?«

Ein Blick auf die Uhr zeigte Micha, da? es schon ziemlich spat geworden war. Er rief nach der Bedienung, um zu zahlen.

Er schrieb seine Adresse und Telefonnummer auf einen Bierdeckel und verabschiedete sich. »War nett dich zu treffen, wirklich. Ich bin wahrscheinlich Anfang September wieder zuruck. Du kannst dich ja dann mal melden.«

Tobias stand auf, um ihm die Hand zu geben. Er hatte, was seine Korpergro?e anging, erheblich an Boden gutgemacht.

Fruher war er ein Hanfling gewesen. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, reichte er Micha gerade bis an die Schultern, eine halbe Portion, ein Spargeltarzan mit dunnen Armchen und durren knochigen Beinen, aus denen die Kniegelenke hervorstachen wie Geschwure. Er wirkte als Kind zerbrechlich und kranklich. Sein hohlwangiges Gesicht hatte ausgesehen, als bekame er nie genug zu essen. Vielleicht war dieser Eindruck gar nicht so falsch, denn Micha hatte mit eigenen Augen gesehen, wie dieses spacke Burschchen im Schullandheim jeden Morgen sage und schreibe neun belegte Brote verdruckt hatte, ohne jemals den Eindruck zu vermitteln, jetzt sei es genug. »Schlechter Futterverwerter«, meinte Michas Mutter, als er ihr davon erzahlte.

Er winkte Tobias aus ein paar Meter Entfernung noch einmal zu und marschierte dann in Richtung U- Bahn.

Hackebeil

»Dr. Axt, ich hab da was gefunden, das sollten Sie sich vielleicht mal anschauen.«

Montag morgen war Max zunachst hinunter in die Grube gegangen, hatte die Fundstelle erneut freigelegt und noch etwas Schiefer um die kleine Knochenreihe entfernt. Dabei hatte er noch eine weitere Reihe kleiner Knochen gefunden, fast parallel zu der ersten. Anschlie?end war er ohne besondere Eile nach oben gelaufen, um Hackebeil zu benachrichtigen.

»Tut mir leid, ich kann jetzt nicht, Max. Bin gerade beim Rontgen«, sagte Axt, ein eher kleiner, aber kraftig gebauter Mann mit kurzgeschorenen Haaren und einem schrag nach vorne ragenden Unterkiefer, der Max heute aus irgendeinem Grunde provozierte.

»In einer halben Stunde komme ich runter, okay? Machen Sie nur weiter.«

»Hm.«

»Was ist es denn?« rief Axt aus dem kleinen Nebenraum, in dem er gerade verschwunden war.

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen? Das mussen Sie schon selbst beurteilen«, antwortete Max so ubellaunig, da? Axt uberrascht um den Turpfosten blickte. »Na gut, ich beeile mich. In einer halben Stunde, ja?«

Max zuckte mit den Achseln und machte sich wieder auf den Weg. War ihm doch egal, ob Hackebeil jetzt, in einer halben Stunde oder uberhaupt nicht kam.

Axt schaltete den Schirm an und betrachtete das, was in der unter dem Rontgengerat im Nachbarraum liegenden Schieferplatte verborgen war. Eine Schildkrote, schlecht erhalten und an mehreren Stellen auseinandergebrochen. Er hatte sich schon so etwas gedacht. Wenn man hier so viele Jahre gearbeitet hatte wie er, bekam man ein Gefuhl dafur, ob ein Fund etwas hergab oder nicht. Der hier war es jedenfalls vorerst nicht wert, genauer untersucht zu werden. Vielleicht wurden sie spater fur irgendwelche spezielleren Fragestellungen darauf zuruckkommen, aber was das Skelett anging, bot dieser Fund nicht viel. Da hatten sie wesentlich Besseres auf Lager. Sie fanden so viele Fossilien, und die Praparation der Funde war so kompliziert und zeitaufwendig, da? sie es sich nicht leisten konnten, jedes Fossil freizulegen. Das hier kam jedenfalls ganz unten auf ihre Prioritatenliste und wurde im Magazin enden, zusammen mit Hunderten von weiteren Stucken, die zu unbedeutend waren, um es bis zum Museumsschaustuck zu bringen.

Das Sensationelle an der Grube Messel war zugleich eines ihrer gro?ten Probleme: Es gab einfach zu viele Fossilien. Ein Kollege hatte kurzlich ernsthaft fur einen Grabungsstopp pladiert, weil jetzt schon absehbar war, da? ihre Lagerkapazitaten bald erschopft sein wurden, wenn es so weiterging. Und da? es so weiterging, bezweifelte hier niemand. In Messel war wesentlich mehr zu holen als nur ein paar klagliche Pflanzenreste, hier ging es nicht nur um die Bergung einzelner versprengter Knochentrummer wie andernorts. Ein ganzer See mit allem, was darin und an dessen Ufern gelebt hatte, war hier im Boden verborgen, Arbeit fur Generationen von Wissenschaftlern. Im Laufe der Jahre hatten sie uber drei?ig Saugetierarten gefunden, dazu etliche Vogel, Fische, Reptilien und Amphibien, Insekten und viele Pflanzen. Oft waren sogar Haare, Federn und Weichteile wie Flughaute und Ohrmuscheln als dunkle Umrisse im Schiefer zu erkennen, so da? man eine recht genaue Vorstellung von dem Aussehen der Tiere gewinnen konnte. Mitunter lie? sich aus dem hervorragend erhaltenen Mageninhalt der Fundstucke ablesen, wer was oder wen gefressen hatte. Auch die zahlreichen Koprolithen lieferten dazu wertvolle Hinweise.

Mit Hilfe dieser vielfaltigen Informationen versuchten sie dann, sich ein Bild von dem Leben an einem prahistorischen Gewasser zu machen, die komplexe Okologie eines versunkenen tropischen Sees zu rekonstruieren, der einmal mitten in Europa gelegen hatte. Eine einmalige und faszinierende Aufgabe fur einen Palaontologen, ein Privileg, wie es nur wenigen seiner Berufskollegen vergonnt war, daruber war Axt sich im klaren. Ausgesprochen langweilige oder gar unappetitliche Forschungsrichtungen gab es in seinem Fachgebiet zuhauf, und er uberlie? sie gerne anderen, etwa den bedauernswerten Kollegen, die sich mit der relativ jungen Wissenschaft der Aktuo-Palaontologie beschaftigten. Schon diese Bezeichnung drehte einem den Magen um, die Arbeit, die dahintersteckte, erst recht.

Aktuo-Palaontologen untersuchten den Verlauf und die Beeinflu?barkeit von Verwesungsvorgangen. Mit anderen Worten: Sie toteten Tiere, lie?en die Leichen verrotten und protokollierten minutios den Zerfallsverlauf, beobachteten, wie sich der Leib ihrer Studienobjekte durch Faulnisgase aufblahte, platzte und dadurch in

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