gelastert.
Wahrend sich normale Menschen ihren Haustieren anglichen, hatten es Zoologieprofessoren schwerer. Sie pa?ten sich ihrer Spezialtiergruppe an, in Gechters Fall den »Nurfu?ern« oder Pantopoden. Diese Tiefseebewohner waren weitlaufige Verwandte der Spinnen und sahen auch so aus: lange durre Beine und ein ebenso durrer Korper. Trotz der Schwere der Aufgabe war Gechter die Metamorphose bemerkenswert gelungen. Er war ein freundlicher, gutmutiger Mensch und ein hervorragender Zoologe und Lehrer, aber er sah einfach zum Piepen aus.
Die Versammlung loste sich langsam auf. Auch Micha hatte sich in einer relativ langwierigen Prozedur verabschiedet, war mit der U-Bahn zum Zoo gefahren und hatte etwa eine Stunde in verschiedenen Buchladen herumgestobert. Langsam, aber sicher verwandelte sich dort sein nachmittaglicher Alkoholrausch in bleierne Mudigkeit, was wiederum angesichts der in den Laden angebotenen Buchermassen zu einer eklatanten Entscheidungsschwache fuhrte. Voll der besten Vorsatze trug er schlie?lich Dostojewskijs
Die Bedienung kam. Er bestellte einen Kaffee, zundete sich eine Zigarette an, flazte sich trage in den federnden Stuhl und blatterte ohne gro?es Interesse in seinen Neuerwerbungen. Nach dem zweiten Kaffee begann seine Mudigkeit bohrenden Kopfschmerzen zu weichen. Nur die schlechte Laune blieb. Sein Gehirn schien irgendwie periodisch anzuschwellen, jedenfalls druckte es mit zunehmender Kraft von innen gegen den Schadel und pochte an seine Schlafen. Das kann ja heiter werden, dachte er, packte die Taschenbucher wieder in die Tute zuruck, verschrankte die Hande hinter dem Kopf und lie? seinen Blick uber die Leute schweifen. Sie schienen alle durcheinander zu reden. In seinem Tran schnappte er zahllose Gesprachsfetzen auf: Strand, Sonne, Wein, Urlaub. Das hellte seine miese Stimmung wieder etwas auf.
Einzelne spitze Lacher einer gro?en Blonden am Nebentisch bohrten sich schmerzhaft in seine Gehorgange. Sofort war er hellwach. Eigentlich genau sein Typ, nur ihr Organ war etwas zu schrill. Ein warnendes Stechen in seinem Kopf erinnerte ihn sofort daran, da? dies nun schon die zweite Sommerreise hintereinander war, die er ohne weibliche Begleitung antreten mu?te, und das war alles andere als ein erfreulicher Gedanke. Irgendwie lief es in letzter Zeit nicht besonders gut. Aber dieser Sommer wurde die Wende bringen. Es mu?te einfach so sein. Er warf seiner Nachbarin einen fluchtigen Blick zu und mu?te grinsen.
Plotzlich trafen seine Augen mit denen eines hageren Typen zwei Tische weiter zusammen. Der Kerl mu?te irgendwas falsch verstanden haben, denn er grinste herausfordernd zuruck, so als ob sein Lacheln ihm gegolten hatte, ja, in plumper Vertraulichkeit zwinkerte der ihm sogar zu. Micha schaute schnell in eine andere Richtung. Aber etwas an diesem Kerl lie? seinen Blick wie an einem Gummiband wieder zuruckschnellen. Als sich ihre Blicke erneut trafen, grinste sein Gegenuber immer noch. In seinem rechten Schneidezahn blitzte irgend etwas. Mit eisiger Miene starrte Micha zuruck.
Da der Gesichtsausdruck des Fremden unverandert blieb, beschlo? Micha schlie?lich, ihn zu ignorieren. Er war einfach zu schlapp, um sich auf solche albernen Spielchen einzulassen. Vielleicht ein Schwuler, der auf ihn abfuhr. Ware nicht das erste Mal, irgendwie standen die auf ihn. Manchmal war das ja ganz witzig, aber nicht jetzt, stohnte er innerlich, bitte, nicht jetzt.
Er stand auf, holte sich von einem Stander eine Tageszeitung und vertiefte sich ostentativ in die Sportseite.
Keine drei Minuten spater horte er eine Stimme hinter der Zeitung: »Tag, Micha!«
Noch bevor er die Zeitung sinken lie?, wu?te er, wem die Stimme gehorte. Zwar zeigte der Hagere nicht mehr dieses impertinente Grinsen, aber da Micha sich nun wirklich gestort fuhlte, machte das kaum noch einen Unterschied.
»Woher kennst du meinen Namen?«
»Du kennst meinen auch!« sagte der Hagere nur und sein Grinsen wurde wieder breiter. Als seine Lippen sich offneten, kam eine Reihe schiefer Zahne zum Vorschein. Seine Gesichtszuge wurden plotzlich weicher, runder, kindlicher, und dann wu?te Micha, wen er vor sich hatte. Ihm klappte der Unterkiefer herunter.
»
»Na bitte. Ich hab dich sofort erkannt.«
»Ja, tut mir leid. Es ist schon so lange ... Also ... das ist ja ein Ding«, stammelte Micha. »Tobias Haubold. Nein, also wirklich.« Damit war sein Pulver vorerst verschossen. »Tja ...«
Was sagte man nur in einem solchen Fall? Er hatte sich immer schwergetan, wenn er unvermittelt solchen Figuren aus seiner Vergangenheit gegenuberstand. Und diese hier stammte geradezu aus grauer Vorzeit. Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Es mu?ten so um die funfzehn Jahre sein. Damals waren sie noch Kinder gewesen, echte Rotzbengel, die nichts als Blodsinn im Kopf hatten. Aber in diesem Fall gab es wohl kein Entkommen mehr.
»Setz dich doch!« sagte er.
Tobias lie? sich auf dem freien Stuhl neben ihm nieder. »Wei?t du, irgendwie wundert es mich gar nicht, da? ich dich heute hier treffe«, sagte er. »Komischerweise habe ich gerade in den letzten Tagen ofter an dich denken mussen, an die alten Zeiten.«
»Ah ja.« Micha war noch immer nicht besonders glucklich uber den unerwarteten Verlauf dieses Nachmittags und wehrte sich nun auch gegen ein aufkeimendes schlechtes Gewissen. Er hatte so gut wie nie an Tobias gedacht.
»Ja, mir fielen die Abenteuer ein, die wir uns gemeinsam ausgemalt haben. War wirklich eine schone Zeit damals.«
»Hmm ...«, nuschelte Micha mit einer Verlegenheitszigarette zwischen den Lippen. Er fand Tobias aufdringlich.
Sie winkten nach der Bedienung. Micha bestellte einen dritten Kaffee, Tobias ein Bier. Er fragte Micha nach einer ganzen Reihe von Leuten aus, deren Namen ihm kaum noch etwas sagten.
»Aber an Schmidt kannst du dich doch noch erinnern?« fragte Tobias.
Jedesmal, wenn er den Mund aufmachte, irritierte Micha dieser mal schwarze, mal glitzernde Fleck auf seinem Schneidezahn. Tobias hatte schon immer schlechte Zahne gehabt.
»Welchen Schmidt?«
»Na, den fetten Erdkundelehrer.«
Trotz der bohrenden Kopfschmerzen schien dieser Name irgend etwas in ihm auszulosen. Widerwillig setzte sich sein Gehirn in Bewegung und brachte schlie?lich unter Muhen ein verschwommenes Bild zustande. »Ach so,
Gefuhle von Demutigung und Scham stellten sich ein. Neue Bilder kamen, grinsende Klassenkameraden, gackernde Madchen, Turnhallengeruch, ein riesiger Bauch, ein krebsrotes Gesicht.
Kaum zu glauben! Er fa?te sich an die Stirn. Daran hatte er schon eine Ewigkeit nicht mehr gedacht. »Die Seile«, flusterte er vor sich hin und schuttelte unglaubig den Kopf. Typisch, da? Tobias Schmidt als Erdkunde- und nicht als Sportlehrer in Erinnerung hatte. Ihm hatte das alles nichts ausgemacht.
»Ja, und Sebastian, die alte Heulsuse«, sagte Tobias und kicherte.
Micha schreckte auf, uberrascht, da? Tobias ihn verstanden hatte. Er sagte nichts, trank nur einen Schluck Kaffee und uberlie? sich wieder seinen Erinnerungen.
Sebastian Hollert war ein kleiner schwabbliger Fettsack, der zudem dadurch auffiel, da? er wahrend der Schulpausen unvermittelt in hysterische Weinkrampfe ausbrach und wild um sich schlagend alles und jeden wust beschimpfte. Sebastian, Micha und Tobias bildeten das Schlappschwanztrio, dem es in den Sportstunden trotz verzweifelter Versuche nicht gelingen wollte, sich diese vermaledeite Hallendecke aus der Nahe anzusehen. Schmidt, der fette Sadist, stellte ihr Unvermogen an Seilen und Stangen immer wieder von neuem zur Schau. Tobias lie? diese Demutigungen damals mit erstaunlicher Gelassenheit uber sich ergehen.
Das Gesprach schleppte sich zah und muhsam dahin, und irgendwann gab Micha seinen Widerstand auf. Vielleicht spurte Tobias, da? Michas Bereitschaft, in Kindheitserlebnissen zu schwelgen, nicht sehr gro? war, und er unterlie? weitere Anspielungen auf ihre gemeinsame Vergangenheit.