charakteristischer Weise die Lagebeziehungen der Becken- und Wirbelknochen verandert wurden. Sie konnten sagen, welche typischen Kennzeichen ein Skelett besa?, das vor seiner Konservierung noch tage- oder wochenlang als Wasserleiche auf der Oberflache eines Sees herumgetrieben war. Das mochten sehr wertvolle Informationen sein, die gerade ihnen hier in Messel zugute kamen, aber - bei allem Respekt vor der Leistung seiner Kollegen - Axt war doch froh, da? er mit dieser Art von Erkenntnisgewinnung nichts zu tun hatte. Der Fossilienkunde mochte insgesamt ein gewisser Hang zur Nekrophilie anhaften, aber das ging ihm doch zu weit.
Hier in Messel hatten sie mit ganz anderen, viel handfesteren Problemen zu kampfen, etwa dem hohen Wassergehalt der Fossilien, der die Praparation und Konservierung der Funde ungemein erschwerte. Grabungsrauber konnten gro?e Schaden anrichten. Einige der schonsten Messeler Fundstucke befanden sich in Privathand, ein Skandal.
Axt schaltete das Rontgengerat aus und ging in einen anderen Raum, um seine Gummistiefel anzuziehen. Er winkte Kaiser und Lehmke zu, den beiden Praparatoren, die uber Fundstucke gebeugt an ihren Arbeitstischen sa?en. Man horte das Summen der Sandstrahlgeblase, mit denen sie das Kunstharz von den umgebetteten Praparaten entfernten, das Pusten der Spruhfla-schen, mit denen die empfindlichen Fossilien feucht gehalten wurden.
»Ich geh mal runter in die Grube«, sagte Axt. »Max hat was gefunden.«
Trotz der Hitze drau?en tat es gut, ein paar Schritte zu Fu? zu gehen. Von dem vielen Sitzen bekam er neuerdings regelma?ig Kreuzschmerzen. Obwohl er das eigentlich nie fur moglich gehalten hatte, kam er langsam in das Alter, wo man sich mit solchen Problemen herumzuschlagen hatte. Marlis begann ihn schon aufzuziehen wegen seiner zahlreichen Wehwehchen.
Er trat durch die Eingangstur ins Freie und schlug den etwa drei?igminutigen Weg zu den Ausgrabungsstellen ein. Als er an dem hohen Maschendrahtzaun ankam und durch das Tor das eigentliche Grubengelande betrat, fiel sein Blick unwillkurlich auf die andere Seite, dorthin, wo sie den nordostlichen Zuflu? des ehemaligen Sees vermuteten. Das Gewasser hatte damals zwei Zuflusse gehabt, daruber bestand nach den neuesten Ergebnissen kein Zweifel mehr. Die Funde bestimmter lachsahnlicher Fische und der feinen Gehause von Kocherfliegenlarven, deren heutige Verwandte auf schnell flie?ende Gewasser beschrankt waren, hauften sich in der Nahe dieser Zuflusse. Die letzten Zweifel hatte sein Kollege Lutz vor kurzem zerstreut, als er eine wunderbare Arbeit uber die dort gefundenen fossilen Larven des Kafers
Zumindest zeitweise war der Messel-See Teil eines gro?en zusammenhangenden Gewassersystems. Dafur sprachen auch die Verteilungsmuster unterschiedlicher Kleinfossilien, die als Ergebnis einer uber gro?ere Strecken hinweg wirksamen Frachtsonderung im Schiefer lagen, als hatte sie dort jemand fein sauberlich nach Gro?e und Gewicht sortiert. Auch die charakteristischen Rundungen kleiner Holzstuckchen, die sich eindeutig auf Abrollungserscheinungen zuruckfuhren lie?en, sprachen fur relativ weite Transportwege. Und wie der Fund eines Aals bewies, hatte dieses System sogar Verbindung zum Meer. Aale wurden im Meer geboren und kehrten zu Fortpflanzung und Tod aus den Flussen und Seen des Festlandes wieder dorthin zuruck. Das war im Tertiar nicht anders als heute.
Fossilien waren weit mehr als nur tote Knochen. Schon als Kind hatte er davon getraumt, in abgelegenen Gegenden der Welt nach Zeugnissen vergangener Erdzeitalter zu suchen, vorzugsweise naturlich nach Dinosauriern oder Fruhmenschen. Das waren nun mal die Fossilien schlechthin. Jetzt, als Erwachsener, grub er zwar nicht in der Wuste Gobi oder im afrikanischen Rift-Valley, und er fand auch keine Saurierknochen oder
Fossilien waren der Schlussel, das Tor zu einer versunkenen Welt. Man mu?te sich nur lange und intensiv genug mit ihnen beschaftigen, dann stand dieses Tor irgendwann sperrangelweit offen. Er wu?te mittlerweile so viel uber diese versunkene Messeler Welt, da? sie fur ihn in seltenen, kostbaren Momenten fast real wurde.
Manchmal, wenn er wie jetzt hinunter zur Grube lief und auf den alten Seezuflu? blickte, war ihm, als horte er das Rauschen des Wassers in den Stromschnellen, als sahe er eine grune Dschungelwand emporragen, aus der seltsame Rufe zu ihm drangen. Er sah die Seerosen und die Palmen, und er roch die aus den Tiefen des Sees aufsteigenden Faulgase. Ohne den See je erblickt zu haben, glaubte er doch genau zu wissen, wie er vor 50 Millionen Jahren ausgesehen hatte, lange, bevor an Menschen uberhaupt zu denken war. Seine Visionen, oder wie immer man es nennen sollte, waren vollig unberechenbar und geradezu unheimlich. Er konnte ihr Erscheinen in keiner Weise erzwingen, obwohl er das gelegentlich gerne getan hatte. Sie kamen, wenn er am wenigsten damit rechnete, und verschwanden, sobald er versuchte sie festzuhalten. Moglicherweise ging es seinen Kollegen, die sich ebenso intensiv damit beschaftigten, ahnlich, aber er hatte sich nie getraut, jemanden darauf anzusprechen. Irgendwie war ihm das peinlich. Diese seltenen Momente waren sein Geheimnis und wahrscheinlich - das wurde ihn im Grunde nicht wundern - schlicht und einfach ein fachgebietstypisches Zeichen von Uberarbeitung.
Als er diesmal zur Grube hinunterlief, geschah jedoch nichts dergleichen. Statt dessen sah er schon von weitem Max und Rudi als kleine Farbtupfer unten im schwarzen Schiefer stehen. Max hatte einen guten Riecher fur seltene Fundstucke, und wenn er ihn hinunterrief, mu?te es sich um etwas Ungewohnliches handeln. Wie er mit den ublichen Fundstucken umzugehen hatte, wu?te Max selbst. Allerdings hatte er heute morgen mufflig gewirkt und war vielleicht zu seltsamen Scherzen aufgelegt.
Axt war ziemlich humorlos, was Wissenschaft anging. Wissenschaft war eine todernste Angelegenheit, besonders seine. Ein einziges Fundstuck konnte Theoriegebaude zum Einsturz bringen, die weit uber die Zoologie hinausgingen. Da horte der Spa? auf. Der 1974 gefundene Ameisenbar zum Beispiel hatte eine solche Erschutterung ausgelost. Es hatte ihn hier eigentlich gar nicht geben durfen. Es war der erste und einzige fossile Ameisenbar au?erhalb Sudamerikas. Derartige Funde stellten viele der Vorstellungen in Frage, die man sich bisher uber die Wanderungen urzeitlicher Lebensformen gemacht hatte, und moglicherweise lie?en sich daraus sogar ganz neue Ideen uber die Lage der Urkontinente und ihre Verbindungen untereinander ableiten.
Als er dann neben Max und Rudi vor den kleinen Knochen stand, durchzuckte ihn zunachst ein ganz und gar lacherlicher Gedanke: Sieht aus wie Finger, dachte er, menschliche Fingerknochen, aber das war vollig abwegig. Nein, Fingerknochen konnten das nicht sein, aber er wu?te sofort, da? es sich um einen ganz au?ergewohnlichen Fund handeln mu?te.
»Gut, da? Sie mich gerufen haben, Max«, sagte er, nur muhsam seine Erregung kontrollierend. »Das ist was Besonderes.«
»Wu?t ich’s doch.« Max zeigte ein stolzes Lacheln und boxte Rudi in die Seite.
Durch vorsichtiges Anheben der schweren oberen Schieferplatte versuchten sie gemeinsam herauszufinden, wie gro? das Skelett war.
»Das gibt es doch gar nicht!« rief Axt verblufft aus. Der Fund schien fast zwei Meter lang zu sein. Man erkannte es unter anderem an der leichten Aufwolbung des Schiefers. Wenn das stimmte, dann war dies eines der gro?ten Skelette, die hier unter seiner Leitung jemals gefunden worden waren. Axts Puls begann zu rasen. Vielleicht standen sie vor einer Sensation, dem Hohepunkt seiner bisherigen Arbeit. Man mu?te in Messel auf die gro?ten Uberraschungen gefa?t sein. Niemand konnte wissen, was in dieser gro?en schwarzen Gesteinsmasse alles verborgen lag. Moglicherweise warteten dort nicht nur sanfte Erschutterungen, sondern kapitale Erdbeben auf die Welt der Wissenschaft, und er, Helmut Axt, ware dann gewisserma?en das Epizentrum.
Wahrscheinlich ein Krokodil, dachte er und versuchte, durch viele leidvolle Erfahrungen gewarnt, seine allzu ungezugelt aufkommende Euphorie zu bremsen.
Aber auch fur ein Krokodil ware das ein ziemlich kapitaler Bursche. Krokodile waren die gro?ten Tiere, die damals hier gelebt hatten, eine uralte Tiergruppe, Vettern und Zeitgenossen der Dinosaurier, und obwohl sie diese um Jahrmillionen uberlebt hatten, in der Offentlichkeit bei weitem nicht so hoch angesehen. Etwas anderes kam eigentlich kaum in Frage. Genaueres wurde er allerdings erst wissen, wenn er das Fundstuck unter dem Rontgengerat hatte.
Es konnten auch mehrere Skelette sein, die dicht beieinanderlagen. Oder ein Raubtier, das gerade sein